[11] Zerstörosaurier
»KOMMST DU MIT in die Küche?«, fragte Sophie ihre jüngere Schwester und ging ohne die Antwort abzuwarten voraus. »Die beiden brauchen was zu essen. Ich hoffe, wir haben noch Hühnerklein im Kühlschrank.«
»Hühnerklein?«, fragte Celine etwas erschrocken.
»Ja, Hühnerklein«, wiederholte Sophie ihren Vorschlag. »Was dachtest du denn? Cornflakes? Schokolade? Kartoffelchips vielleicht?«
»Nein, natürlich nicht«, rüffelte Celine ihre Schwester. »Ich bin nur nicht sicher, weil, na ja. Sie sind ja selbst fast so was wie Hühnchen. Guck sie dir an. Denkst du nicht, sie hätten ein Problem damit, ihre Verwandten zu fressen?«
Sophie blieb auf halber Strecke zur Küche stehen und wusste für einen Moment nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Die beiden Compies mieksten und schauten die Mädchen mit zur Seite geneigtem Kopf an.
»Celine«, begann Sophie zu sprechen und klang dabei ein wenig wie eine Lehrerin. »Was fressen Adler?«, fragte sie dann.
»Ja, ich weiß, worauf du hinaus willst«, kam Celine ihrer Schwester zuvor. »Vögel fressen Vögel, Dinosaurier fressen Dinosaurier und warum sollten Dinosaurier dann keine Hühner fressen. Schon klar. Du hast ja recht. Ein Compsognathus ist ein Fleischfresser, also frisst er andere Tiere und er wird sich ganz sicher nicht darüber beschweren, dass wir ihm einen 150 Millionen Jahre jüngeren Verwandten vorsetzen. Also schauen wir nach, was wir vorrätig haben.«
Gemeinsam durchstöberten die beiden die Küche nach allem, was nur im entferntesten nach dinogeeigneter Kost aussah, doch sie wurden enttäuscht.
»Kein Huhn mehr. Nicht das kleinste Stückchen Geflügel übrig. Nur Gehacktes. Denkst du, das geht auch?«, wollte Sophie wissen und Celine freute sich ein wenig darüber, dass ihre Schwester eben doch nicht alles wusste.
»Ich bin nicht sicher«, musste sie sich jedoch ebenfalls eingestehen. »Ich fürchte, das könnte vielleicht zu fettig sein und Huftiere gab es damals wirklich noch nicht und auch nicht in dieser Parallelwelt. Das könnte zu Magenproblemen führen, Durchfall oder wer weiß nicht was.« Celine setzte sich an den Küchentisch und legte ihren Kopf in die Hände. »Ach, verflucht. Wann wachen wir denn endlich aus diesem verwirrenden Traum auf?«, nuschelte sie vor sich hin. »Ist ja alles schön und gut, Dinosaurier und all das. Aber wieso hier? Warum bei uns? Man hätte ihnen wenigstens einen Zettel um den Hals hängen können mit Pflegehinweisen. Wir können ja nicht mal einfach in eine Zoohandlung gehen und -«
»Wer sagt, dass wir das nicht können?« Sophie unterbrach das selbstmitleidige Geschwafel ihrer Schwester und starrte sie mit weit aufgerissenen Augen und ausgebreiteten Armen freudestrahlend an. Genauso hatte sie früher immer ausgesehen, wenn sie einen ihrer meist schlechten Einfälle hatte, welcher den Schwestern oft unnötigen Trouble einbrachte.
»Du weißt schon, dass wir da nicht einfach die Mitarbeiter fragen können, was sie uns für die Haltung von Compsognathusse, ähm, oder so, empfehlen? Die wissen sicher nicht mal, was das ist.« Celine ließ ihren Kopf erneut missmutig in ihre Handflächen versinken, während Hinz und Kunz munter über die Küchenschränke hüpften.
»Aber wir können dort einkaufen, du Dummi!« Sophie wartete wieder nicht auf eine Antwort oder gar Zustimmung ihrer Schwester und eilte in den Hausflur, um sich in ihre dunkelgrüne Winterjacke zu hüllen.
»Einkaufen?«, fragte Celine verblüfft und im selben Moment kam ihr ein Gedanke, worauf ihre Schwester hinaus wollte. »Klar! Die haben da fette Insekten, Hunde- und Katzenfutter mit Geflügel. Das könnte funktionieren.«
»Sag ich doch. Kommst du dann?« Bewaffnet mit Rucksack und Haustürschlüssel stand Sophie ungeduldig an der Tür und wartete auf Celine. Diese wurde in ihrer Euphorie allerdings schnell wieder gebremst.
»Und wenn sie lieber Lebendfutter haben möchten?«, fragte sie kleinlaut. »Ich meine, im Jura gab es niemanden, der ihnen ihr Fressen in Dosen abgefüllt hat und die ganzen Zusatzstoffe, Zucker, Konservierungsmittel ...«
»In Tiernahrung?«, fragte Sophie eher pampig als ernsthaft interessiert.
»Ja, das Thema hatten wir vor Kurzem in der Schule. Die Industrie macht nicht mal vor den Vierbeinern halt«, rechtfertigte Celine ihre Bedenken. »Und wer weiß, wie zweibeinige prähistorische Tiere darauf reagieren?«
»Ach, du machst dich völlig verrückt. Notfalls lassen wir Mäuse bestellen, als Schlangenfutter. Wissen die doch nicht.« Während für Sophie das Thema abgeschlossen war, hielt Celine der nächste Gedanke auf.
»Und was machen wir mit den beiden?«, fragte sie und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung Hinz und Kunz.
»Die lassen wir hier. Was sollen zwei dermaßen kleine Kerle... Oh, mein Gott! Nicht die Vase!« Sophie ließ vor Schreck Rucksack und Schlüssel fallen und eilte mit einem Hechtsprung zurück in die Küche – doch zu spät. Kunz hatte bereits die alte Blumenvase aus Meißner Porzellan, die ihre Mutter von deren Großtante Hermine vererbt bekommen hatte, umgestoßen. Nun schleckten er und Hinz das auslaufende Wasser auf und schnüffelten an den halb verwelkten Chrysanthemen und verteilten das Schleierkraut quer durch den Raum.
Die Schwestern eilten schnell zu den kleinen Wüterichen und hoben sie vorsichtig auf, damit sie sich nicht an den herumliegenden Scherben verletzten.
»Also schön, eine von uns bleibt hier bei ihnen«, gab Sophie schließlich kleinlaut zu und reagierte damit auf den typischen »Siehst-Du?«-Blick ihrer Schwester.
»Klar, ich. Sodass ich Mama nachher erklären kann, warum ihre Vase in tausend Stücken am Küchenboden verteilt liegt.« Sophie verdrehte die Augen bei diesem erneuten Vorwurf ihrer kleinen Schwester.
»Sonst war ich es immer, die den Kopf für dich hingehalten hat«, antwortete sie schnippisch.
»Du bist ja auch meine große Schwester. Es ist deine Pflicht.« Celine begann behutsam die Scherben der Porzellanvase aufzusammeln und untersuchte die Bruchkanten. »Vielleicht kann man das reparieren. Das sind ziemlich gerade Kanten.«
»Du machst das schon«, antwortete Sophie künstlich aufmunternd und klopfte ihrer Schwester dreimal auf die Schulter. »Ich mach mich dann mal auf den Weg.«
»So war das nicht gemeint!«, rief Celine ihr hinterher, als Sophie bereits wieder auf dem Sprung zur Wohnungstür war.
»Du bist erst elf, Kindchen. Ich lass dich nicht allein in die Innenstadt fahren. Vergiss es!«, rüffelte Sophie.
»Als ob ich das nicht schon hundertmal gemacht hätte«, triumphierte Celine zur Antwort.
»Und von mindestens 90 Malen wissen unsere Eltern nichts davon. Du willst doch, dass es so bleibt, oder?«, griente Sophie höhnisch in die Küche. »Such es dir aus: Vase oder unerlaubte Stadtbummel – Deine Entscheidung.«
Celine musste einmal kräftig schlucken, bis ihr eine Alternative zu Sophies Ultimatum einfiel.
»Anderer Vorschlag«, sagte sie mit vor der Brust verschränkten Armen. »Wir gehen beide in die Stadt.«
»What? Ich denke, wir können diese Zerstörosaurier nicht allein in der Wohnung lassen? Was soll denn noch alles zu Bruch gehen?«, wandte Sophie ein und deutete auf die Scherben der einst so prächtigen Vase.
»Du sagtest, dass nur wir Hinz und Kunz sehen können. Lass uns checken, ob das wirklich stimmt.« Celine grinste ihre Schwester schelmisch an und genoss deren verdutztes Gesicht.
»Du willst sie mitnehmen? In die Straßenbahn? In die Stadt? Ins Geschäft? Bist du von allen guten Geistern verlassen?« Sophie hörte gar nicht mehr auf, ihren Kopf zu schütteln. »Das können wir nicht machen. Selbst wenn sie niemand sieht, sie könnten eine Menge Chaos verursachen.«
»Vielleicht bleiben sie auch einfach bei uns. Wir sind schließlich ihre magischen Bezugspersonen. Nicht?« Celine wedelte siegessicher mit dem Opal ihrer Großmutter vor Sophies Nase herum. Dann zog sie ebenfalls ihre Jacke an und winkte Hinz zu sich.
»Komm, mein Kleiner. Wir machen jetzt einen schönen Spaziergang und suchen Fressi-fressi für euch.«
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