[02] Das seltsame Tier

Sonntag, 29. Oktober 2000

SEIT DER BEERDIGUNG ihrer Oma vor einer Woche hatten Celine und ihre Schwester nicht viel miteinander gesprochen. Sophie war der Meinung, dass Celine versuchen sollte, mit allem abzuschließen. Damit meinte sie nicht nur den Tod ihrer Großmutter, sondern im Speziellen die Dinosauriergeschichten, die sie ihnen als Kinder vorgelesen hatte. Die Elfjährige versuchte, mit ihrer älteren Schwester darüber zu reden, wie schade dieser Verlust sei, aber diese blockte ab und verzog sich in ihr Zimmer. Celine glaubte nicht, dass es Sophie so wenig bedeutete, wie diese vorgab. Des Öfteren hatte die Vierzehnjährige in der Vergangenheit eine Mauer um sich aufgebaut, damit ihre wahren Gefühle vor den Augen der anderen verborgen blieben.

Seit ein oder zwei Jahren zog sich Sophie ohnehin vermehrt in ihre eigene Welt zurück. Ihre Eltern sprachen vom Beginn der Pubertät. Celine hoffte, dass diese bei ihr selbst nicht genauso verlaufen würde, denn eigentlich war sie gern unter Menschen und nicht den ganzen Tag unter Kopfhörern.

Dennoch war auch Celine froh darüber, dass sie noch ein paar Tage Ruhe vor der Schule hatten. Nach dem Tod ihrer Oma am Freitag, den 13. Oktober, waren sie und Sophie für die restlichen drei Schultage bis zu den Herbstferien vom Unterricht befreit worden. Während Sophie in den Ferien ein einwöchiges Praktikum bei der örtlichen Zoofachhandlung absolvierte, nutzte Celine die Zeit, um sich ihrer Trauer hinzugeben, und in Erinnerungen zu schwelgen.

Sie und Sophie mussten erst am Donnerstag, den 2. November wieder zur Schule gehen. Sicherlich werden ihre Mitschüler sie mit mitleidigen Blicken überhäufen. Aber sie würden auch ihre Schulfreunde wiedersehen. Vielleicht können sie dadurch leichter zurück zur Normalität finden? Celine hoffte, dass sie aufhören würde, ständig an ihre Oma und die für immer zerstörten Bücher zu denken, sobald sie unter Freunden war. Womöglich würde sich dann auch das Verhältnis zwischen ihr und Sophie wieder verbessern.

Am Abend kam Celines Mutter später von der Arbeit nach Hause. Sie war zuvor noch beim Juwelier Delusius gewesen, um Oma Willis Opal-Anhänger abzuholen, den dieser in zwei kleinere Amulette umgewandelt hatte. Zur positiven Überraschung der Schwestern war aus dem etwas schrullig wirkenden Klunker ein modernes Schmuckstück geworden, welches durchaus von einer Elf- beziehungsweise Vierzehnjährigen getragen werden konnte. Celine war überglücklich, endlich ein ganz persönliches Erinnerungsstück von ihrer verstorbenen Oma zu haben. Sogar Sophie schien langsam wieder aus sich herauszukommen und Celine sah ihre Schwester zum ersten Mal seit über einer Woche lächeln.

Und bei genauerem Hinsehen bemerkte Celine, dass dieser Edelstein alles andere als altbacken aussah. Im Gegenteil! Er strahlte und funkelte in den verschiedensten Farben. Es hatte den Anschein, als würde in seinem Inneren eine eigene winzige Welt existieren. Der Opal den Blick des Mädchens in seinen Bann und ließ ihn nicht mehr los. Beinahe so, wie die Dinosauriergeschichten ihrer Oma vor vielen Jahren.

Leider konnte sie sich an die meisten der Geschichten kaum noch erinnern. Celine wusste lediglich, dass diese Erzählungen etwas Magisches und Besonderes waren. Als hätte Oma Willi alles selbst erlebt. Aber vermutlich hatte sie nur zu viel Fantasie. Dinosaurier mit bunten Federn waren einfach zu abwegig, um glaubhaft zu sein. Jeder wusste schließlich, dass es Reptilien waren, und Reptilien haben Schuppen beziehungsweise Panzer, kein Gefieder! Oder etwa doch? Gab es da nicht diesen Urvogel, Arche-Dingsda? Mag sein, dass sich aus den Dinosauriern wirklich die heutigen Vögel entwickelt haben. Aber wenn dem so wäre, wie konnte Oma Willi das alles gewusst haben? Immerhin schrieb sie diese Bücher als junges Mädchen, nicht viel älter als Celine und Sophie heute waren. Zu einer Zeit, als man Dinos als schwerfällige Riesenechsen darstellte oder gar nichts von ihnen wusste. Denn während Zweiten Weltkriegs hatten die meisten Menschen genug andere Sorgen, als über Dinosaurier nachzudenken.

So viel Celine auch grübelte, sie kam zu keinem Ergebnis, welches ihr als logisch erschien. Sie entschied also, es ihrer Schwester gleichzutun und einen Strich unter die Sache zu machen. Vielleicht ist es ein guter Zeitpunkt, um langsam mit der Kindheit abzuschließen, dachte die Elfjährige. Immerhin fingen einige ihrer Klassenkameradinnen bereits an sich zu schminken und sich für Mode und Jungs zu interessieren. Celine mit ihren Dinosauriern wurde zunehmend belächelt.

»Erwachsen werdet ihr früh genug. Genießt eure Kindheit, so lange ihr möchtet«, sagte Oma Willi immer und Celine fand, dass ihre Oma damit recht hatte.

Jetzt war ihre Großmutter nicht mehr da. Ob sie sie wohl von der anderen Seite aus beobachten würde? Celine hatte noch so viele unbeantwortete Fragen. Aber es war sinnlos, auf Antwort zu hoffen. Sie ging an ihr Fenster und öffnete dieses, um frische Luft in ihr Zimmer zu lassen. Es war nach 20 Uhr und auf den Straßen und Wegen vor ihrem Haus war nicht viel los. Einzig ein herrenloser Hund trottete auf dem Fußweg gegenüber entlang. Oder doch nicht? Irgendwie sah dieser vermeintliche Hund seltsam aus. War es überhaupt ein Hund?

»Was ist das denn für ein Vieh?«, dachte Celine und schaute noch einmal genauer hin.

Das zunächst auf allen vieren am Boden schnüffelnde Tier mit dem auffällig langen Schwanz richtete sich plötzlich auf seine Hinterbeine auf, hielt seine Nase neugierig in den kühlen Wind und schaute sich suchend um. Es schien einen ziemlich dicken Pelz und riesige Augen zu haben. Aber ein Hund war das nicht. Jedenfalls keiner, den Celine kannte.

Kurzerhand band Celine ihre schulterlangen dunkelbraunen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammen, zog ihre Jacke an und ging nach draußen, um sich das ungewöhnliche Tier aus der Nähe anzusehen. Doch als Celine zur Tür hinausging, erschrak das Geschöpf und flitzte auf seinen schlanken Hinterbeinen davon. Celine nahm sofort die Verfolgung auf, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, dass das fremde Getier vielleicht gefährlich sein könnte.

Sie konnte es noch eine Weile sehen, dann bog es hinter einer Hauswand ab und Celine verlor seine Spur. Sie schaute sich ein paar Mal um, aber das Tier blieb verschwunden. Daraufhin entschloss sie, zurück ins Haus zu gehen. Allerdings kam sie nicht weit, denn ihre Aufmerksamkeit wurde auf etwas anderes gelenkt.

Ihr Opal-Anhänger begann zu leuchten. Zuerst war es nur ein leichtes Glimmen, welches langsam immer heller wurde. Sie nahm das Schmuckstück in die Hand und betrachtete es neugierig. So etwas hatte sie zuvor noch nie gesehen. Instinktiv rieb sie mit dem Daumen ein paarmal darüber, als wolle sie den Lichtschein wegwischen. Doch dieser wurde nur intensiver.

Nach kurzer Zeit war Celine komplett in ein violettes Licht gehüllt und in vielen Farben zuckten und funkelten weitere Lichter um sie herum. Genauso, wie der Opal ihrer Großmutter aussah. Als wäre sie in diesem Stein gefangen. Ehe sie darüber nachdenken konnte, was da gerade um sie herum passierte, verlor Celine den Boden unter ihren Füßen. Es fühlte sich so an, als würde eine unsichtbare Kraft an ihr reißen. Nachdem es für einen Augenblick finster geworden war, landete sie schlussendlich auf einen weichen Untergrund.

Sie hatte vor Angst die Augen ganz fest geschlossen und traute sich lange nicht diese wieder zu öffnen. Doch sie merkte, dass es um sie herum wieder hell sein musste. Taghell und warm, als würde die Sonne scheinen. Als sie vorhin ihr Elternhaus verlassen hatte, war es bereits dunkel gewesen. Vielleicht war sie nur eingeschlafen und hatte das eben Erlebte nur geträumt? Möglicherweise lag sie in ihrem Bett und jemand hatte das Licht in ihrem Zimmer angemacht? Aber was waren das dann für Geräusche um sie herum?

Was sie hörte, klang wie das Zwitschern unzähliger verschiedener Vögel. Ein wildes Durcheinander an Krächzen, Tirilieren, Krähen, Pfeifen und Fauchen war zu hören. Hatte Celine den Fernseher angelassen und es lief eine Reportage über tropische Regenwälder? Die Neugierde siegte schließlich und Celine öffnete vorsichtig ihre Augen.

Sie fand sich auf einem sandigen Untergrund wieder und das gleißend helle Licht der Sonne blendete sie. Als sie nach einer Weile wieder richtig sehen konnte, war sie überwältigt von dem Anblick, der sich ihr bot.

Celine lag bäuchlings an einem Strand. Rechts neben ihr befand sich ein Meer oder riesiger See, das konnte sie nicht erkennen, denn das Wasser reichte bis zum Horizont. Etwa hundert Meter zu ihrer Linken erstreckte sich ein Dschungel. Der Himmel war wolkenlos und die Temperaturen ungewöhnlich schwül-warm. Immerhin war es Mitte Oktober. Eigentlich.

»Wo bin ich denn hier gelandet?«, fragte Celine zu sich selbst. »Vermutlich bin ich beim Fernsehgucken eingeschlafen.«

Sie schob ein paar Haarsträhnen, die an ihrer schweißnassen Stirn klebten, zur Seite und schaute sich weiter um. Im Sand erkannte sie sonderbar aussehende Fußspuren. Einige waren viel größer als die anderen. Sie konnte sie keinem Tier zuordnen. Die Spuren wiesen drei Zehen auf. Mal waren sie eher rundlich geformt und mal waren spitze Krallen zu erkennen. Doch der leichte Wind hatte den Sand bereits zu sehr aufgewirbelt, um die Abdrücke vollständig erkennen zu können.

Mit einem Mal hörte sie etwas in dem Urwald neben ihr rascheln und es kam näher. Celine hatte keine Ahnung, was da auf sie zukommen mochte, doch ihr war nicht wohl dabei. Vielleicht war es ein Raubtier oder ein wilder Stamm, dem sie mit Händen und Füßen klarmachen müsse, wer sie ist und, dass sie in friedlicher Absicht kam. Das Knistern im Geäst war sehr nah. Bald würde sie erfahren, wer oder was es verursachte.

Ein komisches Gackern und Fiepen war zu hören, fast wie ein Dutzend übergroßer Hühner. Dann polterten auf einmal viele Strauße aus dem Wald. Sie rannten zunächst genau in Celines Richtung und schlugen erst kurz vor ihr einen scharfen Haken nach rechts, um den Strand hinunter zu rennen. Aber Celine bemerkte rasch, dass diese Tiere keine normalen Strauße waren. Sie waren ziemlich groß und hatten lange waagerecht gehaltene Schwänze. Auch die Farbe ihres Gefieders war ungewöhnlich. Solche Vögel hatte sie noch nie zuvor gesehen.

Als sie der Herde noch eine Weile nachblickte, vernahm Celine bereits das nächste exotische Geräusch näherkommen. Es war, als würde die Erde vibrieren und sie hörte ein Grummeln, Knattern und Brummen, welches sich genau in ihre Richtung bewegte. Diese Laute erinnerten Celine an die Darmgeräusche einer Kuh. Besonders schön klang dagegen das fast schon melodische Singen, das ebenfalls zu hören war und an die Töne irgendwelcher großen Tiere, Wale zum Beispiel, erinnerten, aber dennoch anders waren. Als sie sich umdrehte, sah sie eine große Staubwolke auf sich zukommen. Celine wollte davonrennen, brachte es jedoch nicht über sich. Stattdessen blieb sie wie angewurzelt stehen und traute ihren Augen nicht, als sie erkannte, was wirklich auf sie zukam.

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