[28] KOMMT EIN QUASIMODO UM DIE ECKE ...
»JETZT ABER SCHNELL!«, rief Celine ihrer Schwester zu, als die beiden um 11:54 Uhr an der Haltestelle Mühlenfeldstraße/Bäckergasse aus der Bahn stiegen.
Vor ihnen erstreckte sich ein typisches Stadtrand-Wohngebiet mit vielen Einfamilienhäusern, ein oder zwei Kleingartenanlagen, Feldwegen, Wiesen und angrenzenden landwirtschaftlichen Flächen. Die Straßenbahn war die einzige Verbindung zur großen weiten Welt. Ab jetzt mussten alle Wege zu Fuß erledigt werden.
»Das schaffen wir sowieso nicht mehr. Wir wissen nicht mal, wo genau diese Reptilienstation ist«, gab sich Sophie gewohnt pessimistisch und verlangsamte ihr Tempo.
»Du willst nur kneifen, weil du dich nicht traust, den Kerl nach einem Wochenend-Job zu fragen«, stichelte Celine, schnappte nach der Hand ihrer störrischen Schwester und zerrte sie hinter sich her.
»Aua! Lass das sein!«, protestierte die Ältere der beiden und schüttelte sich aus dem Griff ihrer Schwester frei. »Im Ernst, wir waren hier noch nie. Woher sollen wir wissen, wo der ist?«
»Umso wichtiger, dass wir keine Zeit verlieren. Es wird doch bestimmt irgendwo ausgeschildert sein.« Celine blickte sich suchend um und kratzte sich ratlos am Kopf. »Oder auch nicht. Aber wir haben den Bericht im Fernsehen gesehen. Da gab es Außenaufnahmen. Kommt dir irgendwas hier bekannt vor?«
»Nein, tut es nicht. Jetzt komm, wir verschwenden Zeit, die wir sinnvoller nutzen könnten.«
»Was könnte denn bedeutender sein, als herauszufinden, ob diese Kerle unseren Opal haben und was sie über die Dino-Welt wissen? Mensch, Sophie! Wir haben eine Aufgabe zu erfüllen. Oma wäre enttäuscht, wenn sie dich so sehen würde. Es sind ihre Freunde gewesen und jetzt sind es unsere.«
»Reg dich ab, Cel«, gab Sophie klein bei und sah sich ebenfalls in diesem Viertel um. »Da hinten ist ein Reiterhof. Von dem hat Nicole aus meiner Klasse immer viel erzählt«, bemerkte sie und zeigte Richtung Bäckergasse. »Sie hasst Reptilien. Wenn in der Nähe so ein Laden wäre, hätte sie ihn mit Sicherheit erwähnt.«
»Der Dvořák hat die Hausnummer 26. Hier sind die kleineren Zahlen«, grübelte Celine beim Blick auf die gutbürgerlichen Grundstücksbegrenzungen.
»Dann haben wir doch schon mal eine Richtung.«
»Aber keine Zeit mehr. Es ist jetzt um 12. Vielleicht hast du doch noch Glück und kommst um dein Anliegen herum.«
»Jetzt sind wir einmal hier, da fahren wir nicht unverrichteter Dinge wieder los. Also komm, schauen wir dort drüben nach.« Sophie ging verkniffenen Gesichts voraus und hätte beinahe einen kleinen struppigen Hund übersehen, der im Affenzahn aus einer der Weggabelungen gerannt kam.
»Das hatten wir doch schon mal«, stellte Celine beim Anblick es aufgescheuchten Terrier-Mischlings fest.
Eine ältere Dame folgte dem Tier und rief verzweifelt seinen Namen. »Quasimodo! Hey, Quasi! Was ist denn in dich gefahren, mein Kleiner?«
»Quasimodo? Bei dem Namen wäre ich auch stiften gegangen«, flüsterte Sophie ihrer Schwester ins Ohr.
Zum Glück stieg dem zotteligen Kerl schon bald ein interessanter Geruch in die Nase und er blieb schnüffelnd an einer Straßenlaterne stehen.
»Das machst du nie wieder, hörst du?«, tadelte die Alte ihren graubraunen Haus- und Weggenossen als sie ihn erreichte. Sie nahm seine Leine in die Hand und tätschelte ihm die Locken. »Hat sich wohl vor irgendwas erschrocken. Ist einfach losgerannt. Das hat er vorher noch nie gemacht. Hätte fast einen Herzschlag erlitten. Böses Hundchen.«
»Wir hätten geholfen, ihn wieder einzufangen«, antwortete Sophie der Dame. »Glücklicherweise ist alles nochmal gutgegangen.«
»Danke, das wäre sehr nett von euch gewesen. Wohnt ihr hier? Ich habe euch noch nie gesehen«, stellte die Frau in dem eierschalenfarbenen Anorak fest.
»Wir sind auf der Suche nach diesem Reptilienexperten, der hier irgendwo in der Mühlenfeldstraße ansässig sein soll«, erklärte Celine und zeichnete mit der Hand einen Kreis in der Luft.
»Diesen Schmierlappen sucht ihr? Oh, verzeiht mir. Ein unfreundlicher Zeitgenosse. Tut im Fernsehen immer so nobel und höflich. In Wahrheit kann er nicht mal grüßen, wenn man ihn sieht.«
»Also ist er hier in der Nähe?«, unterbrach Sophie die Klagen der älteren Dame, die brüskiert ihr seidenes Halstuch zurechtzupfte.
»Ach, ja. Gleich dort vorne. Einmal da hinten links um die Ecke und dann seht ihr es schon. Im Vorgarten ist ein Freilauf mit Landschildkröten«, erzählte die Frau, die daraufhin schmunzeln musste. »Na, so lange er zu den Tieren gut ist, ist es ja in Ordnung. Nicht wahr, Quasi, mein Kleiner?«
»Wir danken Ihnen und wünschen noch einen angenehmen Tag«, verabschiedete sich Celine und war schneller hinter einer Hecke verschwunden, als die Hundehalterin Tschüss sagen konnte.
»Irgendwas haben die alten Leute immer zu meckern«, kicherte Sophie, die ihrer Schwester eilig folgte.
»Stimmt, aber bei dem Typen hat sie recht und irgendwie war sie ganz niedlich mit ihrem Quasimodo.«
»Der Hund hat wirklich einen kleinen Buckel gehabt. Was man so alles erlebt.«
»Langeweile werden wir wohl in nächster Zeit nicht mehr haben, schätze ich. Ich frage mich nur, vor wen oder was er sich erschrocken hat. Denkst du, es könnte einer unserer Compies gewesen sein?« Celine bog um die nächste Ecke und blieb dann nickend stehen. »Dort ist es.«
»Schon möglich. Ich habe allerdings nichts gesehen«, dachte Sophie über die Frage, ob Hinz und Kunz den Vierbeiner erschreckt haben könnten, nach und schaute noch einmal den Weg, den sie gekommen waren ab. »Alles friedlich weit und breit.«
»Ja und sogar Dvořáks Haus fällt weniger aus der Reihe, als ich es erwartet hätte. Wären das Schild und die Schildkröten nicht, könnte man die Hütte nicht von den anderen Einfamilienhäusern unterscheiden.« Celine trat vorsichtig an den Zaun, um nach den gepanzerten Reptilien zu schauen. »Die haben es hier echt gut. Auch in diesem Punkt hatte die Frau von eben recht. Zu seinen Tieren ist er wirklich nett und gibt ihnen alles, was sie brauchen, um glücklich und gesund zu sein.«
»Nur schade, dass wir keine Reptilien sind«, stellte Sophie fest und atmete schwer aus.
»Es ist dreizehn Minuten nach zwölf. Eigentlich hat der jetzt zu, aber wir klingeln trotzdem. Wir wollen ja nichts kaufen oder so«, beschloss Celine und ging den kleinen, ordentlich gepflasterten Weg zur Haustür entlang. Sophie folgte ihr auf dem Fuß.
»Warte! Vielleicht lauschen wir erstmal, ob überhaupt wer da -«
DING-DONG!
»Nein, wir warten nicht, Schwesterherz.«
Entgegen Sophies Hoffnungen öffnete sich nach etwa einer Minute die lackschwarze Tür und Pavel Dvořák persönlich streckte seine irokesengekrönte Visage heraus.
»Hallo, wie kann ich euch helfen?«, fragte dieser zunächst gar nicht mal so unhöflich, wie erwartet. »Habt ihr ein Reptil gefunden?«
Nachdem keines der Mädchen geantwortet hatte, stieß Celine ihre Schwester auffordernd in die Seite.
»Ähm, nein. Wir – wir wollten nur was fragen«, stammelte Sophie und zupfte sich am Bund ihrer Jacke herum.
»Wir haben geschlossen. Führungen gibt es nur zu den offiziellen Geschäftszeiten. Kommt am Freitag wieder, wenn ihr euch die Tiere angucken wollt. Ztrať se!«
Dvořáks Tonfall schlug deutlich um und er war im Begriff, die Tür wieder zu schließen.
»Halt, wir wollen uns nichts ansehen, nur was wissen«, hinderte ihn Celine an diesem Vorhaben.
»Ich habe nicht viel Zeit, also macht schnell«, mit einer flüchtigen Kopfbewegung bedeutete Dvořák den Besucherinnen ins Haus zu kommen.
Celine und Sophie nickten sich zu und folgten dieser Einladung. Bereits im Hausflur standen einige Terrarien mit kleineren Tieren wie Geckos, winzigen Wasserschildkröten aber auch Spinnen und Skorpionen.
»Den Kaiserskorpion habe ich heute Morgen mitten in einem Wohngebiet gefunden«, erklärte Dvořák ungefragt, als er die staunenden Gesichter der Mädchen bemerkte.
»Hat den jemand ausgesetzt?«, fragte Celine, obwohl sie die Antwort bereits kannte.
»Was glaubt ihr denn? Die kommen wild nur in West- und Zentralafrika vor. Ich frage mich, warum er ausgesetzt wurde. Diese Tiere sind vergleichsweise anspruchslos, wenig giftig und stechen nur selten.« Dvořák öffnete die transparente Box und nahm den Krabbler auf seine Handfläche. »Es ist noch ein Jungtier. Vielleicht vier oder fünf Jahre alt. Ausgewachsen sind sie nach etwa sieben Jahren und können in seltenen Fällen 20 cm oder mehr erreichen. Wollt ihr ihn mal nehmen?«
Die Schwestern zögerten zunächst. Celine warf Sophie einen mahnenden Blick zu und die Vierzehnjährige verstand, dass dies eine gute Gelegenheit wäre, ihre Fähigkeiten als Praktikantin unter Beweis zu stellen.
»Ich nehme ihn gern einmal«, sagte sie und streckte ihre flache Hand zu dem Tier aus. »Ich habe erst kürzlich ein Praktikum im Zoohandel gemacht und da durfte ich auch kleine Reptilien halten. Aber so einen Skorpion hatten die gerade nicht, ähm, vorrätig. Klingt komisch bei Tieren, nicht wahr?«
»Allerdings«, gab Dvořák ihr recht, nachdem er den Skorpion auf Sophies Hand platziert hatte. »Tiere sollten nicht wie ein Pfund Mehl an jeden verscherbelt werden können, der das passende Geld auf den Tisch legt.«
Diese Aussage beeindruckte die Mädchen und verstärkte das Bild des Mannes als echten Tierfreund.
Der Skorpion schien sich bei Sophie wohlzufühlen, krabbelte ein bisschen nach links und ein wenig nach rechts und blieb dann ruhig sitzen.
»Du hast ein gutes Händchen für diese Tiere«, stellte Dvořák fest und ließ einen Hauch Anerkennung in seiner Stimme mitschwingen. »Also, was wolltet ihr wissen?«
»Ich interessiere mich sehr für Reptilien und hab Sie letztens im Fernsehen gesehen, ihre Schlangen und so. Und ich würde das Wissen, das ich in der Zoohandlung erworben habe, gern spezifikalisieren, ähm, Sie wissen schon. Und deswegen hätte ich gern gewusst, ob Sie einen Platz für mich als, nun, so ein Wochenend-Job wäre sicher klasse. An vier aufeinanderfolgenden Samstagen oder so.«
Dvořáks emotionsloser Gesichtsausdruck hellte sich bei Sophies Gestammel ein wenig auf, dennoch schüttelte er mit dem Kopf.
»Tut mir leid. So etwas wie Praktika und Ähnliches biete ich nicht an. Reptilien sind verdammt anspruchsvoll und da lasse ich nur erfahrene Menschen dran und keine Laien.«
»Aber Erfahrungen muss man doch auch sammeln und in so einer Zoofachhandlung muss man meist nur putzen. Viel über Tiere lernt man da nicht«, rechtfertigte sich Sophie.
»Meine Schwester liebt Kriechtiere. Sie würde niemals irgendetwas tun, was den Tieren schadet«, ergriff Celine Partei für Sophie.
»Kann ja alles sein, aber ich wüsste trotzdem nicht, was ich dich machen lassen könnte. Tut mir leid.« Dvořák wies den Mädchen wortlos den Weg zur Tür hinaus. »Wie schon gesagt, ich habe viel um die Ohren. Wenn ihr dann wieder gehen würdet.«
»Herr Dvořák, bitte. Dann eben nur zwei Samstage«, ließ sich Sophie nicht abwimmeln. »Ich gucke Ihnen einfach über die Schulter und mache mir Notizen. Sie werden gar nicht merken, dass ich überhaupt da bin.«
»Sowas ist mir noch nie untergekommen. Ganz schön hartnäckig.« Der Reptilienspezialist kratzte sich am Kinn und beäugte seine zwei Gäste eindringlich. »Wie alt bist du?«
»Vierzehn. Ich werde Anfang Dezember fünfzehn. Neunte Klasse.« Sophie legte einen Dackelblick auf und schaute den Kaiserskorpion an, der noch immer brav auf ihrer Hand hockte. »Er würde sich bestimmt auch freuen, mich wiederzusehen.«
»Er ist aber kein Reptil«, ermahnte Dvořák und nahm das stachelbewehrte Spinnentier wieder an sich.
»Was Sie nicht sagen«, antwortete Sophie und zog eine Augenbraue nach oben.
»Schön, schön«, schmunzelte Dvořák daraufhin kurz und setzte den Skorpion zurück in sein Notfallquartier. »Mit dieser frechen Antwort hast du dich qualifikatiziert.«
»Machen Sie sich über mich lustig?«, echauffierte sich Sophie angesichts des Seitenhiebes auf ihren vorherigen Versprecher.
»Ich würde es nie wagen.« Er hob die Hände und ging den Flur entlang zu einem Zimmer, aus dem es stark nach Kaffee und Zigaretten roch. »Meine Assistentin kann das Gequarze nicht lassen. Ich hoffe, du bist Nichtraucherin. Ist besser für die Tiere.«
»Bin ich, ja«, versicherte Sophie und folgte ihm zögerlich.
»Wenigstens etwas. Wird vielleicht doch noch was mit unserer Zusammenarbeit«, rief Dvořák aus dem Zimmer heraus. »Komm rein, dann gucken wir, ob sich passende Termine finden lassen.«
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