//PROLOG//
Mittwoch, 30. August 2000
MIT ZITTRIGEN HÄNDEN nahm die ältere Dame ihr zerschlissenes Notizbuch aus dem großen hölzernen Schrank. Sie sehnte sich danach, es wieder zu fühlen und den vertrauten Geruch wahrzunehmen. Vor allem aber wollte sie die handgeschriebenen Aufzeichnungen darin lesen. All die Erinnerungen an ein lang vergangenes Leben, das Wilhelmine Krauss einst so viel bedeutet hatte, Revue passieren lassen. Sie wusste, dass es das letzte Mal sein würde.
Der Krebs befand sich nach Angaben der Ärzte im Endstadium. Alles, was ihr helfen könnte, ein paar Monate mehr zu gewinnen, wäre ein Haufen Medikamente. Schlimmstenfalls blieben am Ende nur noch lebenserhaltende Maßnahmen. Kurzum: Ihr Leben war gelebt. Ihre letzten Wochen oder Monate wie eine leblose Hülle an Schläuchen und Maschinen angeschlossen zu sein und diesen qualvollen Anblick ihren Kindern und Enkeln zuzumuten – das war nicht ihre Absicht. Darum entschied Willi, alle Therapieversuche abzubrechen. Sie wollte sich ihrem unvermeidlichen Schicksal beugen und die Zeit, die ihr noch vergönnt war, damit verbringen, sich bewusst und voller Liebe an ihr Leben zurückzuerinnern.
Wilhelmine Krauss hatte, abgesehen von ihrer Kindheit und Jugend in den Kriegsjahren, ein schönes Leben mit einigen Höhen und Tiefen. Sie war zehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg begann und hatte dadurch viel von ihrer Schulzeit verpasst, weil ständig Bombenalarm herrschte und die Lehrerin sie und ihre Mitschüler daraufhin nach Hause schickte. Es war ein gefährlicher Weg und sie hatte jedes Mal Angst, dass sie es nicht bis zu ihrem Elternhaus schaffen würde. Doch sie schien einen Schutzengel gehabt zu haben. Vermutlich hatte sie diesen in jener Zeit derart stark beansprucht, dass es ihr in späteren Jahren weniger gut erging. Ihre Ehe mit Herber und das Dasein als Mutter hatte sie erfüllt und gefordert. Eine Arbeit in einem Kaufhaus komplettierte ihre Zufriedenheit. Doch nachdem ihre vier Kinder aus dem Haus gewesen sind, fingen die Sorgen an. Maik, Wilhelmines ältester Sohn, hatte kein Glück bei den Frauen und war immer wieder auf der Pirsch, wie sie es nannte. Mario, der Zweitgeborene, hatte mit gerade einmal 25 Jahren eine Stelle im Ausland angenommen. In Michigan, in den Vereinigten Staaten. Willi sah beide fortan nur noch selten und auch ihr jüngster Sohn, der in einer Autowerkstatt arbeitete, ließ sich nicht mehr oft blicken, seit seine Söhne in das Teenager-Alter gekommen waren. Großeltern galten ab diesem Zeitpunkt wohl als uncool, mutmaßte sie mit einem traurigen Schmunzeln.
Der größte Rückschlag kam für Willi an einem wonnigen Frühlingstag im Jahr 1990. Der Arbeitgeber ihres Mannes rief an und musste ihr die Nachricht übermitteln, dass Herbert, der bei der Deutschen Bundesbahn arbeitete, bei einem Rangierunfall schwer verletzt wurde. Drei Tage später verstarb er im Krankenhaus an seinen inneren Verletzungen.
Vor fünf Jahren dann der nächste Schock: Bei einer Routineuntersuchung wurde bei ihr Darmkrebs diagnostiziert. Der einzige Halt, den Willi von diesem Augenblick an hatte, waren ihr jüngstes Kind, ihre Tochter Nadine, und deren Töchter Sophie und Celine.
Die Mädchen verbrachten so viel Zeit wie möglich bei ihrer Oma und diese genoss es jedes Mal mit Hingabe. Vor allem, weil die drei viele gemeinsame Interessen teilten. Beispielsweise las Willi ihren Enkeltöchtern abends gern aus ihrem alten Notizbuch vor, welches jetzt in ihren zittrigen Händen lag und jene Erinnerungen in ihr hervorrief, die weiter zurücklagen, als die Geburt ihres ersten Kindes.
Vor allem an einen Tag erinnerte sie sich, als wäre es gestern gewesen. An ihren letzten Tag, den sie an dem Ort verbrachte, den sie so sehr liebte und den sie lange Zeit beschützt hatte.
Sonntag, 15. Februar 1953
»Du kannst uns nicht verlassen, Willi. Nicht jetzt.«
Jene Worte, die die junge Frau nur in ihrem Kopf wahrnehmen konnte, klangen eindringlich und ängstlich. Um sie herum herrschte Windstille und kaum ein Vogel war zu hören, geschweige denn, irgendein anderes Tier.
»Ich habe keine Wahl.«
Die Stimme der Frau bebte, als sie ihrer Freundin ein letztes Mal tief in die Augen sah. Sie würde diese Art von Augen niemals vergessen, denn sie wusste, dass sie etwas Vergleichbares nicht wiedersehen würde. Nicht dort, wo sie jetzt hinging. Denn von dort gab es ab sofort keine Wiederkehr mehr.
»Du hast geschworen, uns zu beschützen«, klangen die Worte ihrer Kameradin in ihrem Kopf. »Es werden täglich mehr von ihnen. Sie greifen unsere Jungtiere an und plündern Nester. Wir sind machtlos. Sie erbeuten nicht aus Hunger – sie wollen uns vernichten.«
»Schließt euch zusammen, dann haben sie keine Chance«, sagte Willi und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. »Denkt immer daran, was ich euch gesagt habe: Gemeinsam seid ihr stark. Ihr müsst für euch kämpfen, egal ob ihr Pflanzen- oder Fleischfresser seid. Ihr alle lebt in einer Symbiose. Die einen können ohne die anderen nicht existieren.«
»Ohne dich werden die Fleischfresser nicht mehr lange zu bändigen sein. Sie werden unsere Bündnisse schneller vergessen, als du denkst. Die ersten Übergriffe gab es bereits unten am Fluss.«
»Das lässt sich nicht vermeiden, auch sie müssen leben. Selbst ich bin nicht in Lage, ihnen das zu verbieten und du weißt, dass ich nicht zu jedem von euch einen Zugang finden kann«, erklärte Willi und hielt sich ihren Bauch, in dem sie das dort heranwachsende Leben spürte.
»Durch dich hatten wir eine Einheit. Diese zerfällt in diesen Tagen wieder. All die Werte, die du uns beigebracht hast, lösen sich im alltäglichen Überlebenskampf in Luft auf. Niemand achtet mehr aufeinander. Jeder denkt an sich und das nutzt Discordia schamlos aus. Wir werden von Grund auf vernichtet und das unter den desinteressierten Blicken von jedem von uns.«
Willi drehte sich um und schaute auf die weite Ebene, die sich vor ihr ausbreitete. Es schien friedlich zu sein, jedoch erkannte sie, wie die Herden sich nervös umschauten, immer in der Angst, dass einer der Feinde auftauchen könnte.
Wilhelmine war zwölf Jahre alt, als sie diesen Ort zum ersten Mal sah. Völlig unerwartet und ohne jede Ahnung, wie sie herkam und was sie dort tun sollte. Es war das Abenteuer ihres Lebens. Schnell war diese Welt zu ihrem Zufluchtsort geworden. Hier war sie weit entfernt von dem großen Krieg und der täglichen Furcht, die er in ihrem jungen Herzen auslöste. Hier fand sie Freunde, wenn auch in Geschöpfen, die sie bis dahin niemals für möglich gehalten hätte und die den Vorstellungen ihrer Zeit darüber alles andere als ähnlich waren. Doch auch in dieser zunächst idyllisch wirkenden Welt gab es Probleme und ihre neuen Freunde setzten all ihre Hoffnung in das Mädchen. Wilhelmine half ihnen, so gut es ging, die Feinde in Schach zu halten, und sie hatte Erfolg. Ihr war es möglich gewesen, die unterschiedlichen Lager zu vereinigen und gemeinsam gegen Discordia vorzugehen.
Aber jetzt war es an der Zeit für Willi, diesen Ort für immer zu verlassen, denn sie erwartete ihr erstes Kind. Das Gesetz des Kronos, dem ältesten und weisesten Geschöpf dieser Welt, verlangte es, dass die Geburt eines Kindes einem die Fähigkeit nahm, in diese Welt zu gelangen. In ein paar Wochen würde es soweit sein und Willi hielte ihr Neugeborenes in den Armen. Der heutige Besuch bei Concordia, der Anführerin einer großen Herde, sollte ihr Letzter sein.
Doch Willi wusste um die Gefahr, die seit einiger Zeit von Neuem in dieser Welt wuchs. Es brach ihr das Herz, daran zu denken, dass sie vielleicht niemals erfahren würde, ob ihre Freunde dieser Gefahr gewachsen sein werden und sich gegen die Störenfriede durchsetzen können. Bereits zu diesem Zeitpunkt gab es enorme Verluste bei den Nestern und dem Nachwuchs zu beklagen.
Sie drehte sich noch einmal zu Concordia um und sah, dass neben ihr deren Tochter auftauchte. Das Jungtier war nach ihr benannt worden und hörte auf den Namen Wilhelmina. Sie sah ebenfalls traurig aus, auch wenn sie, im Gegensatz zu ihrer Mutter, ihren Gefühlen keine Worte verleihen konnte. Das beherrschten allein diejenigen, welchen ein zweites Leben geschenkt wurde.
»Ich muss gehen, Concordia«, sagte Willi unter Tränen und zog ihren violetten Opal hervor. »Es tut mir leid. Wirklich. Ich wünsche euch alles Gute und hoffe aus tiefstem Herzen, dass ihr diese Schlacht gewinnen werdet. Aber es ist nicht länger mein Kampf, denn auf mich warten bald andere Pflichten«, wieder streichelte die junge Frau ihren runden Bauch.
»Ich verstehe das und weiß, dass es das Gesetz so verlangt«, sagte Concordia und schmiegte ihren Kopf, der ungefähr die Maße dem eines großen Pferdes hatte, fest an Willis Oberkörper.
Dann nickte Willi ihren Freunden ein letztes Mal zu und rieb dreimal den Daumen über den Opal. Ein lila-buntes Lichtgewirr umfing sie und läutete das Ende einer Ära und den Beginn eines neuen Lebens ein.
Mittwoch, 30. August 2000
Wilhelmine war 71 Jahre alt und spürte, dass ihre Zeit gekommen war. Sie legte das lederne Notizbuch und den großen Opal, der an einer goldfarbenen Kette hing, in eine Schachtel und schrieb den Namen ihrer Enkeltöchter darauf. Dann ging sie zu Bett und in ihren Träumen sah sie sie wieder: Concordia, Wilhelmina, den alten Kronos und all die anderen, ganz besonderen Freunde. Ihre Hoffnung lag jetzt bei ihren Enkelinnen, denen sie mehr über diese Welt und die in ihr lebenden Geschöpfe erzählt hat, als diese bisher ahnten.
»Es ist so viel Zeit vergangen«, sprach Wilhelmine zu sich selbst, als sie in der Nacht erwachte. »Nadine hätte den Opal damals annehmen sollen. Ich hoffe, Sophie und Celine kommen nicht zu spät.«
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