[17] Bad News
»KINDER, WIR SIND zuhause!«
Es war bereits später Nachmittag, als Celines Eltern von der Arbeit und dem anschließenden Einkaufen zurückkamen. Normalerweise ertönt auf diese Begrüßung hin seit etwa anderthalb Jahren ein mies-launiges »Wir sind keine Kinder mehr!«, aber heute war dem nicht so. Nadine Krauss und ihr Ehemann Wolfgang Winter fanden eine stille und dem Anschein nach menschenleere Wohnung vor.
»Sie trauern noch, Wolfgang. Es wird eine Weile dauern, bis wieder ein wenig Normalität einkehrt. Geben wir ihnen die Zeit und verzichten ein bisschen länger auf diese provokante Begrüßung«, schlug Nadine ihrem Mann vor, als sie die Einkäufe gemeinsam in die Küche brachten.
»Ich hatte den Eindruck, dass sie in den vergangenen Tagen ein wenig aufgeblüht wären«, war sich Wolfgang sicher und öffnete die Küchentür. »Vielleicht habe ich mich auch geirrt«, ergänzte er verunsichert, als er die Scherben der Blumenvase auf dem Küchentisch entdeckte.
»Ach, Gott sei Dank habe ich jetzt einen Grund, diese hässliche alte Vase wegzuschmeißen«, lachte wider Erwarten seine Frau und stellte die Taschen beiseite.
»Ich dachte, das ist ein liebgewonnenes Erbstück deiner Tante und besonders wertvoll?«, erkundigte sich Wolfgang mit einem provokanten Grinsen im Gesicht.
»Großtante Hermine und ja, es ist echtes Meißner Porzellan aber das einzige, was daran jemals schön war, waren die Blumen, die man hineinsteckt«, kicherte Nadine und entdeckte die halb verwelkten Chrysanthemen in einer schlichten Glasvase auf der Küchenzeile. »Ich denke, deren Zeit wäre dann auch abgelaufen.«
»Meinst du, es ist etwas passiert mit den Mädchen?«, fragte Wolfgang schließlich nach den Umständen, die der alten Vase das Dasein gekostet hatten. »Wir sollten lieber gucken, ob sie überhaupt zuhause sind. Sie haben nicht mal Licht im Wohnzimmer gemacht, wie sie es sonst tun, bevor wir nachhause kommen.«
»Ich gehe mal in ihren Zimmern nachsehen. Ein bisschen verdächtig ist diese Stille ja schon«, gab seine Frau ihm schließlich recht. »Vor allem jetzt, da ja so ein unbekanntes und höchst gefährliches Monster sein Unwesen in der Stadt treibt«, ergänzte sie schmunzelnd.
»Was für ein Monster?« Sophie stand plötzlich in der Küchentür und sah ihre Eltern fragend an.
»Ah, Sophie! Ihr seid also doch zuhause. Wir hatten uns schon Sorgen gemacht«, begrüßte Wolfgang seine älteste Tochter.
»Nein, nein. Kein Grund zur Sorge, uns geht es gut. Wir haben uns einen Film angesehen und die Zeit vergessen. Aber was meintet ihr eben mit Monster in der Stadt?« Sophie ließ nicht locker und warf ihrer jüngeren Schwester, die ebenfalls zur Küche kam, einen besorgten Blick zu.
»Das haben sie vorhin im Radio durchgesagt«, erklärte ihre Mutter, während sie das Gemüse auspackte. »In dem kleinen Park in der Nähe der mehrspurigen Schnellstraße soll sich irgendein Vieh herumtreiben und Leute beißen. Keiner hat es bislang gesehen, aber erste Opfer haben sich und ihre Bisswunden bereits beim Amtstierarzt vorgestellt. Wer weiß, wer sich da wieder seines lästig gewordenen Haustieres entledigt hat?«, schmunzelte die 37-Jährige und schloss das Gemüsefach im Kühlschrank.
»Ja, bestimmt irgendein exotisches Getier, das man ohnehin nicht in Menschennähe halten sollte«, gab Wolfgang seinen Senf dazu.
»Wetten, dass dann morgen die Zeitungen wieder voll sind mit dem Thema? Die machen doch immer aus einer Mücke einen Elefanten oder Dinosaurier«, spekulierte Nadine weiter und packte einen grünen Plüsch-Dino aus.
»Was? Wieso Dinosaurier?«, fragte Celine und zog die Stirn kraus.
»Deshalb! Schaut mal, den habe ich für euren Cousin Max gekauft. Er hat nächste Woche Geburtstag, was wir fast vergessen hätten.« Sophie und Celine betrachteten stumm den Stoff-Tyrannosaurus, den ihre Mutter hin und her wackeln ließ und dabei Knurrgeräusche von sich gab.
»Ich hoffe, die Biester sind noch aktuell bei den heutigen Kids«, sagte Wolfgang und legte vier Hühnerkeulen ins Gefrierfach.
»Dinos werden nie langweilig«, antwortete Celine verhalten und wechselte mit ihrer Schwester stumme Blicke.
»Wisst ihr was? Es wäre doch schön, wenn ihr beide eurem Cousin das Geschenk persönlich überreichen könntet«, kam es Nadine in den Sinn und sie schaute lächelnd von dem Plüsch-Dino zu ihren Töchtern und wieder zurück.
»Du meinst, wir sollten nach Groß Wiesenstedt zu meinem Bruder Stephan fahren? Hättet ihr darauf Lust?«, fragte Wolfgang und schaute seine Mädchen an.
»Ähm, ja. Nein! Ich meine, wir waren so lange nicht mehr da«, versuchte Sophie den Familientrip im Keim zu ersticken. »Max kennt uns sicher gar nicht mehr und hat Angst vor uns.«
»Umso wichtiger ist es, dass wir uns dort mal wieder blicken lassen«, stellte Nadine fest und schaute ihren Mann bittend an. »Übernächstes Wochenende wäre doch gut oder Wolfgang?«
»Du meinst den 18. November?«, fragte der Vierzigjährige nach und fuhr mit dem Finger über das Kalenderblatt neben dem Kühlschrank. »Ja, das dürfte kein Problem sein. Ich rufe Stephan morgen mal an und frage nach. Seid ihr dabei, Mädels?«
»Ja, klar. Ich kann mir nichts Besseres vorstellen, als mit einem Achtjährigen mit Plüsch-Dinos zu spielen«, antwortete Sophie und verdrehte die Augen.
»Dann ist er ja schon neun Jahre alt und ihr mögt doch Dinosaurier. Ich bin mir sicher, dass euch das auf andere Gedanken bringen wird. Ihr könnt nicht ewig Trübsal blasen.« Für Nadine stand der Plan offenbar fest und war in Stein gemeißelt. Auf eventuelle Einwände ließ sich die Großhandelskauffrau ohnehin nur selten ein, wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte.
»Mal schauen. Wir gehen erstmal wieder in unsere Zimmer. Wir sehen uns nachher beim Abendessen.« Sophie packte Celine am Arm und verschwand mit ihr aus der Küche.
»Das hat uns gerade noch gefehlt. Als hätten wir nicht schon genug um die Ohren, sollen wir jetzt kleine Kinder bespaßen«, beklagte sich die Vierzehnjährige dort über die Pläne ihrer Mutter.
»Ja, dann auch noch in dieses Kaff Groß Wiesenstedt«, stimmte Celine in den Missmut ihrer Schwester ein. »Ich weiß gar nicht, warum dieses Nest den Beinamen Groß trägt. Als ob da jemals etwas Großartiges los wäre.«
»In Eichenstedt ist genauso wenig los. Hab gehört, dass die da demnächst einen Radiosender aufmachen wollen. Lächerlich. Über was sollen die denn dann berichten?«
»Tja, so gefährliche Monster wie hier bei uns gibt es dort ganz sicher nicht. Höchstens Vampire, so scheintot, wie es da ist«, warf Celine sarkastisch ein.
»Was uns zu unserem größten Problem zurückführt«, seufzte Sophie und betrachtete eines der Dinosaurier-Poster in Celines Zimmer. »Wir werden Hinz und Kunz niemals wiederfinden. Das gibt ganz bestimmt eine Menge Ärger, wenn wir zu den Dinos zurückkehren.«
»Und wenn wir es einfach nicht tun?«, fragte Celine und betrachtete den Opal an ihrer Kette.
»Wenn wir was nicht tun, Cel?«
»Nicht mehr dorthin zurückkehren«, antwortete die Elfjährige und deutete auf den Edelstein. »Wir können doch selbst entscheiden, ob wir jede Nacht hingehen oder nicht. Dann bleiben wir heute Nacht zuhause und versuchen, die Compies erst wiederzufinden, bevor wir uns dort erneut blicken lassen.«
»Gute Idee. Am besten gehen wir niemals wieder dorthin. Ich glaube, ich bin für derartige Dinge nicht geschaffen.«
»Das können wir nicht machen, Soph. Die verlassen sich auf uns und unsere Hilfe.«
»Schöne Hilfe sind wir, das hat man ja gesehen.«
»Vielleicht gehen wir doch zu Poseidon und fragen ihn, was wir machen können. Immerhin hat er uns die beiden aufgehalst.« Widerwillig stimmte Sophie in den Vorschlag ihrer Schwester ein und ging in ihr Zimmer.
Später beim Abendessen sahen die Schwestern weitere Berichte über das mutmaßliche Monster vom Teich im Fernsehen. Wie nicht anders zu erwarten, kam dabei auch der Reptilienexperte Pavel Dvořák zur Sprache. Er stellte Vermutungen auf, dass es sich bei diesem unbekannten Tier um eine Art Echse handeln könnte, wollte jedoch nicht näher ins Detail gehen. Den Opfern ginge es den Berichten zufolge gut. Die Wunden hätten sich zwar stark entzündet, wurden zum Glück aber zeitnah medizinisch versorgt, sodass keine Folgeschäden zu erwarten seien.
Celine und Sophie entschlossen anschließend beim Zähneputzen, dass sie sich der Verantwortung stellen wollen und in die Dino-Welt reisen werden, um Poseidon oder einem der anderen Saurier von dem Vorfall zu berichten.
Um kurz vor Mitternacht, nachdem ihre Eltern zu Bett gegangen waren, nahmen sie die Opale in die Hand und rieben daran, bis sie erneut von einem lila-bunten Lichtgewirr umschlossen wurden.
»Oh, wow. Daran werde ich mich niemals gewöhnen«, sagte Sophie zu ihrer Schwester, als sie sich auf einem umgefallenen, moosbewachsenen Baumstamm wiederfanden.
»Aber dieses Mal sind wir wenigstens zusammen am selben Ort gelandet«, zeigte sich Celine zufriedener mit ihrer zweiten Reise im Vergleich zur Ersten.
»Schön und gut. Bleibt die Frage, wo genau wir gelandet sind. Das ist nicht das Flussufer, an dem wir letztens waren. Wir sind eher mitten im Dschungel. Dort, wo ich eigentlich nicht unbedingt ohne Begleitschutz hin wollte.« Sophie blickte sich ängstlich um und lauschte jedem Geräusch um sie herum.
»Irgendwen werden wir schon finden«, zeigte sich Celine optimistisch.
»Davon bin ich überzeugt. Die Frage ist nur, wen wir treffen werden. Vergiss nicht, dass es hier auch dinomäßige Dinos gibt, mit denen wir nicht sprechen können«, führte Sophie ihre Bedenken weiter aus. »Wenn nur Hinz und Kunz hier wären. Sie könnten uns vorwarnen, wenn etwas nicht stimmt.«
»Unglaublich, wie schnell sich der Vorfall am Teich in den Nachrichten herumgesprochen hat«, dachte Celine laut nach. »Ich hoffe, dass das keinerlei negative Auswirkungen hat.«
»Wenn die beiden niemand sehen kann? Ich denke, dass das Ganze so schnell wieder einschläft, wie alle anderen Schreckensmeldungen. War doch bei BSE und son Kram auch so. Irgendwann hört man nichts mehr davon.« Sophie nickte, um ihre Aussage zu bekräftigen, aber Celine kannte ihre Schwester besser und wusste, dass auch sie ihre Zweifel hatte.
»Lass uns ein paar Schritte gehen und hoffen, dass die Opale uns nicht dorthin geschickt haben, wo es sofort gefährlich wird. Das wäre doch widersinnig, meinst du nicht?«, schlug Celine schließlich vor und ging vorsichtig voraus.
»Ich hoffe, das sieht der Opal genau so.«
Die Mädchen sollten nicht weit kommen, als sie durch ein hektisches Rascheln im Unterholz aufgeschreckt wurden. Ängstlich suchte Celine hinter dem Rücken ihrer Schwester Schutz, als ein etwa 1,80 m großes zweibeiniges, schlankes Tier mit einem langen Hals und Schnabel aus dem Farn heraussprang. In seinen kleinen Händen trug es zwei schmale hellblaue Eier mit braunen Flecken. Das Geschöpf blieb kurz vor den beiden stehen, gab einen quiekenden Ton von sich und rannte dann unbehelligt weiter.
»Oh, zum Glück nur ein ganz Kleiner«, atmete Sophie erleichtert aus.
»Mhm, das war aber kein Dinosaurier, glaube ich«, stellte Celine fest, die dem Tier misstrauisch hinterher sah.
»Was denn sonst?«
»Ich habe mich zuhause nochmal mit diesen triassischen Echsen befasst und ich glaube, das da gerade war ein Shuvosaurus«, erklärte Celine ihre Vermutung. »Die sind eher mit Krokodilen verwandt und stehen damit unseren Feinden näher als unseren Freunden.«
»Und die Eier, die es trug? Denkst du, die gehören einem Dinosaurier und er hat sie gestohlen?«, fragte Sophie.
»Vorstellbar. Immerhin hieß es ja, dass diese triassischen Reptilien die Dinos hier terrori-«
Celine wurde von einem weiteren Rascheln abgelenkt, welches aus derselben Richtung kam, wie das vorherige. Jedoch klang es etwas lauter, was auf ein größeres Tier hindeutete.
»Sollen wir lieber wegrennen?«, fragte Sophie und war bereits in Fluchtposition, als sich die Farne abermals öffneten und ein weiteres Reptil hervorkam.
»Zu spät«, hauchte Celine, als sie den etwa drei Meter langen gefiederten Saurier mit den sichelförmigen Klauen an beiden Füßen sah.
»Das ist kein Raptor, oder?«, flüstere Sophie ihrer Schwester zu und nahm sie schützend näher zu sich heran.
»Doch, ist es«, lautete Celines ernüchternde Antwort. »Wegrennen wäre unser sicherer Tod.«
»Und was sollen wir stattdessen machen?«
»Nichts?«
»Nichts? Hast du mal diese Klauen gesehen?«
»Aber es tut nichts. Es schaut nur.«
»Celine, das ist ein Raubtier. Es wartet nur den richtigen Moment ab und dann sind wir geliefert.«
»Ja, und dieser Moment wäre der, indem wir anfangen zu fliehen.«
Celine ließ sich von ihrer Schwester nicht zu einer Flucht überreden und blieb wie angewurzelt vor dem gefiederten Raubsaurier stehen. Dieser stellte die Federn an seinem Hinterkopf auf und betrachtete die Mädchen mit schief gelegtem Kopf. Dann stieß er einen krähenähnlichen Ruf aus und steuerte auf sie zu.
»Egal, was du laberst. Ich renne, und zwar wie der Teufel!«, rief Sophie und rannte mit Celine im Schlepptau durch das dichte Unterholz.
Doch weit sollten sie auch dieses Mal nicht kommen. Auf der nächsten Lichtung, die sie erreichten, warteten bereits zwei weitere Raptoren auf ihre potentiellen Opfer.
»Das war's dann wohl«, murmelte Sophie atemlos, als sie den tödlichen Jägern in die Augen sah.
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