22 - Tischlein, deck dich!
⊱─ ⋯ ─⊰ TAG 5 ⊱─ ⋯ ─⊰
[Montag vormittags]
ʝιɱιɳ
Ich stehe unter der Dusche und plane im Kopf diese wichtige Woche durch. Die normalen Semesterveranstaltungen finden in der letzten Woche kaum noch statt, so dass ich mich jetzt voll auf Yoongis Song, meine Choreo und die Hilfe für meine Freunde konzentrieren kann.
Heute Mittag wissen wir, ob unser Song den Projektleiter überzeugt hat. Mittwoch ist die Gesangsprüfung, da muss ich nur stimmlich fit und geistig auf Zack sein. Im Grunde ist dieses genaue Feilen am Ausdruck, bis Yoongi endlich zufrieden ist, die beste Übung dafür.
Donnerstag stellt hoffentlich Yoongi den fertigen Song vor, und am Freitag Nachmittag bin ich dann als letzter dran vorzutanzen. So der Plan. Und bis dahin noch mörderisch viel Arbeit.
Ich steige aus der Dusche, ziehe mich an und gehe zur Küche. Dort steuere ich direkt die Kaffeemaschine an. Als das Gerät schließlich zu gurgeln beginnt, schnappe ich mir aus dem Kühlschrank ein Joghurt und drehe mich zum Tisch.
Äh ... Hä? Haben wir hier Heinzelmännchen, oder ... Das gibts doch nicht! Yoongi hat gestern Abend nicht nur hier aufgeräumt und alles gespült. Ungläubig staunend lasse ich meinen Blick durch die wirklich ordentliche Küche schweifen.
Er hat auch noch für mich den Tisch gedeckt. Schüssel, Löffel, Müsli, Tasse, Zucker. Ich muss mir wirklich nur das Joghurt und Milch für den Kaffee dazustellen - alles andere ist da.
Schlagartig bin ich richtig wach. Mir wird ganz warm vor Freude über diese tolle Geste und, dass er weiß, was ich normalerweise frühstücke. Zufrieden hocke ich mich mitsamt meinem Kaffee an den gedeckten Tisch und mixe mir mein Müsli. Neben der Schale steht eine Frischedose. Was ist da denn noch drin? Ich öffne die Dose und bin erstmal sprachlos. Yoongi ... hat mir gestern Abend noch Obst fürs Müsli geschnibbelt. Ungläubig starre ich den Inhalt der Dose an. Dann gebe ich mir einen Ruck, mixe das Obst in mein Frühstück und fange mit Genuss an zu essen. Was so ein kleines Donnerwetter alles bewirken kann ...
Meine Gedanken wandern derweil den Flur entlang - und biegen nach rechts ab. In Yoongis Zimmer. Genius Lab. Ich fange an zu begreifen, was das bedeutet. Es ist diese geniale Mischung aus musikalischer Intuition, fundiertem Können und harter Arbeit, die Yoongis Musik ausmacht. Und von der ich jetzt ein Teil bin.
Nach dem Frühstück räume ich schnell alles weg und durchsuche dann meine Kiste an der Garderobe, ob sich da was geeignetes für die Performance findet.
Mit einem Käppi, meiner Sonnenbrille und einem dünnen Schal verschwinde ich in meinem Zimmer, greife da noch mein einziges Jackett aus dem Schrank und packe alles zusammen mit den Trainingsklamotten ein.
Ich starte in den Tag, gehe aus meinem Zimmer - und gehorche wie von einem unsichtbaren Gummiband gezogen einem inneren Impuls. Ohne groß nachzudenken, mache ich einen Schritt über den Flur und öffne leise die Tür zu Yoongis Zimmer. Es dringt etwas Licht durch die nicht ganz geschlossenen Jalousien und wirft lange Streifenschatten auf alles im Raum - das Chaos auf dem Fußboden, den Bildschirm, das Mischpult. Und auf den schlafenden Yoongi.
Einen Augenblick lang stehe ich da wie in Trance und schaue meinem gestreiften Mitbewohner beim Schlafen zu, bevor ich mich löse, ganz leise die Tür schließe und nochmal in die Küche gehe. Schnell schmeiße ich für Yoongi die Kaffeemaschine an, bevor ich mich auf den Weg zur Uni mache. Ich bin früh dran, aber ich will noch in den Theaterfundus, um mich inspirieren zu lassen. Da gibt es immer eine Wühlkiste mit ausrangierten Sachen, in der man so manchen Schatz entdecken kann.
Aber erstmal zieht etwas anderes meine Aufmerksamkeit auf sich. Heute scheint Sperrmüll im Univiertel zu sein. Ich will mich damit diesmal zwar nicht aufhalten, so sehr ich sonst das Stöbern liebe. Aber dann weckt doch etwas mein Interesse, was mich zu einer Vollbremsung veranlasst. Ich ignoriere das wilde Gehupe hinter mir und schiebe mein Rad zu dem großen Haufen Gerümpel neben einer Hofeinfahrt. Mitten aus dem Haufen ragt ... eine alte Schneiderpuppe. Mit Kopf! Perfekt.
Ich muss an meine lächelnde Schaufensterpuppe von heute Nacht denken. Erst suche ich in dem Haufen noch nach ein paar weiteren Kleinigkeiten, stecke eine ultrahässliche Riesenbrille in meine Jackentasche, stülpe einen sehr altmodischen Maffiahut auf meinen Kopf, bastele irgendwie die Puppe nebst Ständer an mein Rad und schiebe den restlichen Weg bis zur Uni. Meine Gedanken schlagen Purzelbäume beim Planen.
Im Theaterfundus finde ich ein rotes, schmal geschnittenes Jackett in der Kiste mit Ausrangiertem. ... Dazu eine Hose. ... Sogar ein passendes Hemd fische ich nach einigem Wühlen aus der Kiste. Wenn mir das jetzt noch alles passt ...
Punkt 10.00 Uhr bin ich Taemin und Kai vor dem Trainingsraum verabredet, den sie für drei Stunden gebucht haben. Ich höre ihr Lachen schon, bevor ich ganz die Treppe rauf bin. Zu meiner Überraschung sind bei ihnen sind noch vier weitere Tänzer aus verschiedenen Semestern.
"Moin, Jimin. Wir haben gestern nochmal umdisponiert. Ihr seid jetzt zu fünft im Background."
"Cool! Hi! Ich bin Jimin. Ich freu mich drauf, mit euch zu arbeiten.
Ich bin bei meinem Song auch einiges weiter gekommen. Die Lyrics stehen, wir haben gestern Abend sogar schon angefangen einzusingen. Und ein paar Ideen für die Choreo hab ich auch im Gepäck. Aber wir fangen mit eurer Choreo an, oder?"
Wir machen uns alle warm und legen los. Wenn ich ehrlich bin, bin ich nur mit halber Aufmerksamkeit dabei, weil die Gedanken sich überschlagen in meinem Kopf. Aber die beiden diskutieren auch noch viel, probieren alles Mögliche. Wir Backgroundtänzer stehen eh viel rum, machen ab und zu einen Vorschlag oder hampeln ein bisschen mit.
Mit dem Kopf bin ich zu Hause - bei gestern Abend, bei unserer wirklich seltsamen WG, weil ich versuche zu verstehen, was Yoongi antreibt. Bei heute Morgen, weil ich mich frage, was mich da eigentlich in sein Zimmer gezogen hat. Bei dem gedeckten Frühstückstisch, weil ich nicht weiß, was das bedeuten soll. Oder wer ich für Yoongi bin. Bei mir, der ich die Kaffeemaschine automatisch für ihn angestellt habe, ohne nachzudenken. Wer ist er für mich?
Dennoch kommen wir mit dem Stück gut vorwärts und stellen fest, wie gut es sein kann, solchen Zeitdruck zu haben. Man ist gezwungen, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.
𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚
Mal wieder völlig gerädert wache ich gegen frühen Mittag auf und wünschte mir, einfach weiter liegen bleiben zu können. Am besten den ganzen Tag. Also bleibe ich noch einen Moment weiter liegen, vergrabe mein Gesicht in meinem Kissen und denke über den gestrigen Tag nach.
Es dauert wie immer nicht lange, bis meine Gedanken mal wieder zu meinem Mitbewohner abdriften. Und kaum erinnere ich mich daran, wie fertig er gestern war, bekomme ich ein schlechtes Gewissen. Na super!
Aber es ist schon was Wahres dran. Jimin macht unheimlich viel. Er muss ja nicht nur für seine eigene Choreo üben, sondern auch noch für die seiner Studentenfreunde. Und ganz nebenbei auch noch für meinen Song arbeiten. Die Sorge von gestern wird nicht weniger. Ich hoffe wirklich, dass er sich nicht völlig überarbeitet.
Ich dagegen fühle mich faul und unproduktiv. Während Jimin von morgens bis abends schuftet, liege ich immer noch im Bett und fühle mich nicht mal bereit, aufzustehen und Kaffee zu kochen. Woher nimmt er eigentlich die ganze Energie?
Um nicht noch mehr von meinem schlechten Gewissen malträtiert zu werden, raffe ich mich auf und schlurfe in die Küche. Erstmal Kaffee! Ich steuere die Maschine an, bleibe jedoch irritiert davor stehen. Und nur wenig später grinse ich zufrieden vor mich hin. Jimin hat mir Kaffee gekocht und ich freue mich so sehr über diese kleine Geste, dass mein Grinsen auch Minuten später einfach nicht verschwinden will.
Einige Zeit später sitze ich frisch geduscht und mit einer weiteren Tasse Kaffee am PC und öffne die Datei. Vielleicht schaffe ich ja sogar noch was, bevor Jimin wieder nach Hause kommt.
Wieder fange ich an blöd vor mich hin zu grinsen. Der Kaffee schmeckt einfach viel besser als sonst. Es ist doch wirklich erstaunlich, was aus uns geworden ist, wenn ich bedenke, dass wir bis vor ein paar Tagen nicht mal miteinander geredet haben. Vielleicht liegt es daran, dass ich ziemlich heftig auf die Aufnahme reagiere. Jimins Stimme macht mich nervös, obwohl dieser gerade nicht einmal neben mir sitzt. Keine Ahnung, wie das geht. Und warum ich im selben Moment Jimins schlafendes Gesicht von gestern Abend vor meinem inneren Auge sehe, kann ich mir auch nicht erklären. Auf jeden Fall sorgt es dafür, dass ich die Datei schneller wieder schließe, als man Stopp sagen kann.
Und jetzt? Vielleicht sollte ich mich einfach mit weniger kopflastigen Dingen ablenken. Korrigiere! Mit weniger gefühlslastigen Dingen. Ich checke also nochmal eben meinen Email-Posteingang, nur um festzustellen, was mir von vornherein hätte klar sein sollen. Keine neuen Nachrichten. Natürlich, es ist auch noch zu früh für die Auswertung. Warte ... bin ich deswegen vielleicht so aufgeregt?
Ich sollte das Bad putzen. Und zwar jetzt gleich. Am besten mit lauter Musik.
Keine zehn Minuten später stehe ich mit Handschuhen, Putzmittel und Kopfhörern bewaffnet im Bad und putze das Bad nicht. Stattdessen fällt mein Blick auf die kleiner gewordene Ansammlung von Shampoo- und Duschgelflaschen und wieder grinse ich dümmlich vor mich hin.
Gibt es eigentlich auch noch etwas, das mich NICHT an Jimin erinnert? Blöd, wenn man zusammen wohnt. Es bietet viel zu viel Möglichkeiten, überall und jederzeit über den Mitbewohner nachzudenken.
"Du schaffst das. Nicht denken, putzen!", spreche ich mir selbst Mut zu und tatsächlich sorgt es dafür, dass ich eine gute halbe Stunde gedanklich abschalten und das Bad reinigen kann. Zufrieden betrachte ich mein Werk und beschließe, dass es für heute erstmal reicht. Ich entsorge die Handschuhe, schnappe mir eine weitere (besonders gut schmeckende) Tasse Kaffee und schlurfe zurück in mein Zimmer.
Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, dass es mittlerweile so spät ist, dass ich vielleicht eine Nachricht bekommen habe. Auf die Gefahr hin, wieder nur einen leeren Posteingang vorzufinden, öffne ich meine Mails. Und sehe eine ungelesene Nachricht von meinem Prof.
Gut, okay. Ich geb's zu. Ich BIN nervös. Dieser Song bedeutet mir mittlerweile so viel, dass ich das Gefühl habe, mein Leben würde daran hängen. Albern. Aber naja. Ich wundere mich über gar nichts mehr.
Meine Finger fühlen sich schwitzig an, als ich noch im Stehen die Nachricht öffne. Vor lauter rauschendem Blut in meinen Ohren kann ich mich kaum auf's Lesen konzentrieren. Das einzige Wort, das ich grade registriere, ist: Angenommen.
Angenommen.
Ich kontrolliere vorsichtshalber noch zwei Mal, ob ich vielleicht das Wort "nicht" davor übersehen habe. Nö. Ich hab es wirklich geschafft. WIR haben es geschafft. Der Prof. fand unseren Song so gut, dass er ihn als Komplettversion haben will.
Und das erste, das ich denke, ist: Das muss ich Jimin erzählen!
Also eile ich praktisch im Sturzflug zu meinem Handy, das immer noch unbeachtet auf dem Nachttisch liegt und öffne den Chat mit Jimin.
"Der Song wurde angenommen!", schreibe ich ohne besonders viel Wert auf Ausschmückung der Nachricht zu legen. Ich starre noch einige Minuten gebannt auf den Chat, weil ich von Jimin eine Antwort erhoffe, aber obwohl er es gelesen hat, kommt erstmal nichts. Aber vielleicht ist er auch gerade nur beschäftigt und hat nicht die Zeit zum antworten.
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9.7.2021
Lesenacht Teil 4 ♡
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