[21] BEGEGNUNG IM WALD
NACHDEM ACE SEINEN Unmut über die Compsognathus-Brüder kundgetan und den Schwestern ein paar Ratschläge mit auf den Weg gegeben hatte, verabschiedete sich der Deinonychus-Hahn eilends und ließ Celine und Sophie im Wald zurück. Sie blickten ihm eine Weile fasziniert hinterher und studierten jeden seiner Schritte. Sein Gang erinnerte an den eines Kasuars, nur, dass dieser moderne Laufvogel keinen langen Schwanz hatte. Des Weiteren sahen die Arme des Raptoren wie Flügel aus, er war aber nicht in der Lage, diese, wie bei heutigen Vögeln, an den Oberkörper zu falten. Stattdessen hingen sie leicht gebeugt und mit den Handflächen zueinander gewandt unter seinem Körper. Die krallenbewehrten Hände dienten ihm dabei als Greifwerkzeug, mit dem er seine Beute packen konnte. Seine Sichelkralle klappte Ace nach oben, damit sie ihn beim Gehen nicht behinderten. Die weichen Federn, die seinen schlanken Körper bedeckten, bewegten sich spielend mit jeder Bewegung mit, während die größeren Schmuckfedern in dem wenigen Licht, welches das Dickicht durchdrang, schimmerten. Schließlich nahm der Saurier an Geschwindigkeit zu und verschwand hinter der nächsten Weggabelung. Außer Zwitschern, Fauchen und entferntes Brummen war nichts zu hören und bis auf abertausenden Insekten und Kleintieren auch nichts mehr zu sehen.
»Wir sind hier im Revier eines guten Freundes, hat er gesagt. Na, ich hoffe, dass Ace damit recht hat. Ich habe keine Lust, schon wieder um mein Leben fürchten zu müssen«, machte sich Sophie Sorgen.
»Ach, wir haben mit ihm doch einen echten Glücksgriff gemacht. Diese Diana wäre mit Sicherheit nicht so freundlich zu uns gewesen, wenn er nicht aufgetaucht wäre. Von seinen ungestümen Kindern ganz zu schweigen.«
»Oh, man. Die waren ja mal richtige kleine Biester. Denkst du, dass wir diesen Shuvosaurus noch mal sehen und Gelegenheit haben, ihm das Ei abzunehmen?«, war Sophie obendrein besorgt um den jüngsten Nachwuchs ihrer neuen Freunde.
Celine tätschelte ihrer älteren Schwester tröstend den Rücken. »Das Vieh wird seine Beute längst verspeist haben, schätze ich. Wahrscheinlich hat es selbst Junge im Nest, das es versorgen muss.«
»Cel, ich bitte dich! Bekomm jetzt nicht Mitgefühl für diese Kreaturen. Sie gehören zu Discordia und sind unsere Feinde. Wenn wir das nächste Mal einen von ihnen begegnen, dann müssen wir ihn ... ähm, ja. Was müssen wir denn nun eigentlich tun?« Sophie fasste sich an die Schläfen und kniff die Augen zusammen. »Oh, man. Ich weiß immer noch nicht, was genau wir hier eigentlich machen. Wie haben sich Poseidon und Co. unsere Rolle in diesem Spiel vorgestellt? Sollen wir Discordia und ihre Anhängsel freundlich bitten, die Dinosaurier auf dieser Seite des Flusses in Ruhe zu lassen und sich wieder auf die ihnen zugewiesenen Reviere zu begeben? Klar, wenn wir das sagen, dann gehorchen sie logischerweise, ohne mit der Wimper zu zucken, verbeugen sich untertänigst und ziehen von dannen.«
Celine konnte sich ein Lachen nicht verkneifen, als sie ihre verzweifelte Schwester sah. Dieselbe Schwester, die sonst immer einen guten Rat wusste.
»Wir werden ein weiteres Mal mit Poseidon oder diesem Hermes darüber sprechen. Sicher müssen wir zusammen einen Plan aushecken. Aber fürs Erste würde ich sagen, dass wir einfach die Augen offen halten, und wenn wir das nächste Mal einen Nicht-Dinosaurier hier sehen, der irgendein krummes Ding dreht, dann werden wir ihn uns vorknöpfen.«
»Du bist hoffnungslos optimistisch, ich sag es immer wieder.«
»Nein, bin ich nicht«, widersprach Celine ihrer Schwester. »Ich war nie zuvor so niedergeschlagen wie nach Omas Tod. Ich wollte am liebsten nicht mehr aus meinem Zimmer rauskommen, weil ich nicht damit rechnete, dass es außerhalb dessen noch etwas Schönes für mich geben könnte. Dann bin ich hier gelandet und kann sagen, dass ich das erste Mal seit ihrem Tod wieder glücklich bin. Auch, wenn ich das alles noch nicht rundum verstanden habe. Verwandt mit Mary Anning und Retter dieser Welt und all das Zeug. Aber ich beginne zu begreifen, wie einmalig unser Leben ist und, dass wir Oma Willi jetzt so nah sind, wie wir es selbst dann nicht waren, wenn wir als Kinder auf ihrem Schoß saßen und ihren Geschichten lauschten. Wir sind ein Teil ihrer Geschichte geworden und ich möchte das alles nicht mehr missen.«
Sophie schaute ihre Schwester verwundert an. So hatte sie die ganze Sache bislang nicht betrachtet, es eher als eine Bürde angesehen. Doch Celine hatte recht, es war auch eine Chance. Eine Möglichkeit, das zu vollenden, was ihre Großmutter nicht mehr konnte. Sie wäre sicher stolz auf ihre Enkeltöchter und diese Vorstellung machte Sophie Mut und Hoffnung, dass sie beide diese unmöglich scheinende Aufgabe erfüllen können.
»Hast du das auch gehört?« Celine riss Sophie aus ihren Gedanken, als sie hektisch nach ihrem Oberarm griff und den rechten Zeigefinger in die Luft streckte.
»Was gehört? Ich habe nachgedacht und nichts mitbekommen«, rechtfertigte Sophie ihre Unachtsamkeit.
»Schlimm genug, dass du in dieser Welt in Tagträumen versinkst. Wer immer dich fressen will, hat leichtes Spiel.«
»Laber nicht und sag endlich, was du gehört hast«, wurde die Vierzehnjährige ungeduldig, legte die Stirn in Falten und sah sich um.
»Da war es wieder«, tuschelte Celine und duckte sich instinktiv ab. »Dort vorne. Da kommt irgendwas auf uns zu«.
»Vielleicht dieser angebliche Freund, von dem Ace gesprochen hat?«, mutmaßte Sophie.
»Wenn, dann ist dieser nicht besonders groß«, stellte die Elfjährige fest, als sie eine grünliche Silhouette inmitten einiger Farnbüschel erkannte. »Da schau, ein kleiner ... ähm, was könnte das sein? Ein Hypsilophodon oder Nanosaurus?«
»Heißt Nanosaurus jetzt nicht Othnielia?«, verbesserte Sophie ihre Schwester.
»Richtig, das haben wir vor Kurzem gelesen. Der Name ist seit 1977 nicht mehr gebräuchlich. Echt verwirrend, manchmal, wenn man ältere Dino-Bücher liest. Aber irgendetwas von der Sorte könnte das sein, oder?«
»Ja, das passt schon. Geringe Größe. Schlanker Körperbau. Läuft auf den Hinterbeinen. Kleiner Kopf mit Schnabel. Pflanzenfresser«, fasste Sophie das äußere Erscheinungsbild des Tieres zusammen. »Auch die überwiegend grünliche Färbung spricht dafür, dass er sich gern in Pflanzen tummelt. Allerdings hätte ich gedacht, dass diese Tiere eher in Gruppen unterwegs sind. Was macht er hier ganz allein im Wald?«
»Ist ja nicht so, als wären wir auf eine Art erweiterte Bildungsreise. Vielleicht waren Othnielias Einzelgänger? Mich wundert hier nichts mehr.« Celine wollte sich vorsichtig umdrehen, um das etwa kniehohe Tier nicht zu verschrecken, da hatte ihre Schwester eine ganz andere Idee.
»Der ist richtig niedlich und von ihm geht ausnahmsweise mal keine Gefahr aus«, begann sie aufgeregt und mit hoher Stimmlage zu flüstern. »Wir könnten hingehen und versuchen, ihn zu streicheln. Ich würde gern herausfinden, ob diese pieksigen Dinger entlang seines Rückens eine Art Federn sind. Es ist doch möglich, dass er auch ein Wieder-Geborener ist, und wir könnten mit ihm reden. Er wäre sicher ein besseres Haustier, als diese quirligen Compies.«
»Sophie, ich denke nicht, dass das eine gute Idee -«
Ehe Celine ihre Bedenken äußern konnte, war Sophie bereits auf dem Weg zu dem Othnielia, einen kleineren Verwandten des berühmten Iguanodons.
»Seit wann sind die jüngeren Geschwister die Vernünftigeren?«, grummelte Celine vor sich hin, als sie ihrer Schwester verhalten durchs Unterholz folgte.
»Vernünftig? Du dachtest vorhin, die Deinonychus wären harmlos, also erzähl mir nichts von ... ups.«
Das Othnielia hob erschrocken den Kopf und setzte im selben Moment zur Flucht an. Doch das sollte nicht das Einzige bleiben, was in diesem Augenblick passierte. Während sich der kleine Dinosaurier nahezu lautlos entfernte, bemerkten die Mädchen ein weiteres, lauteres Geräusch, welches sich in ihre Richtung bewegte, begleitet von einem tiefen Knurren.
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