[32] SUE

»DER BACH AM großen Felsen?«, erschrak Hermes, nachdem Ace von seiner Beobachtung berichtet hatte.

»Ja. Sie treten dort hinein und verschwinden«, bekräftigte der Raptor nach einer Weile seine Aussage. »Ich habe ein Psittacosaurus-Pärchen beobachtet, welches über einen sehr langen Zeitraum hinweg immer wieder verschwunden und erneut aufgetaucht ist. Als würden sie sich in Luft auflösen. Leider konnte ich sie nicht verstehen, aber sie sahen sehr zufrieden und entschlossen aus.«

»Sie haben einen Nistplatz in eurer Welt gefunden«, stellte Nestor eine Vermutung auf und beäugte die Schwestern argwöhnisch.

»Das vermutete ich auch«, sprach Ace weiter. »Ich weiß, es war leichtsinnig, dennoch musste ich es auch einmal probieren und in den Bach steigen.«

»Du hast was getan?« Hermes fauchte Ace an und sträubte sein feines Haarkleid.

»Es tut mir leid. Die Neugier hat mich gepackt.«

»Darüber reden wir noch, mein Freund«, knurrte Hermes und stupste den Deinonychus mit seinem Schnabel an. »Also dann, erzähl uns, was in dem Bach passiert ist.«

Ace senkte verschämt seinen Kopf, bevor er weitersprach. »Zunächst war alles normal«, begann er zu berichten und schaute alle Anwesenden mit aufgerissenen Augen an. »Was als Nächstes passiert ist, muss man erlebt haben, um es glauben zu können. Ich wurde in ein sehr helles Licht gezogen. Es hat mich komplett eingehüllt. Dann war mir so, als würde etwas an mir ziehen und plötzliche Dunkelheit umfing mich. Momente später fand ich mich in einem fremden Wald wieder. Dort waren unbekannte Bäume und Tiere. Die Vögel sangen unbekannte Lieder und alles roch so außergewöhnlich. Solche Angst hatte ich noch nie, muss ich gestehen. Es waren keine anderen Dinosaurier dort, aber ein noch leeres Nest, das ich den Psittacosauriern zuschreiben würde.«

Schweigen erfüllte die Luft und alle Blicke waren auf Ace gerichtet, der verlegen die Federn anlegte. Das Kreischen einiger kleiner Pterosaurier unterbrach die Stille.

»Und wie bist du wieder hierhergekommen?«, fragte Al, der bei dieser Geschichte besonders große Augen machte.

»Das wusste ich zunächst auch nicht«, antwortete Ace und sträubte sein Gefieder. »Ich hatte wirklich Panik, dass ich nicht zurückfinden würde. Hab etliche Federn verloren vor Angst. Dann ging es richtig schnell. Ich schloss die Augen ganz fest, wünschte mich zurück und das helle Licht kam von Neuem. Ehe ich wusste, was passierte, stand ich wieder an dem Bach und konnte in der Ferne ein paar Ornithopoden erkennen, die ebenfalls ins Wasser stiegen und verschwanden. Es wissen offensichtlich noch weitere Saurier von diesem Ort.«

»Ornithopoden? Wie Iguanodon oder Parasaurolophus?«, fragte Celine staunend nach dieser Dinosaurier-Unterordnung.

»Corythosaurier, wenn du es genau wissen willst. Die mit dem Helm«, erklärte Ace und wandte sich wieder Hermes zu. »Das muss schon deutlich länger so gehen, als wir bisher ahnten. Unter den Pflanzenfressern sprechen sich solche Sachen schnell herum.«

Hermes nickte. »Ich habe aus diesem Bach als Jungtier oft getrunken«, erinnerte er sich und kratzte sich mit der rechten Hand an der muskulösen Brust. »Es war immer ein ganz normales Gewässer. Dass er jetzt als Portal zwischen den beiden Welten dient, ist sehr beunruhigend.«

»Vielleicht hat der Tod unserer Oma dazu beigetragen, dass solche Dinge passieren?«, sinnierte Celine.

»Oder der geteilte Opal«, ergänzte Sophie.

»Ich werde mit Poseidon darüber sprechen müssen und über eine Möglichkeit, die Dinos daran zu hindern, in eure Welt zu gehen. Wenn Discordia davon erfährt, könnte sie sich das zunutze machen.«

»Wir könnten helfen, die anderen Dinos in unsere Welt zurückzudrängen«, bot sich Al an. »Wenn wir ebenfalls in diesen Bach steigen und bei Celine und Sophie wieder rauskommen, hätten wir die Möglichkeit, ihnen auch in ihrer eigenen Heimat behilflich zu sein.«

»Vor allem mit den Compies«, ergänzte Ace kopfnickend.

»Auch darüber werde ich mich mit Poseidon beraten«, gab sich Hermes skeptisch. »Tut nichts, bevor ich nicht mit euch gesprochen habe«, ermahnte er die jungen Wilden, wandte sich von ihnen ab, machte ein paar Hüpfer und breitete seine Flügel aus, bis er abhob und schon bald am Horizont verschwand.

»Das wäre eigentlich ganz schön, wenn ihr auch tagsüber in unserer Nähe sein würdet«, freute sich Celine über Als und Aces Vorschlag.

»Nicht so voreilig, Schwesterchen«, dämpfte Sophie ihren Enthusiasmus. »Noch hat der Rat der Weisen nicht darüber getagt.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, was Poseidon oder Kronos dagegen haben könnten«, grummelte Al. »Das geht uns alle etwas an und es wäre nicht fair, all diese Probleme euch allein zu überlassen. Es hat schließlich einen Grund, warum wir mit euch kommunizieren können. Warum sonst sollten wie Teil eures Teams sein?«

»Das sehe ich auch so«, stimmte Sophie in das Thema mit ein. »Apropos Team. Wollte Scotty nicht auch hierherkommen?«

»Das hatte er jedenfalls versprochen«, überlegte Al und blickte sich nach seinem Tyrannosaurus-Freund um.

»Hoffentlich ist ihm nichts passiert«, sorgte sich Sophie.

»Er musste zunächst seine Pflichten erfüllen«, ertönte eine fremde weibliche Stimme in ihrem Kopf.

»Wer hat das gesagt?«, fragte sie ihre Freunde, die sie ebenfalls gehört hatten und belustigt die Augen verdrehten. »Kennt ihr sie? Sagt schon! Wer ist das?«

Nahezu lautlos näherte sich ein riesiger Schatten aus dem Koniferen-Wald hinter dem Hügel. Einige der jüngeren Bäume teilten sich oder brachen entzwei und gaben einen gleichzeitig beeindruckenden wie furchterregenden Anblick preis.

»Heilige ...! Was zum ... oh, mein Gott.« Stammelnd verzogen sich Celine und Sophie hinter Al und Ace. »Das ist ein ausgewachsener Tyrannosaurus, nicht wahr?«

»Tyrannosaura, wenn ich bitten dürfte. Mein Name ist Sue.«

Das rund dreizehn Meter lange Tier kam leichten Schrittes auf den Hügel gestiegen und fixierte die Schwestern mit ihren kleinen nach vorn gerichteten Augen. Dabei sah es aus, wie ein riesiger Greifvogel mit einem großen dicken Schnabel. Nur, dass es kein Schnabel war, sondern eine mit sechzig messerscharfen und kräftigen Zähnen bewaffnete Schnauze. Sues graubraune reptilienartige Haut wies nur an einigen wenigen Stellen eine Art Federn auf. Ihr Körper war tonnenförmig und die klitzekleinen Arme wirkten nahezu lächerlich. Der lange kräftige Schwanz balancierte ihr etwa neun Tonnen Lebendgewicht aus.

»Ihr müsst keine Angst vor Sue haben«, wandte sich Al an Celine und Sophie. »Sie ist Scottys Mutter und auf unserer Seite. Keiner von uns hat so viele Rauisuchier gefressen, wie sie.«

»Es, ähm, freut mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen«, stotterte Sophie, als sie andächtig hinter Als Beine hervortrat.

»Nur keine falsche Bescheidenheit. Tyrannosaurier sind sehr soziale Wesen. Wir achten und versorgen unseresgleichen. Dazu zählen auch unsere Freunde und vor allem unsere Beschützer. Ich bin es, die sich freuen sollte, eure Bekanntschaft zu machen.« Sue senkte respektvoll ihren Kopf, dann drehte sie sich wieder zu dem Wald um, aus dem sie kam. »Beeil dich, Scott! Du hast alles Wichtige verpasst durch deine Trödelei.«

Hektisches Geraschel drang aus dem Gestrüpp und ein blutverschmiertes Maul tauchte hinter den Baumfarnen auf.

»Scotty! Hey, Junge, wie siehst du denn aus?«, kicherte Al, als er seinen Freund erblickte, dem man die letzte Mahlzeit noch deutlich ansah.

»Diesen Bengel kriege ich nicht mehr groß«, murmelte Sue vor sich hin und verdrehte die Augen. »Kann sich nach dem Essen nicht mal richtig putzen. Hat er eigentlich gar nichts von meiner guten Erziehung genossen?«

»Entschuldigt bitte meine Verspätung, ich musste erst noch beim Jagen helfen«, rief Scotty, als er erschöpft den Gipfel des Hügels erreicht hatte. Mehrere Dutzend Fliegen umschwirrten sein Maul und der Geruch frischen Blutes hing in der Luft.

»Pass lieber auf, dass du keine anderen Fleischfresser anlockst mit deinem Blutbart«, merkte Sophie naserümpfend an. »Ich freue mich trotzdem, dich wiederzusehen.«

»Ich mich auch! Was hab ich verpasst?«

Mittwoch, 1. November 2000

»Hey, Celine. Aufwachen! Wir wollen heute in den Bürgerpark fahren.«

An diesem Morgen war es nicht der nervige Hühnerwecker, der Celine aus dem Schlaf riss, sondern die aufgeregte Stimme ihrer Mutter. Voller Enthusiasmus öffnete diese die Vorhänge und ließ die tiefstehende Herbstsonne ins Zimmer.

»Es ist ein wunderschöner Tag für einen Ausflug. Ab kommende Woche sinken die Temperaturen und von Sonnenschein ist dann keine Rede mehr. Windig und regnerisch soll es werden«, hörte Nadine Krauss nicht auf zu erzählen.

»Ich komm ja schon«, erklang Celines belegte Stimme unter der Bettdecke.

»Wird auch Zeit. Gestern warst du um diese Zeit schon längst wach.« Als ihre Mutter das Fenster öffnete, zog Celine ihre Bettdecke schnell wieder über den Kopf.

»Außerdem solltest du unbedingt Nachrichten gucken«, fuhr Frau Krauss fort und zog die Decke ihrer Tochter zurück. »Die behaupten jetzt, dass ein Dinosaurier in unserer Stadt sei und Leute beißen würde. Und ich dachte, das Sommerloch wäre vorbei.«

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