[16] Der Reptilienfänger
DER MANN VOM Ordnungsamt suchte buchstäblich jeden Zentimeter rund um den Teich ab. Er funzelte mit einer Taschenlampe unter jeden Stein und schaute unter jeder Bank, jeder hervorstehenden Wurzel, ja, man könnte sagen, unter jedem Grashalm nach. Jedoch erkannten Celine und Sophie schnell, dass er nichts finden konnte, was auf die Schilderungen der Parkbesucher passen würde. Von ihrem Standpunkt außerhalb der Parkgrenzen sahen die Schwestern, dass Hinz noch immer eingerollt auf dem Baum, hoch über dem verzweifelt suchenden Mann schlummerte.
»Er wird den Park bestimmt gleich wieder freigeben, wenn er nichts Gefährliches findet«, war sich Celine sicher.
»Hoffentlich. Irgendwie müssen wir dieses Tier da wieder runter holen«, sagte Sophie und schlang ihre Arme fest um ihren Oberkörper. »Wie sollen wir Poseidon sonst erklären, dass wir bereits an unserem ersten Tag daran gescheitert sind, auf einen winzigen Dino aufzupassen? Er wird uns danach definit nicht mehr mit der anspruchsvollen Aufgabe betrauen, auf eine ganze Welt voller Dinosaurier achtzugeben.«
Sophie trat unruhig auf der Stelle herum, als sie ein Auto bemerkte, welches am Rand des Parks anhielt. »Siehst du den Lieferwagen dort?«, fragte sie ihre jüngere Schwester.
»Ja, was ist mit dem? Sitzen da noch mehr Dinos drin?«
»Mach dich nicht lächerlich, Cel. Lies lieber, was da drauf steht.« Sophie deutete mit einer Kopfbewegung zu dem dunkelgrünen Ford Transit, aus dem gerade zwei Personen ausstiegen.
REPTILIENAUFFANGSTATION war in Großbuchstaben auf den Flanken und dem Heck des Wagens zu lesen. Auf der Motorhaube waren zwei Schlangen, eine Schildkröte und ein Chamäleon abgebildet, die den Namen des Eigentümers umrahmten.
»Das ist dieser Dvořák, den sie letztens im Fernsehen gezeigt haben«, erinnerte sich Celine und verzog angewidert das Gesicht. »Der kam mir nicht besonders sympathisch vor, wenn ich ehrlich bin, und das lag nicht an seinen tausend Piercings und dem Iro.«
Sophie, die seit einer Weile mit dem Gedanken spielte, sich ein Nasenpiercing verpassen zu lassen, ignorierte den letzten Satz ihrer Schwester, den sie richtigerweise als einen Seitenhieb auf ihre Pläne verstand. »Mir auch nicht. Irgendwie hatte ich bei dem das Gefühl, dass er manche Reptilienhalter nur deshalb beim Veterinäramt anschwärzt, weil er deren Tiere gern in seiner Sammlung hätte«, stimmte sie ihrer Schwester beim Thema Pavel Dvořák zu. »So wie der mit seinen High Contrast Albino und Blue Eyed Leucistic Königspythons angegeben hat. Voll der Schnösel«, imitierte die Vierzehnjährige den Reptilienexperten überspitzt.
»Vergiss nicht die Calico Pastel Woma und Butter Ghost«, amüsierte sich Celine ebenfalls über die außergewöhnlichen Farbschläge von Dvořáks Riesenschlangen.
»Ja und vor allem die Cinnamon Superstripe, der Superheld unter den Würgeschlangen, könnte man sagen«, fuhr Sophie mit ihrer Dvořák-Imitation fort. »Na ja, hübsch sind diese Viecher ja und ich glaube, er und seine Gothik-Freundin scheinen bereits das nächste Sammelstück zu wittern. Schau mal.«
Die Schwestern beobachteten, wie Pavel Dvořák und seine dunkel gekleidete Assistentin sich mit Fangnetzen, Schlangenhaken, zwei kleinen Mülltonnen und einem schwarzen Koffer bewaffneten und zu dem Mann vom Ordnungsamt gingen. Dort begrüßten sie diesen und ließen sich die Situation erklären. Dann zog der Ordnungsamtsmitarbeiter einen Zettel aus seiner Jackentasche.
»Was glaubst du, zeigt er denen jetzt?«, fragte Celine, die angestrengt ihre Augen zusammenkniff und die Hände an die Ohren hielt, um besser sehen und hören zu können.
»Ich kann nur raten und vermute mal, dass das eine Skizze ist, die die Bisswunden bei dem Jungen und der Frau zeigt.« Sophies Gesichtsausdruck wurde ernst. »Oh, man. Das kann was werden.« Die Vierzehnjährige biss sich angespannt auf den Knöchel ihres rechten Zeigefingers. »Ich denke, sie können nicht ahnen, dass es sich dabei um Dinosaurierbisse handelt. Woher auch? Aber wenn sie den Abdruck keinem anderen bekannten Tier zuordnen können, wird die Geschichte sicher die Runde machen.«
»Mal den Teufel nicht an die Wand«, versuchte Celine ihre Schwester zu beruhigen. »Ich habe die Wunde der Frau gesehen. Da waren ein paar winzige Löcher in ihrer Hand. Ich wusste, dass es ein Biss war, aber andere Leute könnten sonst was darin erkennen. Vielleicht Insektenstiche.«
»Dein Optimismus ist sowas von anstrengend.« Sophie schüttelte mit dem Kopf und konzentrierte sich dann wieder auf das Geschehen rund um den Teich.
Die beiden Reptilienfänger suchten das Gelände mittlerweile mit einem Gerät ab, das wie ein kleiner Bildschirm aussah.
»Verdammt, sie haben einen Wärmesensor«, erkannte Sophie die Apparatur. »Wissen wir eigentlich, ob Sensoren und ähnliche Geräte unsere Dinos aufspüren können?«
»Nein, woher denn? So etwas gab es nicht bei den Dinosauriern. Damals nicht und heute auch nicht«, antwortete Celine. »Ich denke nicht, dass Poseidon sich über derartige Dinge je Gedanken gemacht hat. Denkst du, dass das Gerät Hinz ausfindig machen kann?«
»Möglich wäre es. Er ist ein Warmblüter und müsste sich deutlich von der Umgebungstemperatur abheben auf der Anzeige. Wenn sie denn bei ihm funktionieren sollte, was wir nicht hoffen.«
»Hey, ihr da drüben!«, wurden die Schwestern von einem wütenden Ruf unterbrochen. »Ihr seid ja immer noch da. Hatte ich euch nicht gesagt, dass ihr hier verschwinden sollt? Los, haut ab!« Der Mann vom Ordnungsamt sah wütend aus, als er die Mädchen entdeckt hatte, und wedelte mit den Armen, um sie von ihrem Platz zu vertreiben, wie ein paar Gänse.
»Aber wir stehen außerhalb des Parks«, versuchte, sich Celine zu rechtfertigen, doch der Verteidiger von Recht und Ordnung ließ nicht mit sich verhandeln.
»Hier ist irgendein bissiges Tier unterwegs. Wollt ihr gebissen werden? Nein? Na, dann tollt euch gefälligst!«
»Komm, Celine. Ehe wir Ärger bekommen, sollten wir lieber gehen. Der Dvořák guckt auch schon so grimmig zu uns rüber. Ich hab keine Lust, mit dem aneinanderzugeraten.« Sophie stupste ihre Schwester an, doch diese blieb hartnäckig.
»Und was wird aus Hinz? Wir können ihn nicht einfach hier zurücklassen. Was ist, wenn sie ihn wirklich finden und ...«
»Celine, komm jetzt! Der Dvořák kommt hier her. Das Einzige, was wir tun können, ist, uns verdächtig zu machen. Also ab!«
Widerwillig wendete sich Celine von der Szenerie und somit auch von ihrem Compsognathus Heinrich ab, der so tief schlief, dass er den ganzen Wirbel unter seinem Baum nichts mitbekam. Pavel Dvořák blickte den Mädchen eine Weile skeptisch hinterher, bevor er weiter nach dem unbekannten Tier suchte, welches sich in dem üblicherweise friedlichen Park aufhalten soll.
Kaum waren Celine und Sophie außer Reichweite, sahen sie hinter der nächsten Straßenbiegung Blaulicht aufleuchten.
»Kommen die jetzt schon mit der Polizei wegen dieser Sache oder was?«, fragte sich Sophie und suchte vergebens nach einem anderen Grund für dieses Aufgebot.
»Ich denke schon. Wenn irgendwo was Gefährliches herumläuft, reicht das Ordnungsamt bestimmt nicht aus und der Fall wird weitergeleitet«, überlegte Celine.
In diesem Moment ertönte bereits das Martinshorn und eine Durchsage erklang durch die Straße.
»Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei! Ich wiederhole: Hier spricht die Polizei! Wir bitten Sie, dieses Gebiet weiträumig zu umgehen und sich gegebenenfalls in einen geschlossenen Raum zurückzuziehen. Bewahren Sie Ruhe! Ich wiederhole: Bitte verlassen Sie dieses Gelände umgehend und halten Sie sich in geschlossenen Räumen auf. Achten Sie auf weitere Anweisungen durch die Polizei oder das Ordnungsamt.«
Einige Menschen eilten kurz darauf in Richtung Straßenbahnhaltestelle und man konnte nervöses Gemurmel hören. Zum Glück waren um diese Zeit nicht allzu viele Leute unterwegs und es kam zu keiner panischen Massenflucht.
»Da haben wir ja was ausgelöst«, sagte Celine und blickte sich interessiert um.
»Findest du das etwa noch interessant? Es ist immerhin dein Dino, der uns das eingebrockt hat«, knurrte Sophie.
»Moment mal! Kunz ist dein Dino!«, setzte sich Celine zu Wehr.
»Aber deiner hat nichts Besseres zu tun, als in einen Dornröschenschlaf zu fallen. Ohne das hätten wir sie längst beide eingesammelt und wären von hier verschwunden.« Sophie war stinkig, doch die Situation sollte noch verzwickter werden, als der Polizeikonvoi näher kam und ein weiteres Mal das Martinshorn aufheulen ließ.
»Kunz! Hey, bleib hier! Verdammte Scheiße! Jetzt rennt das Vieh auch noch davon.«
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