[19] Das gestohlene Ei
»DA SEID IHR ja endlich. Besonders flott könnt ihr ja nicht laufen, mit diesen langen Beinen, was?« Der bunte Raptor legte seinen Kopf schief, als die Mädchen zurück auf die Lichtung traten. Diese atmeten auf, als sie merkten, dass er ihnen anscheinend nicht böse gesinnt war.
»Du hast gut Reden. Sohlengänger sind eben etwas behäbiger unterwegs«, wollte Sophie diese Anmerkung nicht auf sich sitzen lassen. »Was ich allerdings sehr faszinierend finde, also eure Geschwindigkeit und so«, fügte sie eilig hinzu, als sie bemerkte, dass die anderen Raptoren leise knurrten.
»Die können euch nicht verstehen. Die sind alle Erstgeschlüpfte.« Der Bunte winkte mit seinem Schwanz abfällig in Richtung seiner Kameraden.
»Erst-Geborene, meinst du. Dann bist du ein Wieder-Geborener! Bedeutet das, dass du uns nichts antust? Wir wurden gewarnt, vorsichtig zu sein bei Fleischfressern.« Sophie fasste Mut, auch weil sie merkte, dass ihre jüngere Schwester keine Angst zu haben schien. Diese Blöße wollte sie sich natürlich nicht geben.
»Wir bevorzugen den Begriff Erstgeschlüpfte, um uns von ihnen zu unterscheiden. Wieder-Geborene – das klingt bescheuert.« Der Bunte sträubte und schüttelte angewidert sein Gefieder.
»Da hast du irgendwie recht«, schmunzelte Celine. »Das hört sich eher nach Zombie an. Wiedergänger und son Zeug. «
»Keine Ahnung, was Zombies sind, aber ihr werdet schon wissen, was ihr meint. Kommen wir nun zu euch«, fuhr der etwa zwei Meter lange Raubsaurier fort und musterte die Mädchen von oben bis unten. »Ihr seid also diese beiden besonderen Tiere, die aus einer anderen Welt kommen, um die unsere zu retten?«
»Tiere wäre nicht das Wort, was ich benutzt hätte, um uns vorzustellen, aber ja. Wir sind Celine und Sophie Krauss. Unsere Oma war Wilhelmine. Sie ist einigen von euch immer noch ein Begriff, glaube ich«, erklärte Sophie.
»Das kann sein. Wir leben schnell und sterben jung. Für uns sind diese Geschichten rund um die große Wilhelmine mehr oder weniger das, was ihr als Märchen bezeichnet. Euer Erscheinen hat die meisten Dinos ganz schön aus der Fassung gebracht.«
»Oh, wirklich? Wir hatten eher das Gefühl, dass man uns sehnlichst erwartet hat und froh darüber ist, dass wir euch vor dieser Discordia und ihre Mannen schützen.«
»Dann fangt am besten sofort damit an.« Eine bissig klingende Stimme drang in die Köpfe der Mädchen und unterbrach Sophie wirsch.
Als sie sich umdrehte, sah sie einen weiteren Raptoren aus dem Urwald auf die Lichtung kommen. Dieser war etwas kleiner und weniger prächtig gefärbt als jener, mit dem sie gerade Bekanntschaft schlossen.
»Diana, hast du den Eierdieb erwischt?«, fragte der Bunte das weibliche Tier, welches den Schwestern einen missgünstigen Blick zuwarf.
»Sehe ich so aus?«, fauchte die Raptorin zurück, woraufhin sich die Federn des Männchens eng an seinen Körper legten und er dadurch kleiner und schlanker wirkte. Auch das lässt sich bei Vögeln beobachten, die sich unwohl oder ängstlich fühlen.
»Verzeihung, ich wollte nicht ...«
»Ja, ja, hör auf zu zwitschern und erklär den beiden hier lieber, was sie zu tun haben«, unterbrach sie ihren Kameraden.
»Dürften wir erfahren, was los ist?«, fragte Celine eingeschüchtert.
»Oh, selbstverständlich. Wie ungehobelt von mir«, wandte sich der weibliche Raptor den Mädchen herablassend zu. »Mein Name ist Diana. Angenehm, angenehm. Der unnütze Kerl neben mir ist Ace. Er hatte nur eine Aufgabe. Hört ihr? Nur eine Aufgabe! Er sollte auf unser Nest aufpassen.« Die letzten Worte spuckte Diana ihrem Kameraden ins Gesicht. Ace duckte sich unterwürfig und machte eine schuldbewusste Miene.
»Ähm, ja und weiter?«, drängte Celine das Weibchen, ihre Geschichte zu Ende zu erzählen.
»Das wisst ihr ganz genau«, fauchte Diana zur Antwort. »Ihr standet doch noch daneben und habt dem Mistvieh hinterher geguckt, wie zwei Stegos, wenn es donnert.«
»Welchem Vieh? Entschuldige, wir können nicht ... doch!« Celine schien auf einmal zu wissen, wovon Diana sprach und schlug sich gegen die eigene Stirn. »Sophie, erinnerst du dich an das komische Reptil mit dem Ei, das wir gesehen haben, als wir angekommen sind?«
»Dieser, wie sagtest du? Shuvosaurus?«
»Ja, genau. Der hatte ein hellblaues Ei bei sich. Mit braunen Punkten«, erinnerte sich Celine und sah Diana fragend an.
»Ach, guck an. Und wie sieht das Ei eines Deinonychus aus?«, fragte die Saurier-Dame weiter und bemühte sich dabei nicht, ihren Tonfall zu mäßigen.
»Äh. Hellblau mit braunen Punkten? Zufällig?«, stammelte Sophie und zuckte mit den Schultern.
»Ganz recht, und die von Shuvosauriern sehen völlig anders aus. Also sagt mir, warum habt ihr diesen Dieb nicht aufgehalten, als er mit meinem Ei geflohen ist?« Diana gab knurrende Laute von sich und kam den Mädchen so nah, dass sie ihren Atem in ihrem Gesicht spüren konnten.
»Diana, beruhige dich«, mischte sich Ace in das Gespräch ein. »Sie sind noch nicht oft hier gewesen. Vielleicht wussten sie nicht, dass es dein Ei war.«
»Papperlapapp. Wenn sie selbst einfachste Dinge nicht wissen, dann sehe ich keinen Grund, warum Poseidon und Hermes so große Hoffnungen in sie setzen. Der Shuvosaurus war ein Anhänger von Discordia und er hatte mein Ei. Es war ihre Pflicht, das Vieh aufzuhalten. Wir hatten doch nur dieses eine.«
Diana beruhigte sich langsam und schloss die Augen. Ace war es, der das Gespräch wieder aufnahm und sich beschwichtigend an Sophie und Celine wandte.
»Ihr müsst das Verhalten meiner Partnerin entschuldigen. Es ist die dritte Brut in Folge, bei der die meisten Eier unbefruchtet sind. Diesmal ist nur ein Ei dabei, in dem Leben heranwächst und dieses wurde gestohlen. Wenn das so weitergeht, können wir nicht überleben.«
Kurzes Schweigen erfüllte die Luft, bevor Sophie zu antworten begann. »Das tut uns unheimlich leid. Wir sind erst das zweite Mal hier in eurer Welt und wir wissen noch sehr wenig über euch und unsere Aufgabe. Hätten wir gewusst, dass es euer Ei ist, dann hätten wir den Dieb geschnappt und ... Bitte, entschuldigt uns.«
»Es ist wohl nicht mehr zu ändern. Doch sehe ich, im Gegensatz zu Diana, durchaus Hoffnung in eurem Auftauchen. Sobald ihr erst mal wisst, was zu tun ist und -«
»Ace, lass gut sein. Wenn die Eier wenigstens alle befruchtet wären ...«, unterbrach Diana ihren Gefährten und ging mit gesenktem Kopf zu ihren Artgenossen, die das Geschehen ein paar Meter abseits beobachteten.
»Das ist nicht meine Schuld!«, versuchte sich Ace für die Misserfolge zu rechtfertigen. »Es ist der Stress. Es ist Discordia. Kommt mit, ihr beiden. Ich erkläre euch alles bei einem gemütlichen Spaziergang. Diana, geht ihr zurück zum Nest?«
»Von mir aus. Ehe unsere Jüngsten Discordia auch noch zum Opfer fallen.« Diana und die übrigen Raptoren flitzten ins Unterholz, während Ace die Schwestern auf einen Marsch durch den Urwald führte.
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