[04] Viele Fragen

CELINE SASS ZUNÄCHST weiterhin regungslos an diesem fremdartigen Strand und starrte das gigantische Tier an, welches mit überraschend leichtfüßigen Schritten an ihr vorbeiging. Lilly war an ihrer höchsten Stelle etwa so hoch wie zwei Pferde, doch sehr viel länger. Der kleine Compsognathus sprang von Celines Schoß und wollte dem Sauropoden folgen. Celine selbst konnte sich noch nicht so recht dazu entscheiden. Sollte es wirklich wahr sein? Ihre Oma war als junges Mädchen hier und es ist Celines Bestimmung irgendeine Prophezeiung zu erfüllen? Vielleicht eine Aufgabe, die ihre Großmutter damals begonnen hatte und nicht weiterführen konnte? Die Elfjährige hatte so viele Fragen und ihr blieb wohl nur eines übrig, um diese beantwortet zu bekommen: Sie musste dem Dinosaurier folgen.

Celine rappelte sich auf und musste fürs Erste ihre wackligen Beine unter Kontrolle bringen und ein paarmal tief durchatmen. Dann holte sie den Sauropoden ein und ging schließlich neben Lilly. Der feinkörnige Sand, den der Langhals aufwirbelte, kitzelte dem Mädchen in der Nase. Sie beide schwiegen, während sie den endlos scheinenden Strand entlangwanderten. Bei Celine war es Schüchternheit und Unsicherheit. Denn nach wie vor hatte sie keine Ahnung, was genau hier gerade um sie herum passierte, warum sie Lillys Stimme in ihrem Kopf hören konnte und was sie als Nächstes erwartete.

Über ihnen flogen ein paar Vögel, die sich nicht wesentlich von den heutigen unterschieden. Doch es waren auch andere fliegende Wesen darunter – Pterosaurier, flugfähige Reptilien, die mit den Dinosauriern verwandt sind. Sie bewegten sich eher segelnd vorwärts, wie kleine Flugzeuge. Ein Krächzen und Zwitschern erfüllte weiterhin die Luft. Hinter sich hörte Celine das Grummeln und Brummeln der Diplodocus-Herde, die sich ebenfalls wieder in Bewegung gesetzt hatte, aber einen anderen Weg einzuschlagen schien.

»Meine Großmutter war auch hier, sagst du? Wie kann das möglich sein?«, fragte Celine nach einer Weile, als ihr das Schweigen leid wurde und die Neugier überwog.

»Mithilfe dieses Opals, sagt man. Ich dachte, du wüsstest das, wenn du hierherkommst«, antwortete Lilly und schien davon auszugehen, dass Celine ihre Reise in diese Urwelt bewusst angetreten war.

»Ich habe keine Ahnung, wie ich hier hergekommen bin«, erklärte Celine und betrachtete ihr Erbstück. »Da war dieses lilafarbene, bunt schimmernde Licht und dann fand ich mich an diesem Strand wieder. Wo bin ich, Lilly? In der Vergangenheit?«

Celine wurde langsam erneut Angst und Bange. Alles um sie herum schien real zu sein, und sie wachte einfach nicht auf. Als sie sich umdrehte, sah sie weit und breit diesen Strand, diesen Urwald und eine riesige Herde Dinosaurier. Dinge, die es bei ihr zu Hause nicht gab und von dem sie nicht einmal ahnte, dass das alles existierte.

»Willst du ihnen nicht folgen?«, wollte Celine wissen, als sie bemerkte, dass Lilly von der Richtungsänderung ihrer Familie keine Notiz nahm, sondern den Weg mit ihr zusammen weiter fortsetzte.

»Die finde ich schon wieder, sind ja laut genug«, kicherte die Sauropodin. »Außerdem müssten wir bald da sein. Auf deine andere Frage habe ich leider keine Antwort. Ich kenne nur die Überlieferungen, von dieser zweibeinigen Frau ohne Federn oder Schuppen, die meiner Ur-Oma geholfen hat. Aber bereits ihr selbst haben das nicht viele Dinos geglaubt. Die meisten denken, das wäre ausgemachter Blödsinn. Meine Oma hat die Geschichten dennoch weitererzählt und sogar eine ihrer wiedergefundenen Töchter nach Wilhelmine benannt. Meine Mutter Wilhelmina«, erzählte Lilly voller Stolz.

»Wiedergefundene Tochter. Was bedeutet das?«, fragte Celine.

»Ganz selten passiert es, dass wir Jungtiere zu unserer Mutter zurückfinden, nachdem wir völlig allein irgendwo im Wald aus unseren Eiern geschlüpft sind und uns an die Erdoberfläche gequält haben. Auf die meisten von uns warten dann bereits hungrige Räuber oder sie schaffen es erst gar nicht, aus der Nistmulde herauszufinden«, erklärte Lilly die ersten Momente ihres Lebens.

»Nistmulde? Du meinst, ihr Dinos vergrabt eure Eier wie Schildkröten in der Erde?«, hakte Celine weiter nach.

»Hihi, du meine Güte. Du weißt ja überhaupt nichts!«, kicherte Lilly erneut über Celines Unwissen.

»Äh, doch. Also, ich meine ... ähm, meine Oma hat mir mal so verrücktes Zeug erzählt, dass einige Dinos ihre Gelege ausbrüten, wie Vögel. Aber da muss sie sich wohl geirrt haben.«

»Ganz und gar nicht!«, rief Lilly und wedelte wieder mit ihrer Schwanzspitze, was einen leisen Pfeifton verursachte, wie, wenn jemand ein Lasso in der Luft herumwirbeln würde. »Das, was du Vögel nennst, nennen wir fliegende Räuber. Die kleineren Fleischfresser, ob nun am Boden jagend oder durch die Lüfte flatternd, setzten sich tatsächlich auf ihre Eier. Ich kann mir das auch nicht vorstellen. Wenn wir das machen würden, käme keines der Jungen jemals auf die Welt.« Lilly musste bei der Vorstellung herzhaft lachen.

»Du sagtest, die kleineren Fleischfresser. Was ist mit den Großen? Gibt es hier überhaupt große Raubsaurier?«, wollte Celine wissen und bei dem Gedanken, eine positive Antwort zu erhalten, wurde sie ganz nervös und blickte sich ängstlich um.

»Die Großen bauen sich Nesthügel und lassen die Eier von der Sonne und den darin entstehenden Fäulnisgasen ausbrüten«, führte Lilly ihre Erklärungen fort. »Andere Dinos bilden regelrechte Nistkolonien. Die Entenschnabeldinosaurier zum Beispiel. Im Gegensatz zu uns kümmern sich die Eltern dann auch um die Kleinen, die eine ganze Zeit lang in ihrem Nest hocken und ständig Angst haben müssen, von irgendeinem Räuber geschnappt zu werden. Davon gibt es derzeit leider immer mehr und sie werden zunehmend aggressiver.« Lilly schaute etwas wehmütig zu Boden, als hätten ihre Worte eine unangenehme Erinnerung in ihr wach gerufen. »Wir Langhälse sind von Anfang an unabhängig. Jeder, der erwachsen wird, kann stolz auf sich sein. Denn er hat es ganz allein geschafft, sich durchzukämpfen«, erklärte Lilly dann jedoch weiter und hob dabei souverän ihren Kopf in die Höhe.

»Ihr verbringt eure Kindheit also ganz allein? Ist das nicht traurig?«, stellte Celine fest und dachte daran, wie gut sie es doch in ihrer Kindheit gehabt hatte. Es war immer jemand da, der auf sie und ihre Schwester aufgepasst hat.

»Nein. Wir sind zuerst ganz viele. Wir schlüpfen alle an einem Tag und sind dann ständig auf der Hut vor gefräßigen Räubern. Da bleibt gar keine Zeit traurig zu sein und unsere Eltern haben wir nie kennengelernt«, sagte Lilly und legte ihren Kopf schief. »Als Schlupflinge ernähren wir uns hauptsächlich von Farn oder anderen niedrig wachsenden Pflanzen und leben daher fast ausschließlich tief im Wald. Dort können wir uns besser vor Feinden verstecken. Erst wenn wir zu groß für den schützenden Dschungel sind, wagen wir uns auf die offenen Flächen. Dann sind noch ein halbes Dutzend, meist aber nur ein bis drei Tiere übrig. Meine Oma sagt immer, dass das ein Schutz der Natur ist. Wenn alle der über hundert schlüpfenden Jungtiere pro Herde überleben würden, dann würden sie alle Pflanzen auffressen und damit die eigene Lebensgrundlage zerstören.«

Celine hörte die ganze Zeit gespannt zu, was der Dinosaurier ihr erzählte. Erst als Lilly den letzten Satz beendet hatte, merkte sie, dass sie Sand im Mund hatte. Sie hielt diesen die ganze Zeit offen, wie ein kleines Kind, das gespannt den Geschichten der Erwachsenen lauscht und dabei eine Menge neuer Sachen lernt. Die Abgeklärtheit, mit der die junge Sauropodin über den Tod ihrer Nestgefährten redete, beeindruckte die Elfjährige.

»Auch die Fleischfresser erfüllen ihren Zweck«, sprach Lilly weiter. »Mögen wir sie auch noch so sehr fürchten, akzeptieren wir sie dennoch. Weil sie dafür sorgen, dass kranke Tiere aus den Herden entnommen werden. Auf diese Weise sinkt für uns alle die Gefahr, uns ebenfalls mit irgendetwas anzustecken. Außerdem ist es besser, wenn alte oder schwache Saurier erlegt werden, damit die Jungen und Gesunden höhere Überlebenschancen haben.«

Lilly bemerkte Celines verwundertes Gesicht und stupste diese erneut an.

»Ja, es klingt alles grausam. Aber so ist der Lauf der Natur. Wenn jemand etwas daran ändern würde, hätte das für uns alle bittere Konsequenzen. Aus diesem Grund gibt es euch Beschützer.«

Beim letzten Satz schaute Lilly Celine erwartungsvoll an.

»Was? Ich? Beschützer? Nein, da irrst du dich«, winkte Celine hektisch ab, nachdem sie gemerkt hatte, dass Lilly sie meinte. »Ich bin ein elfjähriges Mädchen. Ich gehe zur Schule. Ich muss selbst noch beschützt werden. Tut mir wirklich leid, aber es scheint mir so, dass du mich mit jemanden verwechselst«, versuchte sie sich aus dieser unangenehmen Situation herauszureden.

»Aber du hast den Opal! Genau wie Wilhelmine einen gehabt haben soll. Du bist ihre Nachfahrin, also trittst du in ihre Fußstapfen. Das ist das, was meine Oma immer erzählt hat«, war sich Lilly weiterhin sicher.

»Aber meine Oma hat mir nie so was erzählt. Möglicherweise hätte sie das noch, aber sie ist tot, verdammt!«, Celine kamen die Tränen.

Bis zu diesem Punkt waren ihre Emotionen wie eingefroren gewesen. Doch nun war es einfach zu viel für sie. Erst der Tod ihrer Großmutter, die wie eine zweite Mutter für sie gewesen ist. Die gleichgültigen und geldgierigen Verwandten, die die restlichen Notizbücher ihrer Oma weggeworfen hatten und nun diese fremde Welt mit den sprechenden Dinosauriern. Das Schönste und Faszinierendste, was sie je gesehen hatte. Aber sie erwarteten Dinge von ihr, die sie niemals erfüllen könnte.

»Es tut mir leid, Celine. Ich kann dir nur sagen, was ich weiß. Ich hoffe, dass Poseidon dir weiterhelfen kann«, entschuldigte sich Lilly dafür, dass sie Celine so verunsichert hat. »Er kannte Wilhelmine noch persönlich und weiß einfach alles. Auch die Dinge, die uns restlichen Dinos unbegreiflich sind.«

»Nein, keine Sorge, Lilly. Du kannst nichts dafür. Es ist nur alles gerade ein bisschen zu viel für mich. Ich wünschte, meine Schwester wäre hier«, beruhigte Celine ihre neugewonnene Dino-Freundin.

»Du hast eine Schwester? Ich bin mir nicht sicher, aber vielleicht kann immer nur eine Person von eurer Sorte hierherkommen«, überlegte Lilly.

»Herkommen, aber wie? Ich weiß doch nicht wie ich hier hergekommen bin«, antwortete Celine und wischte sich ein paar Tränen aus dem Gesicht.

»Wo warst du denn vorher, wenn nicht hier?«, fragte endlich auch Lilly eine verrückte Frage.

»Na, zu Hause. Da, wo es im Moment bitterkalt ist und bereits später Abend und wo es vor allem keine Dinosaurier gibt. Na ja, bis auf die kleinen fliegenden Räuber, die wir Vögel nennen«, gab Celine zur Antwort und klang genervter als beabsichtigt.

»Bei euch gibt es nur noch kleine Raubsaurier? Keine Langhälse? Keine Horngesichter?«, wollte Lilly wissen und schien schockiert über Celines Beschreibung ihrer Heimat.

»Nein. Dinosaurier gelten bei uns seit Millionen von Jahren als ausgestorben. Bis auf die Vögel haben keine Arten überlebt, dachte ich. Nun bin ich hier und sehen dich und deine Herde. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.« Celine raufte sich völlig überfordert mit der Situation die Haare.

»Ausgestorben? Das klingt ja schrecklich.« Lilly schüttelte ihren großen Körper und schnaubte aus ihren Nasenlöchern aus. »Wer hat das getan? Wir sind doch so viele. Waren es unsere Feinde?«

»Ein Asteroid, sagt man. Ein großer Stein, der vom Himmel fällt und alles Leben um sich herum vernichtet«, hoffte Celine, es dem Sauropoden anschaulich erklärt zu haben. »Aber ich schätzte dieser Poseidon, von dem du sprichst, ist uns beiden eine Menge Antworten schuldig. Wann sind wir denn eigentlich da?«, wollte Celine wissen, denn die zweisame Wanderung zog sich mittlerweile ganz schön hin und ein Ende des Strandes war nicht abzusehen.

»Es ist noch ein Stück, bis wir das Meer erreichen«, vertröstete Lilly Celine.

»Das Meer erreichen? Aber wir laufen doch die ganze Zeit am Meer entlang«, verstand Celine mal wieder nur Bahnhof und deutete auf das Gewässer, an dem sie und die Diplodocus-Dame entlangliefen.

»Oh, das da! Das ist nur ein Fluss. Der Fluss, um genau zu sein. Er trennt unser Land von einem geheimen Ort, den nur wenige kennen. Dort soll es viele Tiere geben, die uns Dinosauriern nicht sonderlich gut gesinnt sind. Unsere Feinde. Deswegen dürfen wir da nicht hin. Selbst die Flugechsen wagen es nicht, an diesem Ufer zu landen«, erklärte Lilly und ließ ihren Blick über das Wasser gleiten.

»Pterosaurier! Ich habe sie vorhin einmal kurz gesehen, war mir allerdings nicht sicher. Dann sind das nicht nur Vögel, die hier durch die Luft fliegen?«, fragte Celine erstaunt nach.

»Nein, es gibt hier noch andere Reptilien außer Dinosaurier. Flugsaurier und Meeressaurier, wie auch Poseidon einer ist. Und natürlich die Tiere auf der anderen Seite des Flusses. Du wirst sie noch alle kennenlernen oder von ihnen erfahren«, versichere Lilly.

In diesem Moment kam wieder der kleine Compsognathus angeflitzt, der bis dahin etwas zurückgeblieben war, Celine und Lilly aber stets folgte. Er rannte piepsend und fiepsend eine kleine Anhöhe hinauf. Dann war es Celine so, als würde sie ein zweites Fiepsen hören.

»Da ist ja noch so ein Kerlchen!«, rief sie entzückt darüber, dass plötzlich zwei Compies vor ihnen herumwuselten.

»Ja, als wäre einer nicht schon lästig genug«, grummelte Lilly in sich hinein.

Als die vier ungleichen Weggefährten den steilen Sandhügel heraufgeklettert waren, wurde der Boden langsam felsiger und es fiel ihnen leichter, zu laufen. Auch hörte damit das Herumwirbeln der Sandkörner endlich auf und Celine konnte besser in die Ferne schauen.

Dort sah sie etwas, das sie an diesem sonderbaren Ort niemals für möglich gehalten hätte.

»Sophie? Sophie! Da- da ist meine ... das ist meine Schwester! Da vorne sitzt meine Schwester!«, rief Celine überglücklich und sorgte für Verwirrung bei der Langhals-Dame.

»Sie ist also auch hier. Was für ein Glü-«, Celine konnte den Satz nicht zu Ende sprechen, denn etwas anderes verschlug ihr von einem auf den anderen Moment die Sprache.

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