[01] Das Vermächtnis
Sonntag, 22. Oktober 2000
EINE BEDRÜCKENDE STILLE erfüllte das kleine Jugendzimmer, in dem ansonsten nahezu den ganzen Tag lang Musik oder der Fernseher lief. Die Schränke mit den Dinosaurier- und Tier-Postern wirkten bedrohlich und die Kuscheltiere wie stumme Beobachter. Draußen wehte ein kühler Wind und die Sonne versank langsam hinter dem Horizont. Lange Schatten breiteten sich in dem Raum aus. Doch Celine Krauss schaltete das Licht nicht an. Sie wollte diese Stille und die aufziehende Dunkelheit, denn genauso sah es im Moment auch in ihr aus.
Die Elfjährige hatte eine der weißen Rosen in der Hand, die auf der Café-Tafel des Bestattungsinstituts lag. Sie konnte nicht verstehen, wie man zu solch einem Anlass Kaffee und Kuchen kredenzen konnte. Sie selbst hatte keinen Bissen herunter bekommen. Viel zu sehr litt Celine unter dem endgültigen Abschied von ihrer geliebten Oma. Einigen ihrer Verwandten schien der Verlust der gutmütigen älteren Dame nicht besonders viel auszumachen.
»Wer weiß, welche altersbedingten Probleme uns damit erspart geblieben sind. Die Natur weiß schon, was am besten ist«, merkte zum Beispiel Celines Tante Dagmar ganz und gar unsensibel an und rümpfte dabei abfällig die Nase.
Dagmar Kaufmann und Onkel Maik waren noch nicht lange zusammen. Celine war der Meinung, dass sie gar nicht zur Beerdigung seiner Mutter hätte eingeladen werden sollen. Diese Person hatte es nicht einmal für nötig gehalten, bei deren 70. Geburtstag persönlich zu erscheinen. Lediglich eine aus einem Kalender ausgeschnittene Postkarte hatte sie letztes Jahr geschickt. Oma Willi war es gleich. Sie glaubte ohnehin nicht, dass die beiden mehr als drei Jahre zusammenbleiben würden. Denn viel länger hatte es Onkel Maik bislang nie mit einer Frau ausgehalten – oder eine Frau mit ihm. Noch dazu war Dagmar mehr als zehn Jahre jünger als er und hatte selbst keinen guten Kontakt zu ihrer Familie.
»Ein Herz aus Stein hat sie. Hauptsache immer neue Klamotten und jede Woche zum Friseur«, hörte Celine ihre Oma einmal über Dagmar vor sich hinmurmeln.
Was würde sie nur dazu sagen, dass genau diese Dame sich an ihrem Leichenschmaus satt gefuttert hatte?
Viel lieber, als diese schnippische Person, mit ihrer auffälligen Dauerwellenfrisur, hätte Celine an diesem schweren Tag ihre ältere Schwester an ihrer Seite gehabt. Aber Sophie, glänzte bei der Beerdigung mit Abwesenheit. Sie schob ihr am nächsten Tag beginnendes Praktikum vor. Celine war sich jedoch sicher, dass ihre Schwester ihre eigene Trauer vorzugsweise mit sich selbst im stillen Kämmerlein ausmachte. Vielleicht war es die bessere Entscheidung gewesen, diesem Stelldichein der buckligen Verwandtschaft fernzubleiben? Ein würdevolles Abschiednehmen war für Celine bei diesem Kaffeekränzchen ohnehin nicht möglich. Nach wenigen Minuten standen bereits wieder die lästigen Alltagsthemen wie Politik oder Promi-Skandale und auch das Lästern und Tratschen über Leute, die Celine nicht kannte, an der Tagesordnung. Und natürlich Krankheiten. Als hätte es davon nicht bereits genug gegeben.
Das hat Oma Willi nicht verdient, dachte Sophie und schaute wehmütig auf das eingerahmte Foto, das auf ihrem Schreibtisch stand. Celine und Sophie waren als Kinder oft bei ihr gewesen. Nach der Schule hat sich Wilhelmine, wie Oma Willi eigentlich hieß, immer gerne um ihre beiden Enkeltöchter gekümmert.
Da Willi selbst nur eine Tochter hatte, waren sie und ihre Mutter Nadine die einzigen Mädchen in der Familie. Von den drei Söhnen hatten alle ebenfalls nur Buben und diese hefteten sich lieber an die Großväter und fachsimpelten über Autos, Fußball oder Handwerkliches. Als Oma Willis Mann, Opa Herbert, noch lebte, versuchte sie immer wieder Zeit mit ihren Enkelsöhnen zu verbringen. Doch vermutlich fürchteten diese, dann stricken oder kochen zu müssen. Opa Herbert kam bei einem Arbeitsunfall ums Leben, als Celine und Sophie Kleinkinder waren. Sie hatten ihn kaum gekannt und ihre Oma zeitlebens für sich allein, denn ihre Cousins kamen seitdem, abgesehen von irgendwelchen Feiertagen, nicht mehr oft zu ihrer Großmutter.
Dafür kannten die Mädchen ihre Oma Willi so gut, wie sonst niemand aus ihrer Familie. Und es war den Schwestern unverständlich, dass Oma Willi keinen Zugang zu den Jungs finden konnte. Denn Wilhelmine hatte ein besonderes Interesse, welches normalerweise die Herzen zahlreicher kleiner und großer Knaben auf der ganzen Welt höherschlagen ließ und weit entfernt von den gängigen Oma-Klischees wie Nähen oder Backen lag:
Dinosaurier.
Oma Willi las Celine und Sophie oft aus ihren handgeschriebenen Büchern Geschichten über die urzeitlichen Echsen vor. Manchmal, als die Schwestern jünger waren, konnten sie danach nicht einschlafen. Also ließ die fürsorgliche ältere Dame die dramatischeren Stellen irgendwann aus.
Dennoch zogen diese faszinierenden Tiere die Mädchen seit jeher in ihren Bann. Auch wenn die Dinos aus den Erzählungen ihrer Oma komplett anders aussahen, als jene aus bekannten Filmen oder Serien. Groß, plump, kaltblütig, langsam und mit einer grünen eidechsenartigen Haut. So sahen diese Schrecklichen Echsen für die meisten Menschen Ende der 1990er Jahre aus. Allerdings nicht bei Oma Willi!
»Nicht wenige von ihnen hatten ein buntes Federkleid. Männchen und Weibchen konnte man an unterschiedliche Farben oder Größen ihrer Federn erkennen. Viele waren äußerst flink und jede Art hatte ihre eigene ganz individuelle Lebensweise«, wusste die alte Dame zu berichten und widersprach damit sogar den Jurassic Park-Filmen, die vor ein paar Jahren die allgemeine Sicht auf Dinosaurier grundlegend verändert hatten.
Bei diesem Blockbuster musste Oma Willi immer herzerweichend lachen, wenn sie zum Beispiel einen der Film-Dinos lautstark brüllen hörte. Denn diese Tiere brüllten nicht wie Löwen und trompeteten nicht wie Elefanten, war sich Oma Willi sicher. Ihre Laute klangen vielmehr vogelähnlich. Krächzen, Krähen, Pfeifen aber auch Knurren und Brummen in verschiedenen Tonlagen erfüllte die Luft ihrer Zeit. Und vor allem, das betonte Oma Willi stets mit erhobenem Zeigefinger, kündigten sich die Raubsaurier ganz bestimmt nicht mit einem markerschütternden Brüllen bei ihren Beutetieren an.
»Denn, was würdet ihr tun, wenn ihr in der Ferne einen Tyrannosaurus rufen hört?«, fragte sie ihre Enkelinnen und schaute vergnügt in deren weit aufgerissene Augen.
»Weglaufen?«, antwortete die kleine Sophie und Celine musste kräftig lachen, bei der Vorstellung, dass der T-rex mit dem Brüllen jedes Mal sein Mittagessen vertreiben würde.
»Vielleicht hatte er erwartet, dass die anderen Dinos vor Schreck tot umfallen, wenn sie ihn bläken hören?«, ergänzte Celine kichernd.
Woher ihre Oma all das zu wissen glaubte, hatte sie ihren Enkeln nie erzählt. Dieses und sicher noch viele weitere Geheimnisse hatte sie mit ins Grab genommen, nachdem ein langjähriges Krebsleiden sie von einem auf den anderen Tag aus dem Leben gerissen hatte.
Mit dem Entrümpeln ihrer Wohnung waren die Verwandten äußerst flott zu Werk gegangen. Zu schnell, wie Celine fand. Gerne hätte sie dort noch einmal Abschied genommen und sich an all die schönen Tage mit Oma Willi erinnert. Aber alles, was man nicht zu Geld machen konnte, wurde kurzerhand dem Sperrmüll, der Altkleidersammlung oder der Papierverwertung zugeführt. Somit auch die meisten der handgeschriebenen Dinosauriergeschichten. Ob diese einen emotionalen Wert für Celine und Sophie hatten oder nicht, wurde dabei keine Sekunde lang in Erwägung gezogen. Dadurch verschwand nicht bloß ihre geliebte Großmutter, sondern ebenso deren Vermächtnis für immer aus dem Leben der Mädchen.
Einzig eine Sache war Celine und ihrer Schwester geblieben: Eine Kette mit einem großen Opal-Anhänger und eines der Notizbücher, welches sie als Kind noch nicht bei ihr gesehen hatten. Das Amulett hatte Oma Willi ihrer Tochter Nadine bereits Jahre zuvor vermacht. Diese sollte ihn später an ihre eigenen Sprösslinge weitergeben. Sie selbst wollte ihn nicht mit nach Hause nehmen und deshalb behielt Wilhelmine das Schmuckstück bei sich, um es zu gegebener Zeit an ihre Enkelinnen zu übergeben.
Seit gestern befand sich der Edelstein bei einem Juwelier, der aus dem riesigen Klunker zwei kleinere machen sollte. Eigentlich fanden die Mädchen diesen schrulligen Anhänger nicht besonders hübsch. Aber es war so ziemlich das Einzige, was ihnen von ihrer Oma geblieben war. Womöglich würde der Goldschmied ein modernes Kleinod daraus zaubern?
Nachdem die Sonne untergegangen war, fiel Celine in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Was die Elfjährige nicht wusste: Ihre Großmutter hatte ihr und ihrer Schwester weit mehr vermacht, als einen alten Klunker und ein ledergebundenes Buch.
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