[05] Ohnmächtig
EIN ZITTERN DURCHFUHR den Körper des Mädchens und lähmte sie gleichzeitig. Sie achtete auch nicht darauf, dass die beiden Compsognathus anfingen an ihrer Jacke herum zu knabbern, die sie über den linken Arm trug. Die Sonne schien ihr genau ins Gesicht und sie musste blinzeln, um eine Sicht auf das zu erhaschen, was sich ein paar Meter vor ihr abspielte. Als sie die Gedanken darüber gesammelt hatte, nahm sie alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte zusammen, ihre Schwester zu warnen, doch aus ihrer Kehle entwich lediglich ein heiseres Krächzen.
»Sophie! Beweg dich nicht! Nicht bewegen!«
Obwohl sie wusste, dass ihre Schwester sie auf diese Weise nicht hören könnte, wagte sie es nicht, es noch einmal lauter zu versuchen. Denn somit würde sie seine Aufmerksamkeit auf sich und ihre neue Freundin Lilly lenken. Doch was sollte sie stattdessen tun? Sie wollte keine von beiden in Gefahr bringen, aber sie wollte auch nicht tatenlos herumstehen und ihn selbst entscheiden lassen, wen er zum Abendbrot verschlingen würde.
»Was ist denn mit dir? Warum fängst du an zu weinen, Celine?«, fragte Lilly verunsichert, als sie dicke Tränen an den Wangen des Mädchens herunterlaufen sah. »Man hat mir gesagt, dass ihr Menschen das macht, wenn ihr traurig seid. Warum bist du traurig? Wir haben deine Schwester gefunden!«
»Er wird sie fressen. Wenn sich meine Schwester bewegt, dann sieht er sie und wird sie fressen«, sagte Celine unter bitterlichen Tränen und zitterte dabei am ganzen Körper.
Freudig quietschend flitzten ausgerechnet in diesem Moment die beiden Compies genau in Sophies Richtung und schienen keine Notiz von der dort lauernden Gefahr zu nehmen.
»Verdammt, nein! Kommt zurück, ihr dummen Viecher! Jetzt weiß ich, warum du die nicht leiden kannst, Lilly. Was machen wir denn nun?«
Celine biss sich vor Nervosität in den Daumenballen und kniff die Augen zusammen. Sie wollte einfach nicht sehen, wie ihre eigene Schwester von ihm gefressen würde. Lilly indes schien die Ruhe selbst zu sein. Konnte sie ihn etwa nicht sehen?
Als Celine zögerlich die Augen wieder öffnete, entwich ihr trotz aller Furcht ein markerschütternder Schrei, denn er kam geradewegs auf Sophie zu. Diese saß immer noch seelenruhig am Ufer des Flusses und genoss die schwüle Luft, die merklich abkühlte und sich mit einem salzigen Geruch mischte.
Durch den lauten Schrei flatterten haufenweise Vögel und kleine Flugsaurier panisch aus dem Urwald und flogen hektisch zeternd durch die Luft.
Aber auch er schaute genau in Celines und Lillys Richtung. Er machte eine Bewegung mit seinem langen und kräftigen Schwanz, als würde er vorhaben in ihre Richtung zu gehen. Damit wäre zumindest Sophie gerettet und Celine bereitete sich innerlich darauf vor, sich ab jetzt keinen Zentimeter mehr zu rühren. Vielleicht würde Lilly ihn abwehren können, während sie für ihn unsichtbar blieb, und Sophie könnte in der Zwischenzeit fliehen.
Doch dann kam alles ganz anders. Auch Sophie drehte sich zu der Quelle des Lärms um und fing an, wie eine Blöde zu winken, und sprang schließlich sogar auf und hüpfte herum wie ein Hampelmann.
»Das war dann wohl das Ende für meine Schwester«, dachte Celine, bevor ihr schwarz vor Augen wurde und sie auf dem an dieser Stelle zum Glück noch sandig-weichen Boden fiel.
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Nach einer Weile kam Celine langsam wieder zu sich. Erneut wurde sie von der gleißenden Sonne geblendet. Doch das Erste, was sie dieses Mal erkannte, war ein menschenähnlicher Umriss, der nur allmählich deutlicher erkennbar wurde. Es war ihre große Schwester Sophie, die sich mit besorgten Blicken über sie beugte.
»Hallo, Sophie. Ich habe was ganz Verrücktes geträumt«, hauchte Celine und fasste sich an den pochend schmerzenden Kopf. »Ich war am Ufer eines riesigen Flusses, das mehr wie ein Meeresstrand aussah, und dann war da ein Diplodocus namens Lilly. Die konnte sprechen und hat behauptet, dass ihre Oma unsere Oma kannte. So was Blödes, was?«
Ein hüstelndes Lachen kroch aus Celines Kehle empor und sie legte ihren Kopf wieder auf den Boden ab und schloss die Augen.
»Und dann gab es da diese beiden Compsognathus-Nervlinge und plötzlich wurdest du von einem Tyrannosaurus gefressen«, lallte Celine vor sich hin, während sie immer weiter ins Bewusstsein zurückkehrte.
Gerade, als sie wieder einigermaßen alle Sinne beisammen hatte, blickte sich Celine ungläubig um und konnte nicht fassen, dass sie noch immer an diesem Flussufer saß.
»Willkommen zurück, kleine Freundin«, hörte sie eine ihr bekannte Stimme in ihrem Kopf und ein Brummen hinter sich.
»Lilly? Du bist noch da? Wie, wie ist das möglich?«, stotterte Celine verwirrt und setzte sich abrupt wieder hin, was ihrem Kopfschmerz nicht gerade zuträglich war.
Sie hatte bis eben gehofft, dass sie all das wirklich nur geträumt hatte. Es wäre der perfekte Moment gewesen, um aufzuwachen. Doch da saß sie nun, am Ufer des großen Flusses und zwei Compsognathus hüpften fröhlich und ohne Rücksicht auf ihrem Schoß herum.
»Natürlich bin ich noch da und wenn du wissen willst warum, solltest du dich langsam wieder erholen und mir folgen. Poseidon hat bestimmt schon von euch erfahren und wartet am Strand auf uns«, drängelte Lilly und stupste Celine mit dem Kopf an, wodurch sie fast wie ein überdimensionales Pferd wirkte.
»Und wieso bist du hier, Schwesterchen?«, wollte Sophie wissen und schaute Celine nach wie vor ungläubig an.
»Da war so ein komisches Tier vor unserem Haus. Ich wollte wissen, was das war, und bin ihm nachgelaufen«, begann die Elfjährige zu erzählen und rieb sich die müden Augen. »Dann war es wieder verschwunden und um mich herum tauchten lila-bunte Lichtblitze auf. Mir wurde kurz schwarz vor Augen und dann wurde ich an diesem Sandufer wach und eine riesige Herde Sauropoden kam auf mich zu. Zuvor hätten mich fast Dutzende, übergroße Hühner über den Haufen gerannt. Ach, ja. Der kleine Kerl hier weicht mir nicht mehr von der Seite«, schilderte Celine ihr Erlebnis und streichelte ihren Compie liebevoll über den Rücken.
»So einen hab ich auch«, fing Sophie an, über ihre bisherige Geschichte zu reden. »Er tauchte einfach so aus dem Nichts in meinem Zimmer auf. Ich dachte erst, da hat sich ein Huhn, oder Fasan oder so was bei mir verirrt. Aber dann sah ich den furchtbar langen Schwanz und die spitzen Zähne. Genau diese haben sich frecherweise mein Plüsch-Pikachu geschnappt und dann ist der komische Vogel einfach damit abgehauen. Ich bin ihm gefolgt und plötzlich war ich auch von diesen lila-bunten Blitzen umgeben. Kurz darauf landete ich hier unsanft auf den harten Boden und war mutterseelenallein.«
Sophie hatte also nahezu das Gleiche erlebt, wie Celine. Nur, dass sie von einem der Compsognathus hierher geführt wurde. Das Tier, welches Celine verfolgt hatte, war größer gewesen und anders gefärbt. Aber zumindest wusste sie nun, dass es sich auch dabei um einen gefiederten Dinosaurier gehandelt hatte. Obwohl er nicht unbedingt wie ein Fleischfresser aussah, soweit sie das bei dem schwachen Licht der Straßenlaternen beurteilen konnte. Celine war sich sicher, eine Art stumpfen Schnabel erkannt zu haben, jetzt da sie noch einmal daran zurückdachte.
»Wo ist dein Pikachu jetzt? Hat der Compie es zerfleddert?«, fragte Celine und konnte endlich wieder ein wenig schmunzeln, da sie mit diesem Pokémon-Hype im Gegensatz zu ihrer Schwester nichts anfangen konnte.
»Scotty hilft mir, es zu suchen. Der Kleine hat es irgendwo da hinten in den Wald verschleppt und Scotty hat bessere Augen als ein Adler. Er wird es eher finden als ich«, antwortete Sophie und schaute suchend in Richtung Urwald, als würde sie die Rückkehr dieses ominösen Scotty in Kürze erwarten.
»Scotty? Hast du unterwegs einen Hund gefunden oder jemanden vom Raumschiff Enterprise?«, fragte Celine mal wieder verwirrt wie eine Kuh, wenn's donnert.
Im selben Moment hörte sie wieder ein Rascheln und Knacken in den dichten Wäldern neben ihrer kleinen Gruppe. Etwas ziemlich Großes schien sich durch den Dschungel zu schlagen und scheuchte dabei die ein oder anderen kleineren Tiere auf. Dann kam er zum Vorschein.
Der Tyrannosaurus von vorhin.
Celines Gedanken fuhren Karussell. Das Erste, an was sie dachte, war, dass ein Tyrannosaurus schlecht sehen konnte und nur Dinge angriff, die sich bewegten. Doch dann dachte sie an das, was ihre Oma immer erzählt hatte, dass diese Raubsaurier ganz im Gegenteil exzellent sehen, hören und riechen konnten.
Was also sollten sie nun tun? Sich nicht bewegen und hoffen, dass er einfach an ihnen vorbeiging oder sofort die Beine in die Hand nehmen und davon flitzen, so schnell es ihnen möglich war?
Gleichsam war sie völlig verwirrt von der Tatsache, dass alle, bis auf die Compies sich anscheinend überhaupt keine Sorgen machten, dass da ein T-rex genau auf sie zukam. Im Gegenteil! Sophie drehte sich noch zu ihm um und schien sogar zu lächeln.
Celine war wie in einer Schockstarre verfallen und hätte selbst dann nicht davonrennen können, wenn sie es gewollt hätte. Sie saß einfach nur da, mit weit aufgerissenen Augen und starrte den riesigen Räuber stumm an. Er war zweifelsohne wunderschön. Wenn sie nicht gerade genau in seinem Blickfeld sitzen würde, hätte sie angefangen, zu schwärmen, wie ein Teenager für einen Superstar. Aber der etwa acht Meter lange Fleischfresser kam immer näher.
Näher.
Noch näher.
Seine kleinen nach vorn gerichteten Augen fixierten sie und ein farbiger Federkranz, der sich an seinem Hals-Kopf-Ansatz befand, stellte sich ein wenig auf, wie es bei Vögeln üblich war, wenn sie etwas Interessantes sahen.
Als er nur noch ein paar Meter von ihnen entfernt war, öffnete er sein gewaltiges mit riesigen steakmesserartigen Zähnen bewaffnetes Maul und ...
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