Dienstag, 05.12.23

  


Wieder komme ich gleichzeitig mit Herrn Min und seinem Sohn am Kindergarten an. Heute wirkt er nicht gehetzt sondern lustlos, niedergeschlagen, zerstreut. Und das überträgt sich immer auch auf seinen Sohn. Also lasse ich Min-jun wieder im dunklen Ruhezimmer auf die Stille lauschen. Ich selbst weiche allerdings von meiner Morgenroutine ab, denn ich suche mir Min-juns Akte mit den Beobachtungsberichten und den Gesprächsprotokollen von Elterngesprächen raus. Ich will wissen, ob und wie meine Kolleginnen das sehen. Ziemlich bald bin ich abgetaucht in Berichten über Spielsituationen, Sozialverhalten und Entwicklungsschritte. Ich bekomme ein immer runderes Bild von den anderthalb Jahren, in denen wir dieses Kind bei seiner Entwicklung begleitet haben.

So sehr abgetaucht, dass mich erst eine kleine Berührung am Ellenbogen zurück in die Gegenwart holt. Min-jun steht neben mir.
"Müssen wir nicht die Rollläden hochziehen?"
Ich klappe schnell seine Akte zu und drehe sie rum.
"Du hast recht. Ich habe ganz die Zeit vergessen. Lass uns anfangen."

Wieder nimmt er meine Hand, lotst mich von Raum zu Raum. Immer die selbe Reihenfolge. Zu meinem Erstaunen sind die Stühle überall schon unten und sehr ordentlich um die Tische angeordnet, aber das Licht ist aus. Er muss also schon einmal durch die Räume gegangen sein. Wahrscheinlich hat er das Licht angemacht, die Stühle runtergestellt, das Licht wieder ausgemacht. Und ich war so konzentriert auf die Akte, dass ich nichts davon mitbekommen habe.

Da wir nun nur noch die Rollläden hochziehen müssen, sind wir schnell fertig und können in die Küche gehen, um das Frühstück vorzubereiten. Dabei unterhalten wir uns.
"Du warst wirklich sehr fleißig vorhin. Dankeschön!"
"Wir machen das doch immer so. Ich konnte es nur nicht richtig machen, weil die Rollläden zu schwer für mich sind. Aber ich wollte alles wie immer machen."
Ich hocke mich neben ihn und sehe ihn an. Auch wenn er meinem Blick ausweicht, weiß ich, dass er meine Zugewandtheit spürt und sich damit wohlfühlt, denn er verspannt sich nicht.

"Du hättest das gar nicht tun müssen, Min-jun. Das weiß du, oder? Du machst mir eine große Freude damit, dass du mir jeden Morgen so fleißig hilfst. Aber es ist meine Aufgabe - und deine tolle Hilfe - und deshalb ist es auf keinen Fall 'nicht richtig'. Verstehst du?"
Er überlegt einen Moment lang. Dann schüttelt er den Kopf.
"Ich glaube, das verstehe ich nicht. Aber du bist nicht böse auf mich. Also war es wohl nicht schlimm."
Es gibt mir einen Stich ins Herz, dass dieser kleine Mann glaubt, etwas falsch gemacht zu haben.
"Es war überhaupt nicht schlimm. Es war alles ganz genau richtig und sehr lieb von dir. Warum sollte ich also böse auf dich sein? Es gibt keinen Grund dafür."
Ganz kurz schaut er mir in die Augen, und sein Gesicht wird weich. Die Botschaft ist also wohl angekommen.
"Lass uns das Frühstück fertig machen. Die beiden anderen kommen gleich."


Jeden Tag dasselbe Programm. Auf der einen Seite brauche ich die Routine, auf der anderen Seite finde ich das wenig befriedigend. Als ich auf dem Weg zur Arbeit bin und andere Autofahrer gestresst an mir vorbeirauschen, frage ich mich, ob das alles ist.

Wofür lebe ich?
Welchen Sinn hat es, dass ich jeden Morgen aufstehe und jeden Morgen dieselbe Leier abspule?

Das kann nicht alles sein im Leben. Früher hatte ich mal Ziele. Träume, für die ich mich angestrengt habe. Das ist alles weg. Gestorben in dem alltäglichen Hamsterrad. Ich kann zwar nicht sagen, was genau ich bräuchte, um das Leben wieder lebenswert zu finden, aber ich habe das Gefühl, dass mir etwas fehlt.

Nur wo soll ich anfangen zu suchen?

Habe ich überhaupt eine Chance, das alles wiederzufinden?


Der Tag verläuft ereignislos. Die Bude ist voll mit Träumerchen, Tüftlern und Schnattergeien. Min-jun spielt viel für sich oder beobachtet die anderen Kinder bei ihrem Tun, hält sich aber aus allem raus. Immer wieder sucht er meine Nähe, bleibt still für eine Weile und wendet sich dann wieder seinem Spiel zu. Als wollte er kontrollieren, ob ich noch da bin und noch an ihn denke. Ich hingegen schleppe den ganzen Tag seine Akte mit mir rum und mache mir Notizen.

Erst als wir das schöne Wetter nutzen und in den großen Garten gehen, finden sich Min-jun und Inhyuk zusammen und klettern wie auf Kommando gleichzeitig auf den Aussichtsturm im Sandkasten. Drinnen ist Inhyuk immer mit seinen Freunden zusammen. Aber hier draußen bilden die beiden ungleichen Jungs ein festes Gespann. Eigentlich ungewöhnlich.

Ob es zwischen den beiden Familien eine Verbindung gibt? 

Heute werden - bis auf ganz wenige - alle Kinder schon bis 14.00 abgeholt, weil wir dann unsere wöchentliche, dreistündige Teamsitzung haben. Die verbleibenden vier Kinder werden von einer Praktikantin betreut. Auch Min-jun ist natürlich dabei. Ich bitte die Praktikantin, Min-jun ganz unvoreingenommen zu beobachten und völlig wertfrei sein Verhalten zu protokollieren. In der letzten halben Stunde wird sie bei der Sitzung dabei sein. Dann kann ich ihre frischen Eindrücke abfragen, und sie lernt gleichzeitig, Beobachtungen zu analysieren.

Zu Beginn der Sitzung bitte ich also darum, dass diese halbe Stunde mir gehört, weil ich einen Fall ausführlich besprechen möchte. Meine Kolleginnen stöhnen auf angesichts der mit bunten Post it's gespickten Akte über Min-jun. Zwei drehen die Augen zur Decke, aber ich bekomme die Zeit, weil sie genau dafür da ist - für Einzelfallbesprechung.

In der Teamsitzung geht es zunächst um die Organisation des Adventsfestes, die neue Arbeitszeitregelung ab Januar, die allgemeinen Schließungszeiten um Feiertage und Ferien herum. Um die Frist zum Einreichen von Urlaubswünschen, um die Auswahl der jährlich vorgeschriebenen Fortbildungen, um die Anschaffung von neuem Spielzeug für den Außenbereich, die Termine für Gruppenelternabende, ... ... ... Ich höre geduldig zu, diskutiere sachlich mit, notiere, was für mich wichtig ist - und sitze auf glühenden Kohlen. Denn je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass Min-jun autistische Züge hat. Und dass nicht alle meine Kolleginnen Lust haben werden, sich auf den Gedanken einzulassen, denn eine Autismus-Spektrum-Störung macht das Kind automatisch zu einem Integrationskind - mit definiertem erhöhtem Betreuungsbedarf.

Wir sind fast fertig mit den anderen Themen, als Youna zu uns stößt. Sie hat eine Kladde voller Notizen dabei und nickt mir zu. Das ist viel versprechend.
Unsere Leiterin beendet den allgemeinen Teil und wendet sich mir zu.
"Na dann los, Jimin. Youna ist da, du kannst anfangen. Wenn ich das richtig sehe, geht es dir um Min Min-jun."
Ich atme noch einmal tief durch und traue mich. Als einziger Mann und relativer Berufsanfänger habe ich es bei diesen ganzen gestandenen Frauen nicht immer leicht, ernst genommen zu werden. Aber Min-jun hat das Recht, dass ich um ihn kämpfe.

"Richtig, es geht um Min-jun. Der Junge war ja schon öfter Thema, weil er sich von vielen Aktivitäten selbst ausschließt und schwer zu integrieren ist. Ich habe in letzter Zeit mehrere Hinweise gefunden, wie sich sein Verhalten erklären ließe, habe seine gesamte Akte durchforstet und mich etwas belesen. Ich habe den Verdacht, dass Min-jun eine angeborene Autismus-Spektrum-Störung hat. Ich würde dem Verdacht gerne nachg..."
"Ach, und der Vater gleich mit, oder wie? Hast du irgendeine Ahnung, wovon du redest? Man kann mit dem Jungen doch reden. Er hört zu, er antwortet. Das ist doch Blödsinn."
Ich liebe diese Kollegin. Nicht. Alles, was sie nicht versteht, ist Blödsinn.

"Das ist nicht ganz unwahrscheinlich, denn Vater und Sohn ähneln sich in manchen typischen Verhaltensweisen sehr. Ich weiß noch nicht viel. Aber diese Akte spricht Bände. Deshalb habe ich eine Frage und eine Bitte."
Unsere Leiterin hat sich bisher zurückgehalten, aber sie sieht sehr skeptisch aus.
"Meines Erachtens nach sind ganz wesentliche Verhaltensmerkmale nicht gegeben. Ich schlage vor, dass du dich erstmal intensiv mit dem Störungsbild und der Symptomatik beschäftigst. Dann können wir in ein paar Wochen weitersehen."
Ich sehe meine Felle davonschwimmen.
Dass die nie zu Ende zuhören! Grrr.

"Meine Frage ist, ob eine von euch schon mal mit Autismus gearbeitet hat oder mir einschlägige Literatur leihen kann. Und die Bitte ist, dass ich mich in den nächsten Wochen etwas intensiver auf die Beobachtung von Min-jun konzentrieren darf."
Eine andere Kollegin schaltet sich ein.
"Warum hast du eigentlich an diesem Kind so einen Narren gefressen? Du solltest deine Aufmerksamkeit besser deiner gesamten Gruppe zukommen lassen."
Leise dringt Younas Stimme zu uns durch.
"Ich bin erst ein halbes Jahr hier und nur Vorpraktikantin. Aber das Kind ist mir schon bald aufgefallen. Er legt ein sehr ritualisiertes Verhalten an den Tag. Abweichungen davon werfen ihn leicht aus der Bahn, er will alles verstehen und ist schnell überfordert. Ist es das, was du meinst, Jimin?"
"Danke, Youna. Ja, das sind gute Beispiele. Und Verhaltensweisen, die sich durch seine gesamte Akte ziehen. Dazu kommt zum Beispiel, dass er sich nur höchst ungern berühren lässt. Und dass er sehr spezielle und sehr eingeschränkte Interessen hat. Ich möchte einfach die Kapazität bekommen, damit ich mehr beobachten und verstehen kann."

Eine ältere Kollegin mit viel Berufserfahrung und faszinierender Beobachtungsgabe macht einen Vorschlag.
"Du findest bestimmt in der Stadtbibliothek Literatur dazu. Und der Vater könnte sich an die Erziehungsberatungsstelle wenden."
"Die Bibliothek ist eine gute Idee. Das werde ich versuchen."
Aber noch habe ich die entscheidende Erlaubnis nicht erhalten.
Erwartungsvoll schaue ich unsere Leiterin an.
"Nun gut, Jimin. Dann schlage ich vor, du lernst erstmal genug über dieses Phänomen, damit du das überhaupt beurteilen kannst. Und dann sehen wir weiter."

Hmpf. Das reicht nicht, um ausreichend geduldig mit Min-jun zu sein. Aber wir werden ja sehen. Ein Anfang ist gemacht.

Auf dem Heimweg mache ich einen kleinen Umweg und radele bei der Stadtbibliothek vorbei und suche nach Antworten. Drei Bücher nehme ich mit, die vielversprechend aussehen. Damit steht meine Beschäftigung für diesen Abend fest.



Heute bin ich tatsächlich völlig von Paketboten verschont geblieben und entsprechend gut vorwärts gekommen. In ein bis zwei Wochen kann ich mit dem Plotten soweit fertig sein, dass ich noch vor Jahresende das erste Raster einreichen kann. Aber für heute ist es genug. Feierabend!

Außerdem habe ich ja noch ein paar Schokomänner zu verteilen.
Wer fehlt mir noch? Familie Min, der Säufer, ... das reicht völlig für einen Tag.
Und wenn ich ehrlich zu mir selbst bin - am liebsten möchte ich sowieso nur zu den Mins.

Dann gehe ich eben nur zu den Mins.
Ich greife mir zwei Schokomänner, ziehe Schuhe an und steige die Treppe hoch. Drinnen höre ich Geräusche, sie sind also da. Ich klingele und warte ab.

Hoffentlich hat der Mann heute ein bisschen Zeit.



Ich will mir gerade einen Kaffee machen, als es an der Tür klingelt. Seufzend stelle ich die leere Tasse ab und überlege, wer hinter der Tür sein könnte. Solche unangekündigten Besuche machen mich immer etwas nervös. Trotzdem werde ich da wohl durch müssen.

Ich gehe in den Flur, hole nochmal tief Luft und öffne die Tür. Sofort erkenne ich den Nachbarn, der letzte Woche schon vor unserer Tür stand. Ich krame in meinem Gedächtnis nach dem Namen. Ich weiß aber nur noch, dass er mit 'H' anfing, mehr nicht.

Ein Päckchen habe ich nicht bestellt, also hat er eigentlich gar keinen Grund, hier zu klingeln. Es macht mich unsicher und ich befürchte, dass man es mir anhört, als ich ihn begrüße.
"Guten Abend, was gibt's?"


Nach einer Weile geht die Wohnungstür auf. Herr Min steht vor mir. Wieder wirkt er wie ein aufgescheuchtes Reh.

"Guten Abend, Herr Min. Schön, dass ich Sie antreffe. Als ich Ihnen letzte Woche das Päckchen gebracht habe, ist mir aufgefallen, dass ich jetzt schon drei Monate hier im Haus wohne und immer noch nicht alle Mitbewohner kenne. Ich dachte mir, ich sollte doch mal durchs Haus gehen und mich bei allen vorstellen. Auf gute Nachbarschaft!"


Ich bin verwundert über den Grund seines Besuches. Was soll ich denn darauf antworten?

"Oh, ähm. Ja, kann sein. Und ja, auf gute Nachbarschaft", versuche ich mich an einer Antwort. Die Situation ist mir unangenehm und darum bin ich auch ganz froh, als mein Sohn zu mir an die Tür kommt. Er hat das kleine Auto in der Hand. Diesmal ist er jedoch wesentlich mutiger als vorher. Er wagt sich direkt vor und streckt das Auto in die Richtung unseres Nachbarn.

"Achtzehn!", sagt er stolz, ohne etwas zu erklären. Ich erinnere mich sofort daran, wie wir zusammen die Streifen gezählt haben, nachdem der Mann das letzte Mal bei uns geklingelt hat.


Wieder ist es der Junge, der die Brücke baut. Ich gehe zu ihm in die Hocke und schaue ihn an. Er scheint sich dazu entschieden zu haben, dass er mir vertrauen will. Er hält mir das selbe grün gestreifte Auto hin und sagt stolz:"Achtzehn!"
Diesmal bin ich klüger und versuche nicht, das Auto zu berühren. Stattdessen gehe ich auf ihn ein.
"So viele?! Ich hätte nicht gedacht, dass auf so ein kleines Auto so viele Streifen passen. Hast du die selbst gezählt?"
Ich verkneife mir ein Grinsen, denn Min-jun weiß offensichtlich nicht so genau, was er antworten soll. Er versucht, gleichzeitig zu nicken und den Kopf zu schütteln.

Da wird der Papa wohl geholfen haben.

"Schau mal. Ich habe dir und deinem Papa was mitgebracht."
Ich ziehe die beiden kleinen, folienglitzernden Schokomänner aus meiner Jackentasche. Augenblicklich leuchten seine Augen auf. Er greift aber nicht danach sondern blickt fragend zu seinem Vater hoch. Ich stehe auf.



Während Min-jun mit unserem Nachbarn redet, überlege ich angestrengt, wie er hieß. Als mir endlich einfällt, dass er Hoseok heißt, muss ich mich zusammenreißen, um das nicht laut auszusprechen.

Kurz darauf greift jemand nach meinem Ärmel und als ich nachschaue, sehe ich, dass Min-jun mich fragend ansieht. Ich brauche einen Moment, um zu verstehen, was er will. Ich entdecke die kleinen Schokoweihnachtsmänner, die Hoseok uns hinhält.

Ich weiß zwar nicht warum, aber anscheinend möchte er sie uns schenken.
"Oh ähm, vielen Dank", brumme ich leise, frage mich dabei gleichzeitig, ob ich die einfach so annehmen kann und ob er dafür eine Gegenleistung erwartet.
"Papa. Darf ich?", sprich mein Sohn seine Frage endlich aus.
"Ich weiß nicht", antworte ich ihm.


'Ich weiß nicht'? Was soll das denn heißen?!?
"Das ist nur ein winzig kleines Antrittsgeschenk. Ich verspreche, ich werde Ihren Sohn nicht dauernd mit Süßigkeiten vollstopfen."

Noch ein Eisbrecher nötig?
Ich beuge mich noch mal zu Min-jun runter.
"Wie alt bist du eigentlich, junger Mann, dass du schon so weit zählen kannst?"



"Das ist sehr freundlich", sage ich, weil ich nicht will, dass die Situation noch unangenehmer wird. Außerdem überlege ich, wie andere in einer solchen Situation reagieren würden. Wahrscheinlich würden sie ihn hereinbitten. Aber schaffe ich das? Ich mag es nicht, wenn Fremde in meiner Wohnung sind. Aber dieser Hoseok scheint ganz korrekt zu sein, auch wenn bei mir alle Alarmglocken klingeln.

Min-jun traut sich derweil noch einen Schritt nach vorne. Zumindest scheint er unserem Nachbarn zu vertrauen.
"Ich bin vier Jahre alt", antwortet mein Sohn leise und schaut wieder zu mir. Ich schenke ihm ein Lächeln.

Wenn er ihm vertraut, sollte ich das vielleicht auch tun, oder? Immerhin ist Min-jun extrem sensibel, was andere angeht. Er hat ein außerordentliches Gespür dafür, wem er vertrauen kann und wem nicht.
"Mögen Sie vielleicht kurz auf einen Kaffee reinkommen?", überwinde ich schließlich meine Angst.


"Du bist vier? Und kannst schon so weit zählen!"
Jetzt schüttelt er eindeutig den Kopf, obwohl seine Antwort wieder zum Piepen ist.
"Zählen kann ich. Aber mein Finger ist immer wieder verrutscht."
Ich wende mich wieder Herrn Min zu und überlege, warum er so lange für diese Antwort gebraucht hat.

Vielleicht hatte er einen stressigen Tag und noch keine Zeit zum Aufräumen. Oder er schämt sich für irgendwas. Ich sollte nicht zu lange bleiben.

"Sehr gerne. Wenn ich Sie damit nicht aufhalte. Und bis der Kaffee fertig ist, kann mir ja Min-jun sein Zimmer zeigen."
Sofort stiefelt der Junge los, sein Vater macht einen Schritt zur Seite, damit ich reinkommen kann. Während ich dem Kleinen folge, schließt er hinter mir die Tür und geht da hin, wo zumindest bei mir die offene Küche ist. Die Wohnungen dürften einfach gespiegelt sein.
Während ich das wahrscheinlich selbstgebaute Autobett und die vielen, vielen Spielzeugautos bewundere, höre ich Geräusche auf dem Flur, die nach Aufräumen klingen.

Bald kriege ich ein schlechtes Gewissen, dass ich so unangekündigt hereingeplatzt bin.


Zum Glück nimmt mein Sohn unseren Besuch direkt mit in sein Zimmer. Ich setze derweil Kaffee auf und räume auf die Schnelle ein paar Sachen weg, damit es ordentlicher aussieht. Es ist mir extrem unangenehm, dass ich meistens nicht mehr die Kraft habe, die Wohnung so ordentlich zu halten, wie ich sie gerne hätte. Ich hoffe sehr, dass Hoseok dadurch kein falsches Bild von mir bekommt, wenn er das nicht eh schon hat.

Der Kaffee ist wenig später durchgelaufen, also nehme ich zwei saubere Tassen aus dem Schrank und gehe in Min-juns Zimmer, nachdem ich angeklopft habe.
"Kriegen Sie was rein? In den Kaffee meine ich."


Ich zucke zusammen, als Herr Min mich von der Kinderzimmertür her anspricht. Ich war völlig vertieft in das Autorennen mit Min-jun.
"Oh. Ja, gerne - etwas Milch, wenn Sie da haben."
Ich erhebe mich.
"Zeigst du mir euer Wohnzimmer, Min-jun?"
Der Junge nickt, steht auf und geht mir voraus.

Die Wohnung ist so groß wie meine, aber mit einem kleinen Kind deutlich voller und enger. Trotzdem herrscht überall eine lässig gemütliche Fastordnung, die auf mich sehr einladend wirkt. Das ist keine mit dem Zirkel abgemessene Musterwohnung sondern ein Zuhause zum Leben. 

Min-jun zeigt stumm aufs Sofa. Kaum habe ich mich ans eine Ende gesetzt, klettert er aufs andere Ende, setzt sich vorne auf die Kante und wird ganz still. Der Vater balanciert zwei Kaffeetassen zum Sofatisch und reicht mir eine davon. Schnell bringt er dann noch ein Milchkännchen. Ich gieße mir einen Schuss Milch in den Kaffee, nehme einen Schluck und wärme meine Hände an der Tasse.
"Danke sehr für das warme Willkommen. Ich mag es gern, wenn Nachbarn sich kennen und auch gegenseitig unter die Arme greifen, wenn es nötig ist."
Es ist nicht leicht, mit dem scheuen Mann ein Gespräch in Fluss zu halten, aber es gelingt. Ich dehne meinen Besuch jedoch nicht zu sehr aus.

Ich hole noch einmal die beiden Schokomänner aus der Tasche und stelle sie auf den Tisch.
"Ganz herzlichen Dank nochmal. Ich verabschiede mich, damit Ihr Abend mit dem kleinen Mann nicht völlig durcheinander gerät."
Ich zwinkere Min-jun zu.
"Und du isst die Schokolade am besten erst dann, wenn dein Papa es dir erlaubt. Sonst bekommst du vielleicht Bauchweh."

Herr Min bringt mich noch zur Tür und wünscht mir einen schönen Abend. Ich habe eine Idee und gehe sofort in meine Denkstube, um sie aufzuschreiben. Der Kaffee war so stark, so schnell schlafe ich heute sowieso nicht.



Eines der vielen kleinen Rituale, die Anna von zu Hause mitgebracht hat, ist das Feiern des Nikolaustages. Der spielt in Korea ja kaum eine Rolle. Aber in unserer Familie erzählt Anna am fünften Dezember immer eine der Legenden vom heiligen Nikolaus von Myra, und dann sitzen wir alle zusammen in der Küche und putzen unsere Schuhe. Gummistiefel, Straßenschuhe, Schuhe für gut - bis alle blitzen und blinken. Sogar Inhyuk macht mit. Und natürlich stellen die Kinder am Ende ihre jeweils größten Schuhe in den Flur für den Nikolaus. Alle anderen Schuhe kommen zurück in den inzwischen ausgewischten Schuhschrank. Alles muss seine Richtigkeit haben - sonst kommt der Nikolaus nämlich gar nicht.

Ich bewundere Anna immer für ihren unerschöpflichen Reichtum an Ideen, wie man Erziehung geschickt in Motivation verpacken kann. In solchen Momenten verstehe ich die Strenge und den Dauerdruck in unserer Gesellschaft nicht. Unsere Kinder sind prächtige kleine Menschlein auch ohne dieses ganze Hierarchiedenken und kennen durchaus Respekt gegenüber Älteren zum Beispiel. Aber unsere zwei haben trotzdem ohne Druck die Freiheit, sich auszuprobieren, und ich erlebe immer öfter, wie wichtig das ist.

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