17 - wie schaffst du das?

   

⊱─ ⋯ ─⊰ TAG 4 ⊱─ ⋯ ─⊰

[Sonntag mittags]

 
 
ʝιɱιɳ

Du liebes Bisschen - welche Laus ist dem denn über die Leber gelaufen? Yoongi wirkt völlig aufgelöst! Ich bin echt erschrocken, denn inzwischen mag ich Yoongi ziemlich gerne. Ich würde ihm am liebsten helfen, ihn beruhigen, ihm was Gutes tun. Aber er will jetzt eindeutig in Ruhe gelassen werden. 
Hm. Zumindest einen Kaffee kann ich ihm kochen. Dazu hat er noch nie nein gesagt. 
Also gehe ich in die Küche, koche reichlich Kaffee und belade mal wieder unser Tablett. Das stelle ich dann in unserem kleinen Flur neben Yoongis Zimmer auf den Boden.
Ich klopfe leise an seiner Tür. Keine Reaktion. Ich klopfe lauter, warte keine Antwort ab und sage einfach mein Sprüchlein auf.
"Vor der Tür steht Kaffee. Bedien Dich. Falls du mich suchst - ich hocke am Schreibtisch."

Den Rest muss er selbst hinkriegen. Er weiß - ich helfe gerne. Aber so kann ich nicht helfen. Hoffentlich ist ihm nichts Schlimmes passiert ...

  
  

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Ich könnte mich grade selbst Ohrfeigen - mal wieder. Ich habe natürlich nichts besseres zu tun, als Jimin jetzt auch noch so anzufahren. Reicht ja auch nicht, dass ich das bei Ten schon gemacht habe. Im Nachhinein muss ich gestehen, dass ich vielleicht ein bisschen überreagiert habe. 

Das schlimmste ist aber, dass Jimin noch nicht mal sauer deswegen wirkt. Dieser Kerl ist ein verdammter Engel! Wieso kann er nicht einfach sauer werden, mich anschnauzen oder sonst was? Nein, dieser Idiot ist trotzdem lieb zu mir. 

Ich raufe mir die Haare und schnaufe, über mich selbst zutiefst frustriert. 
Es bringt alles nichts. Ich werde mich bei ihm entschuldigen müssen, auch wenn ich noch nicht weiß, was ich ihm sagen soll.
"Hey, Jimin. Sorry für's anschnauzen, nen Bekannter meinte, ich hätte ne Schwäche für dich, und dann war ich sauer, weil ich das nicht will", formen sich meine Gedanken äußert sarkastisch. 

Nein. So definitiv nicht. 

Ich gehe zur Tür, zögere nochmal einen Moment, öffne sie dann aber doch. Der Geruch von Kaffee steigt mir in die Nase und ich bleibe einen Moment einfach mit geschlossenen Augen stehen und inhaliere den beruhigenden Duft. Meine extrem angespannten Nerven beruhigen sich.  

Ich befülle die Tasse, gehe mitsamt Kaffee zu Jimins Zimmer und klopfe leise an.
"Sorry. Ich wollt dich nicht so anfahren", entschuldige ich mich bei noch verschlossener Tür, bevor mich der Mut wieder verlässt. Das wäre jetzt der perfekte Zeitpunkt, um zu flüchten. Leider macht mir Jimin ein Strich durch die Rechnung und mir bleibt nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass Jimin nicht weiter auf das Thema eingeht. 

  
  
ʝιɱιɳ

Frustriert lasse ich mich auf mein Bett fallen. Es scheint ihm wichtig zu sein, was ich von ihm halte. Er will nicht wieder zurück in die kalte Wortlosigkeit, er will diese WG-Gemeinschaft, diese ... kann man das schon Freundschaft nennen? ... genau so wie ich. Und das berührt mich.

Ich bin ja gar nicht sauer, nur erschrocken. In meinem Kopf ist so viel Durcheinander, als hätte jemand eine Kiste mit Bauklötzen ausgekippt. Erst haben wir monatelang eine Nichtbeziehung - jetzt haben wir drei intensive Tage verbracht. Wenn er Zeit zum Nachdenken hat, zittert er, als stünde er am Himmelstor vor seinem Herrgott - wenn er damit ausnahmsweise mal aufhört, ist er fröhlich, verspielt, mutig und entspannt. Er scheint vor Nervosität zu sterben bei Menschen, bei Nähe und Berührung. Er ist ein musikalisches Genie mit ganz viel Gefühl und Tiefe in seinem Song, aber in der Realität ist er bis zum Erbrechen sachlich und vorsichtig. Und er scheint nicht einen Funken Glauben an sich selbst zu haben.

Und ich? Ich schlittere hin und her zwischen Irritation und Wohlgefühl, Hilflosigkeit und Neugierde, Sorge und Glück. Mal möchte ich Yoongi provozieren, mal möchte ich ihn einfach in die Arme nehmen und vor seinem eigenen inneren Quälgeist beschützen. Ich möchte mit ihm albern und tiefsinnig sein, mit ihm um die Wette rennen und ganz still die Sterne zählen. Ich möchte, das er die Erfahrung machen darf, was Zuhause bedeutet - der Ort, wo man sein darf, wie man grade drauf ist, und es ist einfach in Ordnung so.

Es ist absurd, und ich habe keine Ahnung, was da in mir abgeht. Hei, es ist keine vier Tage her, dass ich mich noch über jede Kleinigkeit aufgeregt habe. Was macht dieser Song da mit uns?

Ich habe noch nicht lange auf meinem Bett gelegen und ratlos die Decke angestarrt, als Yoongi an meine Tür klopft und sofort losredet wie ein Dampftopf mit Überdruck. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll, wie ich ihm die Angst nehmen, wie ich ihm gerecht werden kann. Aber ich darf ihn jetzt um Himmels Willen nicht warten lassen. Sonst dreht er da draußen endgültig durch. Also erhebe ich mich schnell und öffne ihm die Tür.

"Komm doch rein, Yoongi. Ich bin nicht sauer. Ich bin nur erschrocken."
Mit sehr zögernden Schritten kommt er einen Meter rein in mein Zimmer, sieht sich hilflos um. Ich deute auf mein Bett und hocke mich selbst rittlings auf meinen Schreibtischstuhl.

"Yoongi, ich ... Es geht mich nichts an, also stoppe mich, wenn du dich damit unwohl fühlst. Ich ... habe das Gefühl, dass es dir heute nicht gut geht. Wenn es geht, dann würde ich dir gerne helfen. Gedanken sortieren. Ärger verdauen. Wenn du magst, dann sag mir, was ich tun oder lassen soll. Wenn du heulen willst, dann tu das, ich halte das mit dir zusammen aus."

Yoongi steht die blanke Panik in den Augen.
"Du bist mir in den paar Tagen so wichtig geworden. Ich möchte einfach für dich da sein."

  
   

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Ich scheine neuerdings ein Talent dafür zu haben, beschissene Ideen umzusetzen. Der Besuch bei Ten war schon eine blöde Idee, aber in meinem jetzigen, aufgewühlten Zustand zu Jimin zu gehen, übertrifft das nochmal. Klar, es musste sein, aber vielleicht hätte ich besser noch ein bisschen gewartet, denn wenn ich ehrlich bin, geht's mir grade verdammt scheiße.

Jimins Blick strahlt so viel Wohlwollen aus, so viel Ruhe, so viel Aufrichtigkeit, dass es mir beinahe wehtut. Anstatt sauer zu sein, oder zumindest beleidigt, findet er Worte, die direkt wieder den Weg in mein Herz finden. Scheiß Dreck ... Ten hat doch wohl nicht etwa Recht mit seiner abstrusen Behauptung? Aber wie kann man denn bei diesem Typen auch anders? Wer bei solchen Worten keine Schwäche für ihn entwickelt, dem ist nicht mehr zu helfen ... 

"Du ... mir auch, Jimin", schaffe ich endlich zu sagen und klinge dabei sogar halbwegs ruhig. Dabei tobt in mir ein Sturm! Unsere Blicke treffen sich, und so wie Jimin gerade schaut, wirkt es für mich so, als könne er in meinen Augen ablesen, was in mir vorgeht. 

Was ich sagen soll, weiß ich dadurch leider immer noch nicht. Das Gespräch mit Ten geht mir immer wieder durch den Kopf und ja verdammt. Ich bin in Jimins Nähe vielleicht wirklich nervöser, als bei anderen. Aber das muss nichts bedeuten, oder? Vielleicht heißt das einfach, dass ich mich das erste mal wirklich wieder mit jemanden richtig anfreunden kann. Oder so. 

"Vielleicht hast du Recht, mir geht's heute nicht so gut. Also, nicht, dass mir was fehlen würde. Ich bin nur ... ähm. Verwirrt? Überfordert?", erkläre ich mich und mein seltsames Verhalten. In dem Moment gewinnt der Teil in mir, der sagt, dass ich bloß nicht weiter Jimin anstarren sollte. Also richte ich meinen Blick auf meine Hände, die sich in ihrer Verzweiflung ein Kissen geschnappt haben und nun ungeduldig an den Ecken rumknibbeln. 
"Darf ich dich mal was ganz blödes fragen, Jimin?" 

  
  
ʝιɱιɳ

Was auch immer ihn jetzt wieder verwirrt und überfordert - seine innere Not ist kaum auszuhalten.
"Es gibt keine blöden Fragen - nur blöde Reaktionen oder Antworten. Klar darfst du fragen. Scheu dich nicht. Ich kann dir ja sagen, wenn ich nicht antworten will."

  
   

𝕐𝕠𝕠𝕟𝕘𝕚

Tief durchatmen, Min Yoongi! 

"Wie schaffst du es, immer zu wissen, was du grade fühlst? Mann, klingt das blöd. Also, ich meine ... du wirkst immer so sicher, wenn du davon erzählst. Du scheinst immer zu wissen, was grade in dir vorgeht." 

Jupp, und bei mir ist gerade das reinste Gewusel im Kopf. Als würde ein Gewitter aufziehen, es zwischendurch mal regnen, aber manchmal kommen doch noch ein paar Sonnenstrahlen durch. Die Windböen sorgen dafür, dass sich eine Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitet und trotzdem ist es immer noch irgendwie warm. 

Und wieder malträtiere ich das Kissen, diesmal noch wesentlich energischer. Bevor ich es ganz zerrupfe, lege ich es schnell neben mich. Ganze drei Sekunden. Denn kaum ist es auf der Seite, weiß ich nicht mehr, was ich mit meinen Händen machen soll, schnappe es mir doch wieder und bette es auf meinen Schoß. 

   
  
ʝιɱιɳ

Geniale Frage. Hoffentlich finde ich die richtige Antwort für ihn.
"Gib mir einen Moment zum Nachdenken und Nachfühlen, bitte."

Weiß ich wirklich immer, was ich grade fühle? Und woher weiß ich das dann? Hat mich das jemand gelehrt, oder konnte ich das schon immer? Heißt das, dass man lernen kann, seine eigenen Gefühle zu verstehen?

"Zunächst mal - nein, das klingt nicht blöd. Das klingt spannend. Dann: Jeder Mensch wächst innerhalb seiner Familie mit Gewohnheiten und Möglichkeiten auf, die ihm so lange normal erscheinen, bis er merkt, dass andere nach ganz anderen Gewohnheiten leben.
Ich bin es gewohnt, dass wir offen, ehrlich und zugewandt miteinander umgehen zu Hause. Wir sind allesamt keine Heiligen, aber wir durften immer träumen und fühlen und verrückt sein. Was meine Oma und auch meine Mutter auszeichnet, ist die endlose Geduld zu warten, bis man seine Gedanken und Gefühle sortiert hat und aussprechen kann.
Deshalb hab ich vorgestern gesagt: jetzt ist hier zu Hause. Weil wir beide angefangen haben, uns gegenseitig diese Wertschätzung entgegen zu bringen."

Ich sortiere weiter meine Gedanken. Yoongi hört einfach zu, und allmählich werden seine Hände ruhiger.

"Ich glaube also nicht, dass mir die Fähigkeit, mich selbst wahrzunehmen und auszudrücken, in die Wiege gelegt wurde. Ich bin damit groß geworden, habe mich immer darin geborgen fühlen können und habe es dabei gelernt. Die gute Nachricht daran ist: man kann das lernen!
Vielleicht ist es ein bisschen auch eine Typfrage, aber: Man kann es lernen, und ganz bestimmt kannst auch du lernen, besser auf dein Inneres zu hören, gnädiger mit dir selbst umzugehen und dabei immer sicherer zu werden. Selbst, wenn du nicht in so einer Familie groß geworden bist. Selbst, wenn du als Kind erlebt hast, dass dir keiner zuhört, dass dich niemand ernst nimmt, dass keiner geduldig genug ist für dich, dass du unwichtig bist - ich weiß ja nicht, was du alles erlebt hast. Du kannst dich mit Menschen umgeben, die dir diese Wertschätzung und Geduld entgegen bringen, und dann wirst auch du immer besser lernen, dich zu verstehen."

.................................................................

4.7.2021

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top