27 - Konzentration

   

⊱─ ⋯ ─⊰ TAG 6 ⊱─ ⋯ ─⊰

[Dienstags nachmittags]
    

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Das Gespräch geht mir noch lange durch den Kopf. Ich weiß einfach nicht mehr, was noch richtig und was falsch ist. Ich habe so lange für meinen Traum gekämpft, habe mich immer wieder mit meinen Eltern angelegt und ihnen erklärt, dass ich meinen Traum erfüllen werde. Ich habe fast immer gute Noten nach Hause gebracht, damit sie sehen, wie ernst es mir ist. Sie sind bestimmt immer noch davon überzeugt, dass ich scheitern werde. Aber irgendwann werden sie in den Medien sehen, dass ich es sehr wohl geschafft habe. Ich darf nicht scheitern. Ich habe es mir damals selbst geschworen. 

Freunde...? Ich bin so viele Jahre gut allein klar gekommen. Trotzdem schmerzt es mich, wenn ich an die vielen Albernheiten zurückdenke, die ich mit Jimin erlebt habe. Aber ist es das wert? Klar, macht es Spaß. Aber ein paar Tage rumalbern wiegt einfach nicht so schwer wie jahrelange, harte Arbeit. 

Ich habe mich damals bewusst für die Einsamkeit entschieden, um bloß nicht abgelenkt zu werden. Und da habe ich definitiv bessere Ergebnisse erzielt, als jetzt. Also bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als diese Woche irgendwie hinter mich zu bringen und Jimin dann wieder auf Abstand zu halten. Mein Traum oder Jimin. Es ist nunmal so. Ich kann nicht beides haben. 

Mir wird erst klar, wie lange ich schon auf der Couch hocke und in meinem Gedankensumpf rumstochere, als ich den Schlüssel in der Wohnungstür höre. Ich bin ganz plötzlich hellwach und sitze kerzengerade auf der Couch, während mein Blick zur Tür geht.
Die Wohnungstür öffnet sich quälend langsam und gefühlt in Zeitlupe, gleichzeitig erhoffe ich mir aber noch mehr Zeit, weil ich auf die Konfrontation mit Jimin noch nicht vorbereitet bin. Was soll ich sagen? Wie soll ich ihm klar machen, dass diese Zusammenarbeit auf so vielen Ebenen verdammt wichtig für mich ist?  

Unsere Blicke treffen sich, und das erste, was ich denke ist: Scheiße, tut das weh! Seine Augen wirken genauso matt wie seine Körperhaltung. Gleichzeitig erinnere ich mich daran, worum es hier geht. Ten hat es nicht verstanden, aber bei diesem Song geht es eben DOCH um mein Leben. 

  
   
ʝιɱιɳ

Also gut. Tieeeeeef Luft holen, Jimin, mach einfach genau so, wie er das will. Nimm es als Übung in Professionalität, Konzentration und Stimmbildung. Er kriegt jetzt, was er will.

Kaum stehe ich im Flur, sehe ich Yoongi auf dem Sofa sitzen. Stumm, mit der Kaffeetasse in der Hand, ganz vorne auf der Kante, total unter Strom, schaut er mich an. In diesem Moment verstehe ich, was Jeongkwon gemeint hat. Es ist Yoongis Song, er muss den abliefern und begründen können, und ich darf ihm da mit meiner Interpretation nicht dazwischenfunken
Es fühlt sich zwar immer noch falsch an, dass der Text so genial ist und ich nicht volle Palette ausstrahlen darf, was da nunmal alles drinsteckt. Aber er muss damit in die Prüfung, also werde ich nicht mehr im Wege stehen.

Ich schlüpfe aus Schuhen und Jacke und halte dabei die Luft an. Der kurze Blickkontakt hat weh getan. Wo ist der alberne, zugewandte Yoongi mit seinen hilflos-niedlichen Aussetzern hin? Es ist, als hätte der Ritter sein Dornröschen zurück in die Burg geschubst und das Tor mit lautem Poltern hinter sich ins Schloss fallen lassen. Er ist so zu! Aber so will ich nicht mein ganzes Studium verbringen. Jetzt bestimmt nicht mehr, wo ich weiß, was noch alles in diesem vielschichtigen Mann steckt.

Und ich muss da jetzt was draus machen.
Ööööööööhm ... 
"Hi, Yoongi. Ich hoffe, du wartest nicht schon lange. Ich ... ähm ... ich bin heute fitter als gestern. Ich beeile mich mit dem Duschen, gegessen habe ich schon. Dann kanns gleich losgehen. Und ich bin dafür - falls sich das für dich vernünftig anhört - dass wir den ganzen Mist der letzten Tage ins Archiv schieben und von vorne anfangen. Ich glaube, dann fällt es mir leichter, mich auf deine Vorstellungen einzustellen."
Das tut weh! Ich halte seinem erstaunten Blick nicht stand. Ich habe das Gefühl, dass ich mich um des lieben Friedens willen total verbiege grade. Aber es scheint mir der einzige Ausweg aus der Falle zu sein, in der wir stecken. Und immerhin habe ich ein schönes Ziel: den Streit aus dem Weg räumen, damit diese Wohnung für uns ein Zuhause bleibt.
    
      

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Jimins Worte sind verdammt versöhnlich, wenn ich das mit gestern vergleiche. Und trotzdem klingen sie irgendwie... tot. Stumpf. Können Worte tot klingen? Zumindest klingen sie nicht so lebendig, wie ich es sonst von ihm gewohnt bin. Aber jetzt ist wahrscheinlich der denkbar ungünstigste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken.

"Klingt gut."
Mehr schaffe ich nicht darauf zu antworten. Irgendwas irritiert mich so sehr, dass mein Kopf wie leergefegt ist. Obwohl. Ist das der richtige Ausdruck? Denn gleichzeitig schwirren eine Million Gedanken in meinem Kopf herum, ich kriege nur keinen einzigen davon gegriffen.
Ich bleibe stumm auf der Couch sitzen, während Jimin an mir vorbeigeht, und bekomme immer mehr ein schlechtes Gefühl. Ich kann es nicht genau beschreiben, es fühlt sich ähnlich an, wie das Brausepulverkribbeln, nur in negativ.

Während Jimin duscht, gehe ich in mein Zimmer und bereite alles soweit vor. Wie er vorgeschlagen hat, schiebe ich die alten Aufnahmen ins Archiv, damit wir gleich ganz von vorne anfangen können. Das Negativkribbeln wird stärker, je länger ich auf den Bildschirm starre. Hoffentlich klappt es heute. Es muss klappen, sonst bin ich echt geliefert.

   
   
ʝιɱιɳ

In dem Moment, in dem ich in die Duschkabine steige und mein Shampoo auf der Ablage stehen sehe, trifft es mich wie ein Schlag in die Magengrube. Ich habe eben in Gedanken mein wahres Ziel formuliert! Nicht die Choreo. Nicht die Prüfungen. Nicht die Aufnahme. Nicht das Spiel mit den Filtern. Meine Prüfung wird klappen mit diesen Leuten. Und Yoongi wird einen vernünftigen Song abliefern, wenn es gleich nicht ganz beschissen läuft. 

Ich stehe unter dem heißen Wasserstrahl und möchte am liebsten mitheulen. Es geht mir um Yoongi und mich, um uns. Und was ich eben in seinen Augen gesehen habe, war nichts als die Entschlossenheit, heute gut zu Potte zu kommen. Da war kein Platz für "wir".
Vielleicht habe ich ihm grade sogar die Steilvorlage geliefert, um ...
Schluss! Nicht weiterdenken, Jimin! Jeongkwon hat gesagt, das ich Yoongi genauso ausnutze wie er mich. Und so will ich nicht sein. Um mich selbst noch im Spiegel anschauen zu können, ziehe ich das jetzt so durch, wie er das braucht. Vielleicht wird es so dann leichter bis Freitag Morgen. Und Dornröschen wird vertagt auf Freitag Abend. An mir solls nicht liegen ...

Irgendwie traurig, aber wenigstens wieder mit mir selbst im Reinen stelle ich das Wasser aus, trockne mich ab, steige in die frischen Klamotten und mache mich mit einer Flasche Wasser auf zu Yoongis Zimmer. Das ist jetzt der Preis, den ich für meinen Betrug zahle.

   
   

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Jimin ist heute wirklich schneller. Vielleicht kommt es mir auch nur so vor, weil ich ganz froh bin um jede Minute, die ich für mich sein kann. Ich weiß, dass das absolut kontraproduktiv ist, trotzdem brauche ich die Zeit.

Ich bin ein mögliches Gespräch zwanzig Mal oder öfter durchgegangen, als es an meiner Tür klopft und Jimin reinkommt. Wieder treffen sich unsere Blicke, und wieder ist da etwas zwischen uns, dass mir unglaublich weh tut. Konzentration, Yoongi! Denk dran, was auf dem Spiel steht.

"Ich hab soweit alles vorbereitet", sage ich leise, weil ich nicht weiß, was ich bei dieser seltsamen Stimmung sonst sagen soll. Das ist doch zum verrückt werden!
"Und... ähm. Ich hab nachgedacht. Ich glaube, ich habe dich gestern etwas überrollt. Tut mir Leid. Ich ... du musst wissen, dass dieser Song mir wahnsinnig wichtig ist. Ich kann mir keine Fehler erlauben. Aber ... ich will das nicht so wie gestern. Vielleicht klappt es besser, wenn ich dir ..."
Wie waren Tens Worte nochmal?
"... mehr Raum gebe. Ich hoffe es. Denn wie gesagt, der Song muss wirklich gut werden. Sonst ist alles umsonst gewesen."

Ich hoffe, dass ich Jimin damit genug entgegenkomme, damit die Zusammenarbeit gleich nicht wieder in einer Katastrophe endet.

   
   
ʝιɱιɳ

Ich atme noch einmal tief durch, bevor ich kurz an Yoongis Tür klopfe und einfach reingehe. Während ich auf meinen Schreibtischstuhl zugehe - den ich gestern bei meiner Flucht natürlich nicht mitgenommen hatte - treffen sich wieder unsere Augen, und ich möchte laut aufschreien vor lauter Frustration. Dann noch die zaghaft erklärend-entschuldigenden Worte dazu, das gestotterte Entgegenkommen ...
Klar ist dir der Song wichtig, du Idiot. War er mir bis vorgestern auch noch. Jetzt? Tut er nur noch weh, dein Blick tut weh, deine Worte tun weh. Ich würde am liebsten gleich wieder rausrennen. Denn dir ist grade NUR der Song wichtig, ich bin nur Mittel zum Zweck.
Ich höre ja deine Entschuldigung. Aber wenn ich das hier rocken will, darf ich jetzt nicht auf die persönliche Ebene wechseln. Erst die Arbeit, dann wieder WG-Leben.

Stattdessen setze ich mich auf meinen Stuhl, schaue ihn dabei nicht an und reagiere auch nicht auf sein vorsichtiges Zugeständnis. Die Linie ist klar - heute Nachmittag bekommt Yoongi seinen perfekten Song. Punkt.
"Lass uns anfangen. Versuch doch bitte nochmal, mir zu erklären, welche Stimmung du erzeugen willst. Wie soll sich irgendein Zuhörer da draußen vor seinem Radio fühlen, wenn er den Song hört? Dann kann ich mich am besten klanglich anpassen."

   
    

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚 

"Wie ... wie er sich fühlen soll?", hinterfrage ich, weil ich mir natürlich über alles Gedanken gemacht habe, nur nicht über sowas. Sowieso finde ich es seltsam, dass Jimin kein bisschen auf meine Worte eingeht. Na gut. Dann eben ohne großes Drumrumreden und erklären. Ist wahrscheinlich eh besser.

"Ich denke mal, es soll auch was leichtes haben. Etwas..."
Die nächsten Worte fallen mir unglaublich schwer, weil ich an Jimins Leichtigkeit in der Küche zurückdenken muss, daher würge ich sie eher hervor.
"Etwas, bei dem man direkt Lust zum Tanzen bekommt. Es soll zwar zum Nachdenken anregen, aber nicht direkt. Eher so im zweiten Moment."
Ich hoffe, dass Jimin mit diesem holprigen Versuch einer Erklärung was anfangen kann.

   
  
ʝιɱιɳ

Yoongi, du bist komisch. Du machst geile Musik, die jede Menge Atmosphäre und Gefühl transportiert, und denkst nicht darüber nach, welche?!? Gut, wenn er es selbst nicht weiß, dann ist auch klar, warum er in den letzten Tagen dauernd versucht hat, das Gefühl aus meiner Stimme zu zwingen. Ich habe nicht das falsche Gefühl transportiert - ich habe überhaupt Gefühle gezeigt! 
Also. Was erwartet er jetzt wohl von mir? Ich versuchs mal mit möglichst sauber, der gewünschten Dynamik, aber reiner Technik.

"O.K. - dann lass mal laufen. Nimm noch nicht auf, ich möchte erst deine Korrekturen haben und mir in die Noten eintragen. Wenns dann sitzt, haben wir nicht so viel Hin und her beim Aufnehmen. Vielleicht nimmt das auch ein bisschen den Frust raus."

Yoongi starrt einen Moment lang regungslos auf seinen Bildschirm, dann startet er die Musik, und ich singe die ersten vier Zeilen dazu. Er hört genau hin und macht sich Notizen in sein Exemplar Noten.
"So, jetzt sag mir, was du genau so und was du anders haben willst und wie. Bitte."

   
   

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚
 
Jimin verhält sich seltsam. Und es wird auch nicht besser, als er die ersten Zeilen singt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass er es nur ganz schnell hinter sich bringen will. Aber wenn er das so will, dann bitte. Ich will diesen Song auch einfach fertig kriegen. Also sind wir uns da wohl einig.

Ich lege den Notizzettel vor ihn auf den Schreibtisch und sage ihm sehr genau, aber auch sehr sachlich, an welcher Stelle ich was von ihm erwarte. Ich erkläre auch, wie ich mir seine Stimme vorstelle, beziehungsweise wie es am Ende klingen soll. Jimin reagiert kaum auf das, was ich sage, dafür singt er heute besser. Wer weiß. Diese angespannte Stimmung zwischen Jimin und mir ist vielleicht einfach Ausdruck seiner Konzentration. 

Hoffentlich.

Wir sitzen gut drei Stunden an der Aufnahme, denn obwohl Jimin heute erstaunlich konzentriert bei der Sache ist, nehmen wir einige Passagen in mehreren Versionen auf. Es sind immer nur kleine Abweichungen, aber die werden am Ende viel ausmachen. Morgen kann ich dann aus einem Pool an Aufnahmen auswählen, bis der Song endlich stimmig ist.

Immerhin bin ich mit dem heutigen Nachmittag ganz zufrieden. Die Aufnahmen sind gut. Und trotzdem hätte ich erwartet, dass ich mich mehr freue. Denn irgendwie ... ach, ich weiß auch nicht. Es fühlt sich befremdlich an, wenn Jimin so konzentriert ist. So nervig es auch war. Dieses Funkeln in seinen Augen, als ich ihm bei der ersten Aufnahme die Technik erklärt habe, fehlt. Aber auch hier gilt wahrscheinlich: Ich kann nicht beides haben. Entweder oder.

    
    
ʝιɱιɳ

Nachdem ich einmal kapiert hab, was Jeongkwon gemeint hat, fällt es mir erstaunlich leicht, genau das zu liefern, was sich Yoongi vorstellt. Vielleicht hab ich mich gestern ja wirklich blöd angestellt. Jedenfalls fühle ich Erleichterung, als ich meinen Schreibtischstuhl zurück in mein Zimmer schiebe. Aber dass wir nicht mehr miteinander reden und uns dabei anschauen können - das tut weh.

Außerdem habe ich jetzt langsam echt Hunger. Aber ich traue mich nicht zu fragen, ob wir was zusammen kochen wollen. Yoongi will doch jetzt bestimmt sofort anfangen, den Song zu schneiden. Also schlappe ich stumm in die Küche und brutzele mir irgendwas zusammen. 
Die Küche ist kalt und leer so. Ohne Yoongi. Es fühlt sich falsch an, ohne ihn an diesem Tisch zu sitzen. Und es schmeckt auch nicht richtig. Ist halt nicht angebrannt ... Scheiß Galgenhumor! Hätte ich doch fragen sollen? Ach Mist! Wo ist unsere fröhliche Leichtigkeit geblieben? War das ein einmaliges Experiment? Hab ich ihn in den paar schönen Tagen total überfordert und ihm was aufgezwungen?

Und überhaupt - wie komme ich jetzt an die fertigen Tonspuren ran, ohne schon wieder zu mogeln und zu lügen? Ach, ich hasse das! 

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15.7.2021

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