30 Stillstand

⊱─ ⋯ ─⊰ TAG 7 ⊱─ ⋯ ─⊰

[Mittwoch tagsüber]

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Ich muss irgendwann einfach eingeschlafen sein, denn als ich wach werde, liege ich noch samt Klamotten, aber ohne Decke, auf meinem Bett. Das zweite, das ich registriere, sind die höllischen Kopfschmerzen, die mich bewegungsunfähig machen. Was zur Hölle?

Da aber erinnere ich mich, dass ich gestern Abend nervlich komplett zusammengebrochen bin und mir wie ein kleines Baby die Augen aus dem Kopf geheult habe. Und warum? Weil dieser verdammte Idiot es irgendwie geschafft hat, der Mittelpunkt meines Lebens zu werden. Und das in gerade mal einer Woche. Ich würde mich am liebsten selbst auslachen, wenn diese Kopfschmerzen nicht wären.

Ich drehe mich sehr vorsichtig auf den Rücken. Dabei pocht nicht nur mein Schädel, auch jeder einzelne Knochen tut mir weh. Wenn das mal nicht die besten Voraussetzungen sind, um einen Song fertig zu stellen ...

Aber darum kümmere ich mich später. Jetzt muss ich erstmal einen Weg finden, wie ich unbeschadet an Schmerztabletten komme. Und Kaffee.

Es dauert bestimmt eine halbe Stunde, bis ich mich, sehr theatralisch seufzend, aus meinem Bett gerollt habe. Ich verfluche diesen Tag jetzt schon. Ich quäle mich einige Schritte nach vorne, bleibe aber an meiner Zimmertür stehen. Hoffentlich ist Jimin schon weg. Ich würde grade lieber ohne Wasser in der Sahara ausgesetzt werden, als ihm jetzt über den Weg zu laufen.

Ich schleiche mich wie ein Schwerverbrecher aus meinem Zimmer, nachdem ich mir nochmal Mut zugesprochen habe, und kämpfe mich bis ins Bad. Zum Glück ist von Jimin keine Spur zu sehen. Dafür aber nasse Handtücher, die ordentlich über der Heizung hängen. Er war also zumindest schon mal im Bad. Da fällt mir ein ... welchen Tag haben wir heute? Ich muss morgen abgeben, also ist morgen Donnerstag, dann muss heute Mittwoch sein. Mit anderen Worten, Jimins Gesangsprüfung ist heute. Bestimmt ist er schon weg, immerhin haben wir schon ... wieviel Uhr ist es eigentlich? Ich schaue auf die Uhr im Badezimmer und sehe, dass es schon halb zehn ist. Ufff ...

Bevor ich darüber aber weiter nachdenken kann, greife ich eifrig nach den Schmerztabletten im Medikamentenschrank und drücke aus dem Blister gleich zwei Tabletten raus. Ich beschließe auch, dass ein Schluck Leitungswasser reicht, um sie runterzuspülen.

Daraufhin kralle ich mich ins Waschbecken, stürze mich darauf ab und warte, das die Wirkung des Schmerzmittels einsetzt. Dabei wage ich einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Und nochmal Scheiße! Ich sehe aus, als wäre ich aus einem postapokalyptischen Blockbuster entsprungen. Die Augen rot unterlaufen, tiefschwarze Augenringe, zerzauste Haare und fahle Haut. So schlimm sah ich noch nie aus. Besonders mit den Abdrücken im Gesicht, die ganz unverkennbar von meinen Kissen stammen müssen und jede noch so kleine Falte detailgetreu nachbilden.

Gut, dass mich so niemand sieht. Vor allem Jimin nicht. Er wäre sicher erschrocken, wenn von dem strahlenden Ritter nichts mehr übrig ist, außer einer Gruselkabinettfigur. Aber was interessiert es mich? Ich habe unserer Freundschaft, noch bevor sie richtig entstehen konnte, gestern Abend endgültig den Rücken zugekehrt.

Ich verscheuche die Zweifel, ob diese Entscheidung richtig war, und versuche meine Gedanken Richtung Song zu lenken. Ich habe heute noch einiges vor, also sollte ich nicht unnötig Zeit mit Grübelein verschwenden.

Eine halbe Stunde später lassen die Kopfschmerzen merklich nach, und der Kaffee macht mich nicht nur wach sondern auch etwas zuversichtlicher. Ich starte mein Programm, öffne die Aufnahmen von gestern und höre sie mir erst nochmal komplett an. Dabei achte ich genau darauf, welche der Versionen mir mehr zusagt und mache mir auch nochmal ein paar Notizen. Und dann geht's auch schon los. Ich konzentriere mich voll und ganz auf die Melodie und blende dabei alle anderen Gedanken aus. Selbst Jimin rückt immer weiter in den Hintergrund, obwohl es mir im ersten Moment ziemlich zugesetzt hat, seine Stimme zu hören. Das hier ist Arbeit. Hier ist kein Platz für Gedanken.

Ich lege die erste Tonspur auf die Melodie und schneide genau den Teil raus, den ich aus einer anderen Aufnahme einfügen möchte. Ich starte den Song von vorne, höre nochmal genau hin und füge immer mehr ein. Ich bin irgendwann so versunken in meiner Arbeit, dass ich gar nicht merke, wie die Zeit verfliegt. Erst, als ich noch einen Schluck Kaffee trinken möchte und feststelle, dass die Kanne bereits leer ist, schaue ich auf die Uhr. Ich habe jetzt schon drei Stunden daran gebastelt, aber es läuft gut. Ich beschließe, eine kleine Pause zu machen, setze nochmal Kaffee auf, schnappe mir einen Apfel und sitze wenig später wieder an dem Song.

Es ist schon später Nachmittag, als ich die erste Version des Songs fertig habe. Ich muss nachher zwar noch den Feinschliff machen, aber dazwischen muss ich arbeitsfreie Zeit haben, sonst fallen mir kleine Unstimmigkeiten nicht auf.

Ich bin trotzdem sehr zufrieden bis jetzt, auch wenn ich bestimmt noch einige Zeit darin investieren werde, bis er perfekt ist.

Außerdem brauche ich dringend eine Pause und was richtiges zu Essen, weil ich den Hunger nicht mehr ignorieren kann, so sehr ich es auch versuche. Dazu kommt, dass die Kopfschmerzen langsam wieder einsetzen, also sollte ich gleich für Schmerzmittelnachschub sorgen.

Ich schlurfe aus meinem Zimmer und muss mich erstmal an die Helligkeit im Flur gewöhnen. Wenn ich an einem Song arbeite, brauche ich Ruhe und einen abgedunkelten Raum. Es ist jedes Mal dasselbe. Ich fühle mich dann, als wäre ich vorher in einer anderen Welt gewesen und muss mich dann wieder mit der Realität rumschlagen. Für meine Kopfschmerzen ist das natürlich gefundenes Fressen. Sie werden plötzlich wieder so stark, dass ich mich umentscheide und auf dem direkten Weg ins Bad gehe.

Schnell greife ich nach der Packung Schmerzmittel und schlucke wieder zwei Tabletten auf einmal. Ich hoffe, dass sie schnell wirken, denn gerade will ich einfach wieder in der Arbeit am Song versinken. Ohne das rattert es einfach viel zu stark in meinem Kopf. Vor allem hier im Bad. Wo alles nach Jimin riecht. Wo sich melancholisch trübe Stimmung in mir breit macht, nur weil ich die Duschgelsammlung sehe. Und mit jeder weiteren Sekunde, die ich im Bad stehe, wird dieses Gefühl erdrückender und nervenaufreibender. Ich bekomme immer weniger Luft, als würde der Raum immer kleiner und sauerstoffärmer werden. Mein Herzschlag verschnellert sich immens und löst Unbehagen in mir aus. Keine Ahnung, was das jetzt soll, aber eins weiß ich. Ich muss hier ganz schnell wieder raus!

In einem Anflug von leichter Panik stürze ich zur Tür und reiße sie schwungvoll auf. Mein Herz schlägt mittlerweile so schnell, dass ich wirklich Angst bekomme. Ich will schon losrennen, mich in meinem schützenden Genius Lab verkriechen, als ich abrupt stehen bleibe.

Jimin steht vor mir. Die Hand ausgestreckt, als wäre er in dem Moment erstarrt, als er zur Türklinke greifen wollte.

Das ist auch der Moment, in dem mein Herzrasen aufhört. Ich glaube sogar, dass es für die wenigen Sekunden, in denen Jimin und ich uns ansehen, stehen geblieben ist.

  
  
ʝιɱιn

Der letzte Satz von Jeongkwon hallt noch immer durch meinen müden Kopf, als ich schon mein Fahrrad am Wohnheim abstelle. "Yoongi ist nicht dafür zuständig, dass du das Gefühl von Zuhause hast. Das musst du schon selbst hinkriegen." Es ist bitter, aber er hat recht. Yoongi kann, darf und will nicht der Ersatz für Oma sein. Aber was mache ich da jetzt draus? Erstmal ihn in Ruhe lassen und mich auf meine Choreo konzentrieren.

Als ich in die Wohnung komme, ist es völlig still. In der Küche, im Flur und im Wohnzimmer ist keine Spur von Yoongi zu sehen. Seine Tür steht offen, sein Zimmer ist leer, sein Bildschirm ist blind. Aber die Wohnungstür war nicht abgeschlossen. Also kann er eigentlich nur im Bad sein. Aber da drin ist es doch auch völlig still!

Ich gehe auf die Badezimmertür zu und strecke schon meine Hand aus, als meine Gedanken mich bremsen. Park Jimin, was machst du da? Es geht hier nicht darum, was Yoongi will oder braucht oder grade macht. Wo er ist oder, wie es ihm geht. Kannst du vielleicht endlich mal aus dem Hamsterrad steigen und dich fragen, was DU jetzt willst? Und brauchst?

Blöde innere Stimme. Die hat mal wieder recht. Fakt ist: wir mögen uns eigentlich, ich will guten Kontakt und WG-Leben, Yoongi ist überfordert. Also blockt er mich ab. Das sagt aber im Grunde nichts darüber aus, was er eigentlich will oder mir gegenüber fühlt. Es ist vielleicht gar keine Zurückweisung. Und am allerwichtigsten: er ist nicht meine Oma, und ich bin nicht sein Therapeut! Danke, Jeongkwon - angekommen.

Ich muss klar kriegen, dass wir zwei Erwachsene sind, die jeder ihre Macken haben und zufällig in einer gemeinsamen Studentenbutze gelandet sind. Wir dürfen uns mögen, müssen aber nicht, wir sollten eine vernünftige Ebene zum Umgang und ein paar machbare Spielregeln haben, aber wir sind darüber hinaus zu nichts weiter verpflichtet. Yoongi darf einen anderen Tagesrhythmus, andere Essgewohnheiten und andere Umgangsformen haben, aber wenn ich mich hier zu Hause fühlen will, dann muss ich selbst dafür sorgen. Oder doch umziehen?

Vor meinem geistigen Auge taucht in der Küche eine Pinnwand für Nachrichten und Einkaufszettel auf, wie auch eine bei meiner Mutter hängt. Im Flur gegenüber der Garderobe könnte ein riesiger Bilderrahmen hängen, in den wir Fotos von Freunden, Postkarten oder andere Erinnerungsstücke stecken könnten. Ich muss ihn fragen, ob er damit einverstanden ist. Aber ich kann nicht erwarten, dass er das auch nutzen wird. Ein paar persönliche Gegenstände und ein paar Kissen, ein paar Spiele und DVD'S im Wohnzimmer - und schon ist das ein Raum, in dem ich mich aufhalten will, in den ich auch mal Freunde einladen mag.

Allmählich wird der Gedankensturm, der seit Tagen meinen Kopf und mein Leben beherrscht, stiller. Ich bin der Herr über mein Leben und mein Wohlbefinden. Und wenn ich Sehnsucht nach Oma habe - dann sollte ich sie eben einfach anrufen!

Tiiieeeeef durchatmen. Ein. Und aus. Endlich! Endlich hab ich mein Gefühl wieder im Griff. Erst jetzt merke ich, dass meine Hand die ganze Zeit über dem Türgriff des Badezimmers geschwebt hat. Noch bevor ich sie zurückziehen kann, geht die Tür auf, und Yoongi steht vor mir. Ach, du Sch... - wie sieht der denn aus? Der Tod auf Latschen ist ja wohl kerngesund daneben.

"Hi Yoongi. Bist du in Ordnung? Du siehst etwas ... mitgenommen aus."

Bei dem kurzen Blickkontakt möchte sich mein Verstand schon wieder verabschieden. Das innere Helferlein möchte aktiv werden, aber ich kann mein Hilfsangebot noch grade so runterschlucken, bevor es mir entwischt.

Abwartend bleibe ich einfach stehen.

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19.7.2021

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