[14] Lilo

EIN KÜHLER WIND wehte und hinterließ auf Sophies schweißnasser Stirn ein frostiges Gefühl. Sie strich sich mit dem Ärmel ihrer dunkelgrünen Jacke übers Gesicht und atmete schwer ein und aus. Der Lärm der Schnellstraße wirkte an diesem Tag noch viel bedrohlicher auf die Vierzehnjährige, als er es üblicherweise tat. Eigentlich kam ihr in diesem Moment alles um sie herum gefährlich vor. Nicht für sich und auch nicht für ihre jüngere Schwester, sondern für die beiden kleinen Dinosaurier, die ihnen abhandengekommen waren und die von keinem anderen Menschen gesehen werden konnten. War das gut oder schlecht? Konnten Hinz und Kunz auf diese Weise weniger schnell in Schwierigkeiten geraten oder versetzten sie gerade deshalb Land und Leute in Aufregung? Wo waren sie überhaupt? Noch immer in der Straßenbahn oder hatten sie mit den Mädchen gemeinsam die Flucht ergriffen? Sollte Letzteres der Fall sein, dann könnten sie mittlerweile überall und nirgendwo sein.

»He, ihr zwei!« Eine unbekannte Stimme ließ Sophie und Celine aus ihren Gedanken aufschrecken.

Eine ältere Dame stand neben ihnen. Sie trug eine große Brille mit dickem Plastikrand und hatte bläulich getönte ergraute Löckchen, die sie mit einem flauschigen Stirnband halb verdeckt hatte. Celine erkannte die Frau sofort. Sie saß ebenfalls in der Bahn, aus der sie gerade geflüchtet waren, und muss wohl hinter ihnen ausgestiegen sein.

»Oh, bitte glauben Sie uns«, begann Celine sich unverzüglich zu entschuldigen, noch bevor die Fremde ein Wort sagen konnte. »Wir hatten wirklich nicht vor, einen der Fahrgäste zu bestehlen. Wir haben etwas gesucht und ...«

»Keine Sorge, mein Kind. Ich glaube euch«, sagte die Alte mit einem milden Lächeln. »Ihr seht mir nicht aus, wie diese ganzen Rowdys, die abends mit Bierflaschen in der Bahn sitzen und ältere Leute anpöbeln. Manche von uns reagieren anscheinend etwas über, wenn sie Jugendliche sehen. Aber ich bin nicht der Meinung, dass die Jugend von heute verdorbener ist, als wir es damals waren. Wenn ihr wüsstet, was wir früher alles angestellt haben, als Wilhelmine und ich noch jung waren.« Ein heiseres Lachen entfloh der älteren Dame und sie zupfte verlegen ihr geblümtes Halstuch zurecht.

»Entschuldigung? Sagten sie Wilhelmine?«, fragte Sophie neugierig nach. »Unsere Oma hieß auch Wilhelmine und müsste etwa in ihrem Alter gewesen sein. Wilhelmine Krauss.«

»Nein, das gibt es doch nicht!« Die Fremde klatschte verzückt in die Hände. »Ja, so hieß sie dann später, nachdem sie geheiratet hat. Leider haben wir den Kontakt verloren, nachdem wir Kinder hatten und in einen anderen Stadtteil gezogen sind. Wie geht es der guten Willi?«

Celine und ihre Schwester schauten sich traurig an. »Ähm, na ja. Es tut mir sehr leid, aber ich muss Ihnen leider sagen, also ... unsere Oma Willi ist vor ein paar Wochen gestorben. Krebs.« Sophie schluckte schwer. Sie fühlte sich durch die sanften Augen dieser Dame an ihre Oma erinnert. Neben sich hörte sie Celine leise schniefen.

»Das – oh, nein. Das tut mir so leid«, drückte die alte Frau ihr Mitgefühl aus. »Sie war ein guter Mensch. Ihr könnt froh sein, sie gekannt zu haben. Auch wenn sie sich manchmal sehr in ihre eigene Welt zurückgezogen hat und von diesen Tenosauriern oder wie die Viecher heißen, gesprochen hat.« Die Fremde schmunzelte, während sie in ihren Erinnerungen schwelgte. »Bitte richtet eurer Familie die besten Grüße von Lilo aus. Drei Kinder hatte sie, ja? Ich glaube, sie werden wissen, wer ich bin, wenn Willi ihren Kindern genauso oft von mir erzählt hat, wie ich meinen von ihr.«

»Lilo? DIE Lilo? Ja, klar! Wir haben von Ihnen gehört«, rief Celine begeistert aus. »Sie und Oma haben doch damals den frechen Karl eins auf die Mütze gegeben, als er die kleine Elli wegen ihres abgetragenen Kleides gehänselt hat.«

»Hahaha! Hat sie das erzählt? Wirklich, das war eine großartige Zeit und der Lehrer in der Sonntagsschule hat nicht mal mit uns geschimpft, als wir ihm den Grund für die Prügelei verraten haben. Er war sogar ein kleines bisschen stolz auf uns, dass wir Mädchen uns nicht alles haben gefallen lassen von den Kerlen.« Lilo wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Und die vielen anderen Abenteuer kennt ihr dann bestimmt auch. Oh, wie ich diese Tage vermisse. Wirklich schade, dass ich sie nicht mehr mit Willi teilen kann. Ich hätte sie gern noch einmal wiedergesehen. Versprecht mir eins, Kinder«, fügte Lilo ergänzend hinzu und beugte sich ein wenig zu den Mädchen vor. »Verliert niemals den Kontakt zu lieb gewonnenen Menschen. Sonst bereut ihr es eines Tages, so wie ich jetzt.«

»Das muss wirklich schlimm für Sie sein, es so unvermittelt erfahren zu haben«, antwortete Sophie und streichelte der älteren Dame über den rechten Oberarm. »Aber heute gibt es ja überall Telefone und sogar Handys. Ich hoffe, dass wir damit besser mit unseren Freunden in Kontakt bleiben können, egal, wo sie später wohnen werden.«

»Sagt einfach Lilo zu mir«, bot die Freundin ihrer Oma den Mädchen das Du an. »Die Enkelinnen meiner lieben Willi sollen sich auch wie meine eigenen Enkel fühlen. Vielleicht könnt ihr mich ja mal besuchen? Ich habe noch ein oder zwei Bücher von Wilhelmine über diese Deno-, ihr wisst schon.«

Die Schwestern blickten sich erstaunt an.

»Aber ich kann damit nichts anfangen und bin mir sicher, dass sie bei euch besser aufgehoben sein werden.« Lilo holte einen Kassenzettel und einen Kugelschreiber aus ihrer glänzend anthrazitfarbenen Handtasche heraus und kritzelte ihre Adresse und Telefonnummer drauf. »Hier wohne ich. Das ist gleich dort vorne. Wie wäre es, wenn ihr nächsten Sonntag zu Kakao und Kuchen vorbeikommt?«

»Das machen wir sehr gerne. Vielen Dank, Lilo.« In Sophies Brust schlug ihr Herz Purzelbäume. Durch ihre damalige beste Freundin hatte sie ein bisschen eine Verbindung zu ihrer Oma zurückgewonnen und der Umstand mit den Büchern machte die Sache noch um einiges interessanter.

»Was habt ihr denn in der Bahn verloren? Vielleicht kann ich euch ja beim Suchen helfen, wenn ich das nächste Mal mit dieser Linie fahre. Ich kenne den einen Fahrer. Er wohnt bei mir nebenan. Gegebenenfalls hat er etwas gesehen, als er die Waggons am Abend kontrolliert hat?«, bot Lilo ihre Hilfe an.

»Das ist wirklich sehr nett von dir, Lilo, aber ich denke nicht, dass ...« Celine wurde durch das hektische Geschnatter und Gegacker eines halben Dutzend Stockenten aufgeschreckt, das panisch über sie hinwegflog.

»Die kommen von dem kleinen Park da drüben. Vielleicht hat wieder jemand seinen Hund in den Teich laufen lassen und die Häufchen liegen lassen.« Den letzten Halbsatz murmelte Lilo grummelig in sich hinein und Sophie und Celine mussten darüber schmunzeln, dass selbst diese freundliche ältere Dame etwas hatte, worüber sie sich aufregen konnte.

Doch lange hatten die Schwestern nicht Zeit, sich mit ihrer neu gewonnenen Freundin über die Rechte und Pflichten von Hundebesitzern im öffentlichen Gelände zu unterhalten, denn die plötzliche Panik dieser Enten machte sie nervös.

»Es tut uns leid, Lilo aber wir müssen langsam weiter, damit wir nicht zu spät zum Mittagessen kommen. Wir sehen uns dann am Sonntag um 15 Uhr, ja?«, leitete Sophie die Verabschiedung ein.

»In Ordnung, ihr Lieben. Ich freue mich schon darauf und schaue mal nach, was ich noch alles über Willi finden kann. Bis dann, passt gut auf euch auf.« Lächelnd drehte sich Lilo um und verschwand gemächlich hinter einem kleinen Kiosk.

»Die war doch mal richtig nett. Es sind zum Glück nicht alle alten Leute so griesgrämig wie die, die uns aus der Bahn geworfen haben«, sagte Celine zu ihrer Schwester.

»Natürlich nicht. Unsere Oma war ja auch lieb«, murmelte Sophie zur Antwort, war in Gedanken aber bereits beim Ententeich. »Wir sollten vielleicht mal nachsehen, was diese Vögel tatsächlich aufgeschreckt hat. Ich hab da ein ganz mieses Gefühl.«

»Hast recht, Soph. So wie Hinz und Kunz vorhin auf die Spatzen reagiert haben, kann ich mir ihre Euphorie über ein paar fette Enten bildlich vorstellen.«

»Dann komm, lass uns keine Zeit verlieren. Einen anderen Anhaltspunkt haben wir eh nicht.« Sophie eilte voran und nach einer Weile erreichten die Mädchen den Teich im Stadtpark. Was sie dort zu sehen bekamen, wäre guter Stoff für eine neue Folge der versteckten Kamera gewesen.

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