[07] Poseidon

DIE SONNE HATTE ihren höchsten Stand erreicht und strahlte mit aller Kraft auf Celine, Sophie und ihre neuen Freunde herab. Celine hatte endlich die Zeit und den Mut gefunden, sich den, wenige Meter vor ihr trabenden, Tyrannosaurus genauer zu betrachten.

Scotty war wirklich eines der schönsten und zugleich sonderbarsten Tiere, die sie jemals gesehen hatte. Er war noch nicht ausgewachsen und doch gab er bereits ein beeindruckendes Bild ab. Sein Schädel hatte längst nicht die Ausmaße, die sie aus Büchern und Filmen her kannte. Seine von Lippen teilweise überdeckten Zähne jedoch waren unübersehbar messerscharf und blitzten im Sonnenlicht gefährlich auf. Seine Augen waren klein aber deutlich zu erkennen. Sein Blick war temperamentvoll und nach vorn gerichtet. Es hatte den Eindruck, als würde ihm nichts und niemand entgehen. Scharfsinnig wie ein Adler beobachtete er den näher kommenden Strand.

Seine winzigen Arme schwangen im Takt seiner Schritte leicht hin und her, doch er trug sie dicht am Körper und die Handflächen zeigten nach innen. Die Känguruhaltung, die Celine aus alten Büchern kannte, entsprach demnach alles andere als der Realität. Ihre Oma hatte nicht umsonst jedes Mal gelacht, wenn sie entsprechende Bilder sah. Doch am meisten fiel ihr der lange, kräftige Schwanz auf, den der Dinosaurier waagerecht als Verlängerung seiner Wirbelsäule trug. Er schien nicht sonderlich beweglich zu sein und erinnerte Celine an eine Balancierstange, die sie manchmal im Sportunterricht verwendeten, wenn Übungen auf dem Schwebebalken auf dem Plan standen. Die Schwänze der Dinosaurier mussten genau dieselbe Funktion haben, denn Celine konnte dasselbe Prinzip auch bei den Sauropoden und den Compsognathus erkennen. Wenigstens in diesem Punkt, dachte sie, waren die modernen Filmemacher auf einer guten Spur. Sie musste etwas schmunzeln bei der Vorstellung, wie es aussehen würde, wenn diese Tiere ihre Schwänze auf dem Boden hinter sich herschleifen würden, so, wie man es sich früher vorgestellt hatte. Sie wären vermutlich wirklich nur langsam und gemächlich von der Stelle gekommen, wie gewöhnliche Reptilien in Übergröße.

Doch diese Tiere waren keine gewöhnlichen Reptilien. Sie waren alles andere als das! Bereits die Langhälse wirkten trotz ihrer enormen Größe nicht wie überdimensionale Leguane und bewegten sich auf festem Boden überraschend behände fort. Noch echsenunähnlicher waren diese kleinen, flinken und sehr frechen Compies. Am deutlichsten wurde es jedoch beim T-rex. Er sah mehr aus, wie ein sehr, sehr großer, stellenweise gerupfter Truthahn.

»Was kicherst du denn die ganze Zeit vor dich hin?«, fragte Sophie, die bemerkte, dass in den Gedanken ihrer Schwester irgendetwas Komisches ablief.

»Ich musste gerade an Jurassic Park denken«, gestand Celine. »Dr. Grant und sein Vergleich mit dem großen Truthahn. So ganz Unrecht scheint er nicht gehabt zu haben, wenn man sich Scotty so ansieht.«

»Truthahn wäre vielleicht nicht das, was mir als Erstes einfallen würde. Aber ja, auf jeden Fall mehr Vogel als Echse«, sagte Sophie und bedachte ihren großen Begleiter mit anhimmelnden Blicken.

Sein agil wirkender Körper sah so aus, als könne er sich nicht entscheiden zwischen einem Dasein als Reptil oder Vogel. Seine Beine und die Unterseite seines Körpers waren nahezu unbefiedert und sah tatsächlich aus, wie gewöhnliche Reptilienhaut und erinnerten an ein Krokodil. Auf dem Rücken und entlang des Schwanzes trug er ein bräunliches, geschecktes Federkleid. Es waren eher daunenartige Federn, nicht solche, die man von flugfähigen Vögeln her kannte. Sie erinnerten Celine mehr an jene von Straußen und Nandus, aber irgendwie auch an eine Art fedriges Fell. Es war schwer für sie etwas Vergleichbares aus ihrer bekannten Welt zu finden. Vermutlich, weil es das einfach nicht gab.

Ganz besonders merkwürdig schienen ihr die bunten Zierfedern, die er im Nackenbereich, an den Ärmchen und an der Schwanzspitze trug. Farblich bewegten sich diese Federn zwischen Rot- und Gelbtönen, aber auch ein wenig grün und blau war zu erkennen. Celine fragte sich, ob diese Federn ebenfalls ein Merkmal waren, um männliche von weiblichen Tieren zu unterscheiden.

Ihr blieb jedoch nicht mehr viel Zeit über Dino-Federn nachzudenken. Ihr kleiner Trupp hatte den Strand durchschritten und stand jetzt direkt am Meer. Die Luft war einfach herrlich und der laue Wind sorgte für Abkühlung, nachdem sie so lange in der prallen Sonne herumgewandert waren. Der Geruch von Salzwasser stieg in ihren Nasen und es roch ein wenig fischig.

Kein Wunder, denn zahlreiche größere und kleinere Pterosaurier waren emsig damit beschäftigt, Fische und anderes Meeresgetier aus dem Wasser zu holen und teilweise direkt am Strand zu verzehren. Immer wieder reckten sie ihre Köpfe in die Luft, um zu prüfen, ob sich Nahrungskonkurrenten oder Feinde näherten. Als sie Scotty sahen, stießen einige von ihnen einen schrillen Schrei aus, woraufhin jene, die in der näheren Umgebung saßen, panisch davonflogen und die Reste ihrer Beute liegen ließen. Celine konnte einen Blick auf einen der Flugechsen werfen und bemerkte staunend den großen, bunt gemusterten Schnabel, aus dem spitze Zähne ragten. Perfekt, um glitschige Fische festzuhalten.

Scotty setzte derweil einen seiner krallenbewehrten Füße ins Meerwasser und blickte erwartungsvoll zum Horizont.

»Dort vorn ist er«, sagte er schließlich und ging wieder ein paar Schritte zurück.

Celine konnte etwas im Wasser erkennen. Etwas Großes, das genau auf sie zukam. Dann teilte sich das Wasser vor ihnen und die Mädchen machten erschrocken einen Sprung nach hinten, wobei sie gegen Lillys schlanken, aber kräftigen Beine stießen.

»Keine Angst, das ist Poseidon. Er kannte eure Großmutter und er wird euch alles sagen können, was ihr über diese Welt und eure Aufgabe darin wissen müsst«, sagte der Langhals und blickte angespannt aufs Wasser, aus dem eine riesige Schnauze zum Vorschein kam.

Diese war länglich und schmal zulaufend. Aus dem vorderen Bereich schauten lange und sehr spitze Zähne heraus, die auch dieses Tier als einem perfekten Jäger auswiesen. Etwas weiter hinten, auf der Oberseite der Schnauze waren zwei Nasenlöcher, die offenbar verschlossen werden konnten. Nun stießen sie eine Luftfontäne aus, wie man sie in ähnlicher Form von Walen kannte und man hörte, wie das Tier danach tief einatmete.

Nicht weit hinter den Nasenöffnungen lagen die relativ kleinen Augen mit großen runden Pupillen, vor denen sich eine Art Nickhaut schob, die die Augen vor dem Wasser schützten. Seine Haut schien glatt zu sein. Es gab keine Spur von Hornplatten oder ähnlichen Dingen, die Celine an den Sauropoden entdeckt hatte. Interessant fand die Elfjährige auch die Färbung dieses Tieres, das an der Oberseite ein dunkles Graublau und an der Unterseite ein nahezu weißes Farbmuster aufwies. Sie erinnerte sich unweigerlich an die Fernsehdokumentation, die sie im vergangenen November gesehen hatte. Die Ähnlichkeit zwischen diesem Tier und dem dort porträtierten Liopleurodon war verblüffend. Aber sicher lag es daran, dass man sich bei der Darstellung an heute lebenden Meerestieren orientiert hatte und diese bieten zumindest in dieser Größenordnung keine so vielseitige Farbpalette, wie an Land lebende Tiere. Nur eine Sache unterschied sich deutlich von dem Liopleurodon in der Serie und dem echten Meeresriesen, der nun zur Hälfte am Strand lag und mit dem Rest seines Körpers im Wasser blieb: Die Größe!

»Ich dachte, er ist alt und weise«, flüsterte Celine ihrer langhalsigen Freundin zu. »Warum ist er dann so, nun ja, klein?«

»Klein?«, sagte Lilly leicht empört und Celine hatte Angst, dass er es hören konnte, doch er schien noch damit beschäftigt zu sein, eine für ihn günstige Position zu finden. »Er ist knapp über sieben Meter lang, nach euren Maßen. Das ist größer als die meisten anderen seiner Art.«

»A-aber, aber werden diese Tiere nicht über fünfundzwanzig Meter lang?«, fragte Celine zögerlich.

»Woher hast du denn diesen Unsinn? So groß wird ein Liopleurodon nicht«, erklärte Lilly. »Kronos soll es auf fünfzehn Meter schaffen, aber ihn hat bisher keiner von uns gesehen. Es gibt das Gerücht, dass es einen Pliosaurier von knapp zwanzig Metern Länge geben soll, aber das konnte noch kein Dino oder Meeressaurier bestätigen.«

Celine verstummte und begriff, dass auch die beste Fernsehdokumentation niemals mit allem recht haben konnte, vor allem nicht beim Thema Urzeit-Echsen. Denn diese schienen weit mehr Überraschungen bereit zu halten, als jemals vermutet.

Scotty deutete mit einer Kopfbewegung an, dass Poseidon nun bereit war, mit den Mädchen zu sprechen. Vorsichtig traten sie näher an das, trotz aller Unterschiede zur Fernsehdokumentation, riesige Tier heran. Es schien kurzatmig zu sein, hatte an Land offensichtlich Probleme mit seinem schweren Körper, die er im Wasser nicht hatte. Langsam schwenkte er sein langes Maul zu den Schwestern und öffnete es. In Celines Kopf war ein weiterer seltsamer Klang zu hören, der dem Gesang von Walen überhaupt nicht ähnlich war, obwohl es sich dieses Mal um einen großen Meeresbewohner handelte. Vielmehr war es wie ein Knurren. Ein Knurren in vielen kurzen Sequenzen, wie eine Fledermaus mit einer sehr tiefen Stimme.

»Ich heiße euch im Namen Kronos' herzlich willkommen«, waren seine ersten, atemlosen Worte, die der Opal in den Köpfen der Mädchen übersetzte. »Celine, Sophie – wir haben sehr lange auf euch gewartet. Vielmehr, auf die Rückkehr eines Auserwählten.«

Die glatte Haut des Liopleurodon war noch immer von Wasser bedeckt und glitzerte in der Sonne. Celine und Sophie schauten sich ratlos an, als das Tier ihre Namen sagte.

»Es tut uns leid, falls das für Sie Unannehmlichkeiten bedeutet hat, aber wir wussten bis vorhin selbst nicht, dass wir offenbar für irgendetwas auserwählt worden sind«, sagte Sophie, die sichtlich Respekt vor dem Liopleurodon zu haben schien. »Unsere Großmutter hat uns viel über Dinosaurier erzählt. Dinge, die wir damals als Schwachsinn abgetan haben, um ehrlich zu sein. Denn die Wissenschaft, Bücher, Filme, all das, falls Sie das kennen, die zeigten ein anderes Bild von euch auf.« Poseidon nickte verständnisvoll, ließ die Vierzehnjährige aber aussprechen. »Wissen Sie, Oma Willi hat nie verraten, dass sie jemals in einer Welt war, in der es echte Dinosaurier gibt.«

»Das hat mir Scotty bereits erklärt und ich bin froh, dass es so ist«, sagte Poseidon mit seiner langatmigen Stimme. »Niemals darf ein anderer Mensch als der Auserwählte von der Existenz dieser Welt erfahren. Doch wie es aussieht, könnte dies bald geschehen.«

Poseidons Worte löste in allen Anwesenden Bestürzung aus. Scotty verlor sogar zwei seiner fremdartigen Federn, wovon sich Sophie heimlich eine stibitzte.

»Poseidon, davon höre ich zum ersten Mal. Was meinst du damit?«, fragte Lilly, die jetzt nervös mit dem Vorderfuß auf dem steinigen Boden herum kratzte.

»Dazu komme ich später«, sagte Poseidon, der kurz darauf ins Wasser abtauchte. Nach wenigen Minuten, in denen sich Celine und ihre Freunde ratlos anschauten, tauchte er wieder auf. »Zunächst muss ich den beiden jungen Damen erklären, warum sie bei uns sind, warum ihre Großmutter bei uns war.«

»Das würde uns wirklich sehr interessieren«, murmelte Celine und spannte ihren Körper an, als Poseidon mit seiner Ansprache begann.

»Eure Großmutter war nicht der erste Mensch, der hier herkam«, begann Poseidon zu sprechen. »Es war im Jahr 1800, eurer Zeitrechnung, in der südwestenglischen Grafschaft Dorset. Ein kleines Mädchen von gerade einmal 15 Monaten, das zuvor einen lilafarbenen Stein von ihrer Mutter geschenkt bekam, wurde von einem Blitz getroffen. Vier Frauen starben durch dieses Unglück, Mary war die einzige Überlebende.« Poseidon hielt einen Moment lang inne.

»Mit elf Jahren, nachdem ihr Vater an der Schwindsucht gestorben war, fingen Mary und ihr Bruder Joseph an, nach Fossilien zu suchen und diese zu verkaufen. Doch was weder Joseph noch irgendein anderer Mensch wusste, war, dass Marys Interesse an diesen versteinerten Überresten einstigen Lebens nicht rein finanzieller Natur war. Denn sie traf jemanden, mit dem sie nicht gerechnet hätte.«

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