[13] Die Rentner-Problematik
»VERHALT DICH EINFACH ganz normal«, flüsterte Celine ihrer Schwester zu, die sich immer wieder möglichst unauffällig zu Hinz und Kunz umblickte, die ihnen zögerlich folgten. Sie klopfte sich ein paarmal an den Oberschenkel und war froh, dass alle anderen Leute zu sehr mit dem Ein- und Aussteigen beschäftigt waren, als dies zu bemerken.
Sie ließen extra noch ein paar ältere Damen vor sich in die Bahn steigen und kletterten dann ebenfalls rein. Aus Erfahrung wussten sie, dass sich die Türen so schnell wie möglich schlossen, nachdem der letzte Fahrgast eingestiegen war – Hinz und Kunz mussten ihnen auf dem Fuße folgen, um nicht zurückzubleiben. Doch das war einfacher gewünscht, als getan.
»Hinz, Hinz! Komm her, schnell!«, versuchte Celine ihren Compsognathus zu sich zu rufen, der von einem Spatzen hinter einem Zaun abgelenkt wurde. Dazu tat sie so, als würde sie husten und hielt sich den Arm vor den Mund. Einer der Fahrgäste, ein älterer Mann mit Krückstock, bemerkte dies und rümpfte angewidert die Nase. Ansonsten schien niemand sonst Notiz von ihnen zu nehmen.
Gerade als Kunz' Schwanzspitze über die Türschwelle ragte, begann sich die Tür der Straßenbahn mit einem Zischen zu schließen. Sophie wollte noch flink ihre Hand zwischen die Tür halten, da bemerkte Hinz, dass sein Bruder bereits in diesem Ding stand. Daraufhin sprintete er, so schnell er konnte hinterher und schaffte es knapp, durch den Türspalt zu springen. Er verlor dabei ein paar Federn, aber auch diese sollten für den Rest der Menschheit unsichtbar sein, oder zumindest nicht so viel Aufmerksamkeit erregen, wie das Reptil selbst, zu dem sie gehörten.
»Mein Herz!«, sagte Celine und legte erschöpft die Hand auf ihre Brust, als würde sie versuchen, ihr Herz am Herausspringen zu hindern. »Vielleicht hattest du recht und es wird schwieriger als gedacht.«
Sie und Sophie atmeten langsam wieder durch und guckten, ob die anderen Fahrgäste etwas von ihrer Panik mitbekommen hatten. Dem war zum Glück nicht so.
»Ich weiß nicht, wie lange ich das aushalte«, flüsterte ihr Sophie zu. »Sollen wir die beiden jetzt wirklich für immer mit uns führen? Das wird bestimmt nie entspannter werden.«
»Doch, wird es«, versuchte Celine Sophie zu beruhigen. »Bei deinem Kunz hat es tatsächlich schon ganz gut funktioniert. Hinz wird sich seinem Bruder anschließen und dann können wir uns als Dinoflüsterer bewerben.«
»Dein Optimismus in Ehren.« Sophie wollte das Vertrauen ihrer Schwester in die kleinen Kerle sogleich überprüfen und hob kurz ihre Handfläche in Richtung der Compies. Nichts passierte.
»Vielleicht war es bei Kunz doch nur Zufall?«, fragte sich Celine und bemerkte nicht, dass sich ein älterer Mann seinen Weg an ihr vorbeibahnen wollte.
»Entschuldigt mal, junge Damen. Steht hier nicht vor der Tür rum. Da sind genug Sitzplätze frei. Da kann man ja gar nicht aussteigen, wenn ihr alles versperrt.« Der Alte quetschte sich an die Mädchen vorbei und hätte dabei Hinz und Kunz ohne Weiteres getreten, wären diese nicht zur Seite gehüpft.
»Entschuldigung, kommt nicht wieder vor«, bat Sophie den Mann um Verzeihung und tauschte mit ihrer kleinen Schwester stumme Blicke aus. Die Dinosaurier waren wirklich unsichtbar für ihre Mitmenschen, sonst hätte er sicher noch einen grimmigen Kommentar zu den Viechern abgegeben, die nichts in der Bahn zu suchen hätten. Wenigstens ein Erfolgserlebnis an diesem chaotischen Tag.
»Und wedelt nicht so viel mit diesem Unkraut rum! Ihr verdreckt die ganze Bahn«, ergänzte der Alte noch beim Aussteigen und schüttelte entrüstet den Kopf. »Diese jungen Leute, kein Benehmen.«
»So einer hat uns gerade noch zu unserem Glück gefehlt«, murmelte Sophie und versuchte, ihren vertrockneten Zweig so zu halten, dass er keine weiteren Blätter verlor.
»Es hätte schlimmer kommen könn-«
»Celine, was ist los?«, fragte Sophie nervös, als ihre Schwester den Satz nicht zu Ende sprach und stattdessen mit weit aufgerissenen Augen vom einen Gang der Bahn in den nächsten starrte.
»Sie sind weg«, sagte sie schließlich nahezu tonlos und dann sah Sophie, dass Hinz und Kunz nach dem Beinahe-Zusammenstoß mit dem Alten offenbar die Biege gemacht hatten.
»Okay, okay. Ganz ruhig bleiben«, schlug Sophie vor, die allerdings große Mühe hatte, ihre zittrigen Hände unter Kontrolle zu halten. »Wir fahren noch einige Stationen weiter und sollen ja nicht die ganze Zeit vor der Tür stehen bleiben, nicht? Also teilen wir uns auf und tun so, als würden wir uns jeweils einen schönen Sitzplatz suchen. Du gehst nach links, ich gehe dort lang.« Sophie deutete mit einem Kopfnicken in die jeweiligen Richtungen und ging vorsichtig los.
»So voll ist die Bahn nicht. Wenn sie nicht was ganz Blödes anstellen, müssten wir sie schnell finden.« Celine nickte ihrer großen Schwester noch einmal zu und ging dann langsam durch die halb besetzten Reihen.
Um diese Tageszeit saßen meist ältere Herrschaften in der Straßenbahn, um Arzttermine wahrzunehmen oder einkaufen zu fahren. Das hatte den Vorteil, dass die Blicke, die Celine trafen, zwar skeptisch und vorurteilsbehaftet, aber wenigstens nicht neugierig und aufdringlich waren. Nichts wäre in diesem Moment schlimmer, als nervige Kinder, die vielleicht noch dumme Fragen stellen würden, nach was sie denn wohl suchen würde und ob sie helfen könnten.
Einen Nachteil hatten die älteren Leute dennoch: Während jüngere Fahrgäste ihre Taschen und Rucksäcke entweder auf ihrem Schoß oder auf dem Sitzplatz neben sich ablegten, stellten die wohlsituierten Damen und Herren höheren Semesters ihre Gepäckstücke ordentlich auf dem Boden zu ihren Füßen ab. Hinz und Kunz hätten dadurch genug Optionen sich zu verstecken. Celine versuchte, so unauffällig wie möglich die Taschen und Beutel zu beobachten, da hörte sie aus dem Gang in entgegengesetzter Richtung empörte Schreie.
»Scher dich weg, du Diebin!«, echauffierte sich eine ältere Dame mit auffällig bunter Strickmütze. Vor ihr stand leichenblass und mit erhobenen Händen Sophie.
»Ich wollte Sie doch nicht bestehlen. Glauben Sie mir, bitte!«, versuchte Sophie sich aus der unangenehmen Situation zu retten. »Ich habe vorhin in dieser Bahn einen Anhänger verloren und dachte, ich hätte ihn da unten gesehen«, dachte sie sich eine möglichst glaubhafte Notlüge aus.
»Glauben Sie ihr kein Wort, junge Frau!«, mischte sich ein alter Mann mit silberverziertem Gehstock in Celines Abteil in den Streit ein. »Die beobachte ich schon, seit sie hier eingestiegen sind«, sagte er anschuldigend und deutete mit seiner Krücke abwechselnd auf Celine und Sophie. Es war der Mann, der vorhin beim Einsteigen abfällig die Nase gerümpft hatte. »Die führen was im Schilde, habe ich gedacht und jetzt schleichen sie hier durch den Gang und wollen rechtschaffene Leute ausrauben!«
»Da- das ist nicht wahr!«, rief Celine stotternd und merkte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Sie hatte gar nicht daran gedacht, dass ihr Verhalten in der Bahn komplett missverstanden werden konnte. Jetzt wurde ihr bewusst, dass sie aussehen mussten wie Diebe, wenn sie so durch die Gänge schlichen und zu den Taschen der anderen Fahrgäste linsten, wo doch eigentlich genug freie Sitzplätze vorhanden waren.
Einige der Passagiere erhoben sich langsam von ihren Sitzen und warfen den Schwestern böse Blicke zu. Das Quietschen der Bremsen kündigte jedoch bereist den nächsten Stopp der Straßenbahn an. Celine und Sophie sprachen sich wortlos ab, das Gefährt lieber so schnell wie möglich zu verlassen, ehe es für sie beide noch unangenehmer werden würde. Sobald sich die Türen öffneten, waren sie draußen. Doch auch drei der anderen Fahrgäste stiegen an dieser Station mit aus und drohten damit, die Polizei benachrichtigen zu wollen.
Die Haltestelle lag an einer viel befahrenen mehrspurigen Stadtautobahn. Ihre Eltern hatten Celine und Sophie immer vor dieser Gegend gewarnt, da es hier schon mehrmals Unfälle mit Fußgängerbeteiligung gegeben hatte. Sie würden sauer werden, wenn sie wüssten, dass sie sich gerade dort herumtrieben, allerdings das war im Moment nicht das Hauptproblem der Schwestern. Die Alten drohten nach wie vor mit den Fäusten in der Luft und riefen ihnen mit grimmigen Gesichtern irgendwas zu. Durch den Verkehrslärm konnten sie nicht mehr verstehen, was die Rentner ihnen nachriefen, doch sie waren froh darüber, dass die nächsten Telefonzellen ein ganzes Stück entfernt waren. Falls die erbosten Ruheständler es bis dorthin schaffen sollten, würden sie vielleicht längst vergessen haben, warum sie überhaupt die Polizei rufen wollten.
»Außerdem haben sie keine Beweise gegen uns«, sagte Sophie atemlos. »Sie haben uns nicht bei einer Straftat erwischt, sondern lediglich frech behauptet, wir hätten etwas Derartiges vor. Ekelhaft, manche alten Leute. Denken immer nur schlecht über uns Jugendlichen. War unsere Oma auch so?«
»Keine Ahnung. Zu uns jedenfalls nicht. Ich kann es ihnen zugegebenermaßen nicht mal verübeln«, gestand Celine. »Wir sahen ziemlich verdächtig aus, wie wir da herumgeschlichen sind und ihre Taschen beäugt haben. Aber warum ist die Alte bei dir sofort derart ausgeflippt?«
Sophie kratzte sich am Kopf und wischte sich ihre schweißnasse Stirn mit dem Ärmel ihrer Jacke ab. »Ich dachte, dass sich etwas hinter ihrem Einkaufsbeutel bewegt hat. Ich fragte sie, ob ich mal dahinter nachschauen dürfte, da ist sie gleich puterrot angelaufen und den Rest kennst du ja.«
»Vielleicht hat sie schon mal was in der Art erlebt und ihr wurde etwas gestohlen und sie reagiert deswegen so schnell über?«, mutmaßte Celine.
»Kann schon sein. Aber einige ältere Herrschaften denken doch, wir Jugendlichen sind alle Kriminelle«, winkte Sophie ab. »Was viel wichtiger ist – wo zum Geier sind Hinz und Kunz?«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top