[34] Picknick mit Dinos

»KÖNNT IHR EURER MUTTER beim Auspacken helfen?« Herr Winter hatte den Picknickkorb bereits unter seinem Arm geklemmt. Das Porzellangeschirr klapperte, das Essen duftete und die herunterhängende Decke weckte ebenfalls das Interesse der beiden jungen Raubdinosaurier. Hinz und Kunz sträubten ihr Gefieder und versuchten, zu dem Korb hochzuspringen.

Ace hatte das Auto schneller eingeholt, als es seine Absicht gewesen war. Die Suche nach einem geeigneten Parkplatz hatte das Ankommen der Familie deutlich verzögert. Schließlich mussten sie ein ganzes Stück abseits des Haupteingangs des Parks halten. Offensichtlich wollten zahlreiche andere Leute den letzten schönen Ferientag an der frischen Luft gleichermaßen genießen.

Zahlreiche andere Leute, auf deren ungestörtes Glück die beiden Schwestern aufpassen mussten, wenn sie am nächsten Morgen nicht wieder Meldungen über Dinosaurier in den Nachrichten hören wollten. Jedoch schienen die zwei Compys daran Gefallen gefunden zu haben, für Chaos zu sorgen, und machten erneut Anstalten, auf den Picknickkorb zu hopsen.

»Was ist denn noch? Geht zurück zum Auto.« Der Familienvater schüttelte ratlos den Kopf, als seine Töchter ihm mit wedelnden Armen folgten, anstatt sich nützlich zu machen.

»Ja, Papa. Ähm, da, also da war eine Wespe am Korb, die wollten wir fix vertreiben. Du sollst ja nicht gestochen werden.« Celine klopfte ihrem Vater noch fix unsichtbaren Schmutz von der Schulter, lächelte ihn gespielt unschuldig an und trat rückwärts an ihre Schwester heran. »Wäre doch schade, nicht?«, fragte sie diese und stieß sie mit dem Ellenbogen in die Seite.

»Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit euch los ist. Die lange Freizeit scheint euch zu Kopf zu steigen. Wird Zeit, dass ihr wieder in die Schule geht«, sinnierte der Vierzigjährige kopfschüttelnd vor sich hin, ehe er sich selbst samt Picknickkorb durch den kleinen Seiteneingang innerhalb des Landschaftsparks bewegte.

»Wenn das nur so einfach wäre«, flüsterte Sophie ihrer Schwester zu.

Auf dem Weg zurück zum Auto konnten sie Ace sehen, der zu ihnen aufschloss. Völlig außer Atem beugte er sich zu Hinz und Kunz herunter und fauchte sie an. »Diese Rabauken schaffen es, sogar einen Deinonychus an die Grenzen seiner Belastbarkeit zu bringen. Das ist schlimmer, als einen Sack Flöhe hüten.« Er schüttelte sein Federkleid auf und scharrte mit dem rechten Fuß auf dem Schotterweg herum.

»Du machst das prima«, versuchte Celine, das Selbstwertgefühl des Raubdinosauriers wieder aufzupolieren. »Am günstigsten wäre es, mit Hinz und Kunz irgendwohin zu gehen, wo möglichst wenige Menschen sind. Die sollen nicht auf dumme Einfälle kommen.« Die Elfjährige deutete auf die Massen an Familien und Rentner, welche auf dem Weg zum Park waren.

»Tja, nichts leichter als das«, sagte Ace und schluckte schwer. »Ich gebe mein Bestes«, versprach er dann und schob die Compsognathus-Brüder vor sich her. Diese schienen von ihrem Babysitter nicht sehr angetan zu sein und protestierten mit schrillen Pfeiftönen und Federsträuben. Missmutig beugten sie sich dennoch dem Willen des größeren Verwandten und verschwanden mit Ace hinter einem Knallerbsenstrauch.

»Vielen Dank, dass ihr lieber in der Gegend herumsteht, anstatt eurer Mutter beim Auspacken zu helfen.« Lautes Kofferraum-Zuschlagen holte Celine und Sophie wieder in die andere Realität zurück, jene, in der niemand außer ihnen die Dinosaurier sehen konnte.

»Sorry, Mom, wir dachten, wir hätten dort vorne jemanden aus unserer Schule gesehen. War er aber doch nicht. Sollen wir was tragen?« Sophie griff nach der extragroßen Picknickdecke mit der wasserfesten Unterseite, die sich ihre Eltern erst kürzlich bei einem Tele-Shopping-Kanal bestellt hatten.

Ermahnenden Blickes überreichte ihre Mutter ihr die rot und grau karierte Decke. »Lasst die euch nicht klauen. Hat ne Stange Geld gekostet«, betonte die Siebenunddreißig-Jährige. »Celine, kannst du die Thermosflaschen tragen? Ich bringe den Kuchen mit.«

Nadine Krauss bereitete sich auf ein Familien-Picknick immer derart gut vor, dass sie locker drei Tage in der Wildnis überleben könnten. Der Korb war prall bestückt mit Schnitten, Obst und Gemüse, hinzu kamen ein paar Kekse und Limonade. Dazu hatte sie drei Thermosflaschen mit Kaffee und zwei verschiedenen Teesorten befüllt. Der Fotoapparat durfte natürlich auch nicht fehlen.

»Hast du einen neuen Film eingelegt?«, fragte Celine ihre ältere Schwester, die damit begann, erste Erinnerungsfotos von diesem Ausflug zu knipsen.

»Hört sich jedenfalls so an«, deutete diese mit einem Kopfnicken auf das vertraute Rattern und Summen, welches darauf hinwies, dass der Film nach erfolgreicher Aufnahme durch den Apparat gezogen wurde. »Noch 31 Bilder drauf.«

»Die müsst ihr aber nicht alle heute verknipsen«, mischte sich ihre Mutter in das Gespräch ein. »An Weihnachten wollen wir auch noch ein paar Fotos machen. Vielleicht schon zum Geburtstag eures Cousins. Max ist bestimmt ordentlich gewachsen, seit wir ihn das letzte Mal gesehen haben.«

Sophie steckte den Fotoapparat wieder in ihren Rucksack und genoss die frische Herbstluft.

Beinahe alle Bäume waren noch grün. Einige hatten sich bereits gelblich gefärbt, nur vereinzelte erstrahlten in warmen Rottönen oder sahen eher vertrocknet bräunlich aus. Auf dem Boden raschelte bislang nur wenig Laub, dennoch ließ sich der Griff der kühleren Jahreszeit nicht leugnen. Das Vogelgezwitscher wurde seltener und am Himmel sah man Gänse und Kraniche gen Süden fliegen.

Nach einer Weile konnten sie ihren Vater sehen, der besonders wichtig dabei wirkte, wie er eine freie Stelle im Park auf ihre Eignung als Picknick-Platz untersuchte.

»Na, irgendwelche gefährlichen Raubtiere, giftige Pflanzen oder Ameisenhaufen in der Nähe, oder können wir uns hier niederlassen?« Nadine Krauss stupste ihren Ehemann in die Seite und hob eine der Kuchenabdeckungen ein wenig nach oben.

Wolfgang Winter zog den herrlichen, warmen Duft des Russischen Zupfkuchens tief ein und verdrehte die Augen. »Ja, ich denke, hier können wir es uns heute gemütlich machen. Mädels, breitet die Decke aus, wir picknicken!«

Das ließen sich Celine und Sophie nicht zweimal sagen. Die ältere der beiden hatte allerdings ihre liebe Not, die übergroße und ziemlich steife Decke auszulegen. Immer wieder zog diese sich zusammen, bekam Knicke oder lag auf einem Stein.

»So viel zu den überteuerten Tele-Shopping-Produkten«, grummelte sie vor sich hin.

Erst als jeder von ihnen eine Ecke der Decke packte und sie gemeinsam daran zogen, schaffte es die Familie, die 1 Meter 90 mal 2 Meter 30 große Campingdecke ordentlich auszubreiten. Die wasserdichte Unterseite knisterte, als sich Celine als erste darauf setzte.

»Passt schon«, resümierte sie ihr Erlebnis. »Aber doch ganz schön frisch hier unten.«

Das sonnige Novemberwetter täuschte über die Temperaturen am Boden hinweg, die bereits deutlich gesunken waren. Etwas Tau glitzerte an den kurzgemähten Grashalmen.

»Hätten wir doch die andere bestellen sollen, die mit der Thermoschicht«, dachte ihr Vater an die Tele-Shopping-Angebote zurück.

»Die für 140 Mark?«, quiekte seine Frau und schüttelte den Kopf. »Viel zu teuer. Wir essen jetzt erst mal etwas und trinken uns warm und dann wird das schon.«

Gesagt, getan.

Der warme Kuchen wurde dabei sogar den kalten Sandwichs vorgezogen, obwohl es im Hause Krauss-Winter normalerweise immer zuerst etwas Herzhaftes vor dem Süßen gab. Auch der Tee und Kaffee wurde leidenschaftlich geschlürft, doch die aufsteigende Kälte konnte dennoch nicht lange unterdrückt werden.

»Celine und ich machen mal einen kleinen Verdauungsspaziergang«, schlug Sophie nach einer Weile vor. »Wir müssen noch ein bisschen darüber nachdenken, wie das morgen so wird in der Schule.«

»Du meinst, wenn alle euch auf eure Oma ansprechen?«, hakte ihre Mutter nach.

Sophie nickte stumm.

»Ist gut, aber geht nicht zu weit weg und passt auf bissige Dinos auf«, feixte ihr Vater und zwinkerte seinen Töchtern aufmunternd zu.

»Denen werden wir schon was erzählen, Papa. Keine Sorge.« Celine hob den rechten Daumen in die Luft, dann verschwanden sie und Celine über eine weitläufige Rasenfläche.

»Picknick im November ist doch nicht so eine gute Idee gewesen, was?«, fragte Sophie ihre Schwester und rieb sich die Oberarme.

»Deine Lippen sind ganz blau«, stellte diese erschrocken fest. »Es kommt mir vor, dass es hier draußen deutlich kälter ist als in der Stadt.«

»Schon möglich«, bibberte Sophie. »Hast du eine Ahnung, wo Ace mit unseren beiden Krawallmachern abgeblieben sein könnte?«

»Hm, dort wo keine Menschen sind, hoffe ich.« Celine blickte sich suchend in der Gegend um, fand aber nichts außer Menschen und ein paar Hunden.

»Das dürfte schwierig sein, so viel, wie hier heute los ist. Die gucken schon alle komisch, weil wir so komisch gucken.«

»Dann lass uns mal nach da hinten gehen, da sind die Begrenzungsmauern des Parks. Vielleicht halten sich unsere prähistorischen Freunde dort irgendwo auf.«

Sophie stimmte in den Vorschlag ihrer Schwester ein. »Damit brechen wir ein Versprechen, um ein anderes zu halten.«

»Hm?«

»Na, unseren Eltern haben wir gesagt, dass wir uns nicht zu weit entfernen werden und Hermes haben wir versprochen, auf die Compies und generell die Dinos in dieser Welt aufzupassen. Dieses Doppelleben wird uns noch kaputtmachen.«

»Ich fürchte, da müssen wir jetzt erst einmal durch.« Celine legte ihrer Schwester ihre Hand auf die Schulter. »Vielleicht finden wir aber schneller eine Lösung für die vielen Probleme, als wir denken.«

»Dein Optimismus in Ehren, Schwesterchen.«

Die Mädchen erreichten die Parkgrenze und suchten die Mauer nach einem Ausgang oder Durchschlupf ab.

»Ace?«, rief Celine verhalten und achtete auf jedes Geräusch. »Hey, Ace, wo steckt ihr denn?«

»So lange wir niemanden panisch schreien hören, scheint noch alles in Ordnung zu sein«, war sich Sophie sicher.

»Ist es nicht eher so, dass Still bedeutet, dass etwas im Busch ist?«, merkte Celine ab, als sie hinter einem dichten Gestrüpp nachsah.

»Das behaupten Eltern immer, aber in diesem speziellen Fall trifft das sicher nicht zu.«

Die Schwestern bahnten sich den Weg an der Mauer entlang und erreichten bald eine Stelle, an der das Gemäuer halb eingestürzt war.

»Ich weiß nicht recht.« Celine kratzte sich an der Stirn und horchte weiter. »Ich kann mich irren, aber weint da nicht wer?«

»Weinen?« Sophie legte ihre Hände an ihre Ohren, um besser hören zu können. »Da ist nichts.«

Für einige Minuten lauschten die Mädchen weiter. Zunächst vernahmen sie nur das leise Rauschen des Windes.

»Doch! Ich glaube, das kommt von da hinten«, beharrte Celine auf ihre Meinung. »Lass uns mal weiter in diese Richtung gehen. Nicht, dass da ein Kind von unseren beiden Pappnasen gezwickt wurde oder so.«

»Mal den Teufel nicht an die Wand, Cel.«

Leisen Schrittes folgten die Schwestern dem kaum vernehmbaren Wimmern. Nach einigen Metern konnte auch Sophie die kläglichen Laute hören.

»Das ist aber kein Kind«, stellte sie fest. »Nicht einmal ein Mensch, würde ich sagen.«

»Denkst du?«

»Ganz sicher. Hier steckt irgendwo ein Dinosaurier in Schwierigkeiten.«

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