[03] Die Stimme in meinem Kopf

DIE HITZE MACHTE Celine zu schaffen. Am liebsten würde sie ihre gefütterte Jacke und ihr Sweatshirt ausziehen, unter dem sich ein weiteres Top befand. Der perfekte Zwiebellook für die kühlen Oktobertage – nicht für das hier herrschende Tropenklima. Doch sie wagte in diesem Moment nicht, einen Muskel zu bewegen, denn sie war wie gebannt von dem, was sie auf sich zukommen sah.

Nachdem eine Windböe die große Staubwolke verweht hatte, erkannte Celine riesige Geschöpfe, die sich im moderaten Tempo auf sie zubewegten. Sie konnte jedoch nicht sagen, wie viele es waren, denn sie liefen mindestens zu dritt nebeneinander und jeder Gruppe folgten weitere Tiere verschiedener Größen. Ein paar der Kleinsten scherten immer wieder aus der Formation aus, um an den Rändern der Kolonne zu traben.

Celine suchte unaufhörlich nach einer plausibleren Erklärung. Sie hatte diese Art von Lebewesen schon einmal gesehen. Doch bislang nur in Büchern, Filmen oder allenfalls als Spielzeugfiguren. In Wirklichkeit konnte und durfte es diese Tiere nicht geben. Nicht mehr. Aber es war nicht abzustreiten, dass es sich bei diesen riesigen Tieren mit ihren tonnenförmigen Körpern und meterlangen Hälsen und noch längeren, spitz zulaufenden Schwänzen, die wie Peitschen aussahen, um Dinosaurier handelte.

Langhälse oder Sauropoden, wie sie von Fachleuten genannt werden.

Das konnte nicht sein. Diese Tiere gibt es nicht mehr und das schon seit vielen Millionen Jahren. Seit 66 Millionen Jahre, sagte Oma Willi immer. Doch sie musste sich irren, denn überall war die weltberühmte Zahl 65 Millionen Jahre zu lesen. Allerdings hatte ihre Oma stets ihre eigenen Interpretationen beim Thema Dinosaurier in ihre Geschichten eingebracht, was Celine und vor allem Sophie irgendwann daran zweifeln ließen, dass Oma Willi Ahnung von dem hatte, was sie da erzählte.

Celine stand weiterhin wie angewurzelt an diesem seltsamen Strand, von dem sie nach wie vor nicht wusste, wie sie überhaupt dorthin gekommen war, und tausend Gedanken rannten durch ihren Kopf. Sie begann sich einzureden, dass sie tatsächlich einen sonderbaren Traum hatte, nachdem sie in letzter Zeit zu oft an ihre Oma und deren Geschichten gedacht hatte. Gleichzeitig schien alles so verdammt real zu sein. Sie konnte die Umgebung um sich herum spüren. Den feinen Sand, der an ihrer Haut klebte, den Wind, der ihr um die Nase wehte. Vor allem jedoch das fortwährende Vibrieren des Bodens, welches durch die Tiere verursacht wurden, die nun bereits genau an ihr vorbeischritten.

Waren das wirklich lebendige Dinosaurier?

Wenn ja, dann waren diese komischen Strauße von vorhin vermutlich auch keine Strauße, sondern sogenannte Ornithomimiden – Vogelnachahmer, die in Celines Kinder-Dino-Buch wie übergroße gerupfte Hühnchen dargestellt wurden. Hatte Oma Willi also recht und Dinosaurier hatten ein Gefieder? Zumindest bei jener Art schien das der Fall zu sein. Bei den Langhälsen konnte sie keine Federn ausmachen. Dafür zog sich eine Linie Stacheln längst über ihren Rücken, ähnlich wie bei einem Leguan. Bei dem größten Tier an der Spitze der Herde waren auch die Stacheln am größten. Dieses Tier war es auch, welches ein lautes Signal gab, ähnlich einem Heulen und mit der peitschenartigen Schwanzspitze hörbar in die Luft schlug, woraufhin der Rest der Gruppe zum Stehen kam.

Nun drehte das beeindruckende Geschöpf seinen langen Hals mit dem vergleichsweise winzigen, pferdeähnlichen Kopf zu Celine und betrachtete sie eindringlich. Celine war sprachlos und konnte ihrerseits den Blick nicht von dem Sauropoden abwenden. Er musste etwa dreißig Meter lang gewesen sein und über vier Meter an der höchsten Stelle seines stacheligen Rückens. Entlang der Flanken befanden sich zahlreiche unterschiedlich große Hornplatten und die schuppige Haut glänzte und schimmerte an einigen Stellen wie dunkles Perlmutt. Besonders der Kopf und Kehlbereich war farbiger als der Rest des Körpers. Die peitschenartige Schwanzspitze wies eine Art Zebramuster auf und schien eine Signalwirkung auf Artgenossen zu haben.

Innerhalb der Gruppe machte Celine einige Tiere aus, die zwar kleiner als der Langhals an der Spitze waren, aber dafür eine farbenfrohere Zeichnung am Kopf-, Kehl- und Flankenbereich aufwiesen. Auch die Wamme am ersten Viertel des Halses war wesentlich stärker ausgeprägt. Vielleicht waren diese Tiere die Männchen? Aber wer war das große Tier, welches Celine nach wie vor neugierig betrachtete? Die Leitkuh etwa, wie es solche bei Elefanten gab?

Während Celine darüber nachdachte, merkte sie nicht, dass in der Zwischenzeit eines der kleineren, unauffälliger gefärbten Tiere zu ihr kam und bereits bei ihr stand.

»Hallo. Wer bist denn du?«, hörte Celine eine weibliche Stimme in ihrem Kopf, während sie sich gleichzeitig vor einem hohen brummenden Geräusch direkt neben ihr erschrak.

Erst jetzt bemerkte Celine, dass sie Gesellschaft von einem halbwüchsigen Sauropoden bekommen hatte, der sie ebenfalls neugierig beäugte. Sie schluckte und kniff mehrmals die Augen zusammen. Der Saurier verschwand nicht, wie erwartet. Die Elfjährige holte tief Luft und nahm schließlich allen Mut zusammen.

»Hey, na? Was bist du denn für ein Geschöpf?«, sprach Celine das Tier an und betrachtete ehrfürchtig jeden einzelnen Zentimeter des Langhalses.

Er war einfach wunderschön auf seine ganz eigene und ungewöhnliche Art. Die Nasenlöcher lagen nicht so hoch am Kopf, wie auf den Zeichnungen in Celines Büchern und die Augen blickten sie wach und intelligent an. Dabei hieß es doch, dass Sauropoden mit der Intelligenz nicht punkten konnten.

»Ich bin ein Diplodocus, das sieht man doch. Aber so was wie dich habe ich noch nie gesehen. Sind das da Schuppen oder Federn auf deinem Kopf?«, hörte Celine wieder die weibliche Stimme, die sie zuvor als Einbildung abgetan hatte.

Dazu ertönte von dem Tier erneut ein komisches Brummen. Sollte der Dinosaurier wirklich mit ihr Sprechen können?

»Hast du gerade mit mir gesprochen?«, fragte Celine das Tier und kam sich im selben Moment lächerlich dabei vor, dies für möglich zu halten.

»Du bist ja echt komisch. Natürlich spreche ich mit dir. Du sprichst ja auch mit mir. Ich bin Lilly und wie heißt du?«, bestätigte der Saurier Celines verrückten Vermutungen.

Lilly stupste Celine mit ihrem Kopf an, was sie fast aus den Socken gehauen hätte. Als sie einen Schritt rückwärtsgehen wollte, bemerkte sie, dass etwas Kleines an ihrem Bein herum hüpfte.

Es war ein Vogel oder irgendetwas Ähnliches. Ungefähr hühnergroß, nur schlanker und mit einem eng anliegenden grünlich-braunen Gefieder. Rund um den Kopf und an den Flügeln sowie am langen Schwanz waren die Federn länger und teilweise anders gefärbt. Rötlich-Weiß, Schwarz und Grau.

Doch Moment! Waren das etwa Hände an seinen Flügeln? Sie meinte, lange dünne Finger mit Krallen erkennen zu können, die sie von Vögeln her bisher nicht kannte. Celine betrachtete das hüpfende und quietschende Tier genauer und stellte noch mehr Dinge fest, die es von einem herkömmlichen Vogel unterschieden.

Das Geschöpf hatte keinen Schnabel, sondern ein mit vielen spitzen Zähnen bewährtes Maul, ähnlich einem kleinen fleischfressenden Reptil. Die vermeintlichen Flügel waren in Wirklichkeit Arme, die in drei Fingern endeten. Der Schwanz war unheimlich lang und tatsächlich nicht nur eine Schwanzfeder, sondern ein richtiger knöcherner Schwanz, der waagerecht und nahezu unbeweglich von dem kleinen Wesen abstand.

»Achte gar nicht auf den. Diese Compies sind einfach nur lästig«, sagte der Sauropode und schüttelte den Kopf, als hätte sie etwas Unangenehmes gegessen.

»Das ist ein Compsognathus, habe ich recht?«, fragte Celine und musste breit grinsen.

Das war alles viel zu real, um ein Traum sein zu können, dachte Celine. War sie wirklich umgeben von echten, lebendigen Dinosauriern? War dieser kleine Vertreter die Bestätigung, dass Dinos Federn hatten und weitaus agiler und intelligenter waren, als man es ihnen zumutete?

»Ja, ein Compsognathus«, bestätigte Lilly Celines Vermutung und ihre Stimme klang genervt. »Die Ausgewachsenen sind schon lästig, aber diese Jungtiere können es einfach nicht lassen, zwischen unsere Herden hindurch zu rennen und am Ende meckern wieder alle, wenn wir einen zertreten haben. Als ob wir sehen würden, was hinten bei unseren Füßen passiert. Unglaublich!«, erzählte Lilly.

Celine hörte ihre Worte nach wie vor lediglich in ihrem Kopf. Ihre Ohren vernahmen immer nur einen hohen Brummton. Als ob ihr Gehirn automatisch übersetzen würde, was der Diplodocus zu sagen hatte. So etwas Faszinierendes hatte Celine nie zuvor geträumt. Es war doch ein Traum, oder? Sie war sich dessen nach wie vor nicht sicher und bekam Kopfweh, vom vielen Überlegen oder vom plötzlichen Klimaumschwung.

Sie entschied sich, endlich ihre Jacke und das Sweatshirt auszuziehen und erhoffte sich dadurch einen klareren Kopf. Doch sowohl die Kopfschmerzen als auch das gefiederte Reptil blieben so real wie zuvor.

»Also ich finde ihn ganz niedlich«, antwortete Celine und ging in die Hocke, um sich den kleinen Fleischfresser aus der Nähe zu betrachten.

Sie merkte jetzt, dass sie ihr Handeln und Denken aktiv lenken konnte. Das war in normalen Träumen in dieser Weise nicht möglich. Sie träumte also nicht? Sie war vielleicht wirklich an diesem Ort und ein echter Dinosaurier blickte sie neugierig mit schief gehaltenem Kopf an.

»Das sagen am Anfang alle«, sagte Lilly weiterhin genervt von dem Compsognathus. »Hast du wirklich noch nie einen gesehen, ähm, wie war dein Name?«, fragte sie anschließend und kam noch zwei Schritte näher auf Celine zu.

»Oh, Verzeihung. Ich habe mich noch nicht vorgestellt. Mein Name ist Celine. Celine Krauss. Ich bin zum ersten Mal hier. Wo auch immer das sein mag. Leider weiß ich nicht einmal, wie ich hierhergekommen bin und wie ich wieder nach Hause komme«, antwortete Celine und bekam so langsam Panik, dass sie das alles tatsächlich nicht nur träumte und womöglich nicht mehr zurückfinden würde.

»Krauss? Das sagt mir etwas. Bist du, ich meine, kann es sein, dass du die sagenumwobene Wilhelmine Krauss kennst?«, fragte Lilly völlig überrascht nach.

Celine stockte der Atem. Sie schaute den Sauropoden mit offenen Mund an und konnte nicht glauben, dass dieses Tier diesen Namen aussprach.

»Sag jetzt nicht, dass du sie kennst!«, rief Celine aus und musste sich setzen.

Der Compsognathus sprang daraufhin sofort in ihren Schoß, aber Celine war zu verblüfft, um dies bewusst wahrzunehmen. Sie stützte sich mit ihren Händen auf den weichen Sandboden ab, ließ den Blick zur Herde schweifen. War Oma Willi auch hier gewesen? Wusste sie deshalb so viel über Dinosaurier?

»Nein, ich selbst kenne sie nicht«, sprach Lilly weiter. »Aber meine Ur-Großmutter hatte sie gekannt. Concordia war ihr Name. Sie verdankte Wilhelmine damals ihr Leben. Ich wurde nach ihrer Lieblingsblume, der Lilie benannt. Mittlerweile glaubt aber kein Dino mehr daran, dass die Geschichten um unsere Retterin wahr sind. Sie wurde schon seit vielen Jahrzehnten nicht mehr hier gesehen. Weißt du, was mit ihr passiert ist?«

»Wilhelmine war meine Oma. Sie ist vor Kurzem gestorben«, antwortete Celine traurig.

»Oh, das tut mir leid. Also bist du auch ein Mensch und die prophezeite Nachfolgerin von Wilhelmine?«, wollte Lilly weiter wissen.

»Ich bin ein Mensch, ja. Aber ich weiß nichts von einer Prophezeiung«, erwiderte Celine verwirrt.

»Aber du hast den Opal«, sagte Lilly und deutete mit ihrer Schnauze auf Celines Brust, auf dem das Erbstück ihrer Oma prangte. »Oma, sie hat den Opal! Wilhelmines Nachfolgerin ist hier! Die Legende ist wahr!«, rief Lilly plötzlich dem großen Tier an der Spitze der Herde zu und ließ aufgeregt ihre lange dünne Schwanzspitze in der Luft wirbeln.

Erst jetzt registrierte Celine, dass ihr Opal jedes Mal, wenn der Sauropode mit ihr sprach, anfing, leicht zu glimmen. Sorgte eine in ihm verborgene Macht dafür, dass sie sich mit den Tieren unterhalten konnte? Der große Sauropode gab auch solche Brummlaute von sich, aber diese wurden nicht in Celines Kopf übersetzt. Jedoch schien sie recht damit gehabt zu haben, dass es sich hierbei um die Leitkuh handelte.

»Ich hab recht, ätsch!«, freute sich Lilly, mit ihrer Vermutung ins Schwarze getroffen zu haben. »Meine Oma sagt das auch und sie ist die Anführerin unserer Herde. Also muss es stimmen. Ihr Name ist Walburga«, verkündete sie mit einem stolzen Blick zu dem Diplodocus.

Celine war überrascht, dass Lilly klang, wie ein normaler Teenager.

»Wieso kann ich ihre Stimme nicht in meinem Kopf hören?«, fragte sie, als sie die Unwissenheit darüber nicht mehr aushielt.

»Das war damals bei Wilhelmine wohl auch schon der Fall. Nicht alle Dinosaurier konnten mit ihr sprechen«, wusste Lilly zu berichten. »Ich kann dir leider nicht sagen, warum. Aber ich kenne jemanden, der dir diese Frage beantworten kann. Ein weiser, alter Liopleurodon. Dazu müsstest du mir allerdings folgen«, schlug Lilly vor und zwinkerte Celine zu.

»Folgen? Wohin?«, fragte Celine unsicher nach.

»Na, ans Meer!«, antwortete Lilly und trabte schwerfällig davon.

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