Surreal (@Hell_inHeaven66)

Langsam kroch die Sonne hinter den Wolkenkratzern New Yorks empor und verscheuchte die Nacht. Ihre hellen Strahlen spiegelten sich tausendfach in den Glasscheiben der Hochhäuser und gaben ein beeindruckendes Bild ab. Ein schöner Morgen, aber gleichzeitig auch etwas, dass Keith Jackson nicht weniger interessieren könnte. Er streckte sich ausgiebig, während er sein Taxi einhändig durch den Verkehr lenkte. Der Taxifahrer hatte die ganze Nacht Fahrgäste von A nach B transportiert und freute sich nun auf sein Schichtende.

Trotz der frühen Uhrzeit waren einige Autos unterwegs und schlängelten sich die engen Straßen entlang. Limousinen mit getönten Scheiben, Dienstwagen und haufenweise andere Taxis. New York wurde ihrem Namen als 'Stadt, die niemals schläft' mehr als gerecht.

Auch Passanten hasteten bereits die schmalen Bordsteine entlang. Sie schoben immer wieder Touristen beiseite, welche wohl der Ansicht waren, es sei eine gute Idee, die Freiheitsstatue bereits, um 6 AM zu besuchen.

Darüber konnte Keith nur mit den Augen rollen. Er verstand kaum, wie man freiwillig zu so einer unchristlichen Uhrzeit Sehenswürdigkeiten besichtigen konnte., Aber vielleicht rührte dies auch daher, dass er immer andere Probleme gehabt hatte und schon ewig in dieser Metropole lebte.

Keith lenkte seine Gedanken wieder auf seine Umgebung. Mittlerweile war er an der Columbia University angekommen: Die riesigen Sandsteinsäulen am Eingang, glichen der Fassade eines alten Tempels und ließen das Gebäude noch größer erscheinen, als es sowieso schon war. Die morgendlichen Sonnenstrahlen brachten es außerdem wunderschön zum Leuchten.

Keith sah erste Studierenden, welche bereits den Campus betraten. Als Kind hatte er immer davon geträumt, hier Geschichte zu studieren – wohl wissend, dass er nie im Leben so viel Geld haben würde.

Wie so oft, wenn dieser Gedanke in ihm aufkeimte, überkam ihn eine Welle der Enttäuschung. Vielleicht hätte er eine Chance gehabt, wenn er sich um ein Stipendium beworben hätte. Allerdings hatte man ihm ein Leben lang eingeschärft, so schnell wie möglich Geld zu verdienen und erst einmal studieren zu gehen, war für seine Eltern nie infrage gekommen.

Dann fiel sein Blick auf einen Mann, welcher zwischen den Studierenden stand und sich hektisch umsah. Er sah so verloren aus, dass er Keith sofort auffiel.

Der Mann war wohl Anfang dreißig trug eine Hornbrille sowie ein beigefarbenes Shirt. Über die Jahre als Taxifahrer hatte Keith gelernt, Menschen äußerlich einzuschätzen, und dieser Mann war seiner Kleidung nach zu urteilen, Dozent. Außerdem stand er vor dem Department für Archäologie und Geschichte, also vermutete Keith, dass er auch dort unterrichtete. Das ungewöhnliche war allerdings die eindeutige Panik in seinem Gesicht.

Plötzlich schien er Keiths Taxi zu sehen, denn er lief auf ihn zu und hob im Lauf einen Arm.

Keith bremste, auch wenn er eigentlich Feierabend hatte. Die Neugier hatte ihn gepackt und jetzt einfach weiterzufahren schien ihm nicht richtig. Außerdem schaltete er sein »Off Duty« Schild niemals ein. Er nahm jedes Geld, dass er kriegen konnte. Der junge Mann stieg sofort hinten ein.

»Wohin soll's gehen?«, fragte Keith freundlich.

»Ähh.« Sein Fahrgast schien, als wäre er nicht ganz bei sich. »Upper West Side, Amsterdam Avenue.«

»Okay.« Keith hatte schon einige kurze Fahrten unternommen, doch bis zur Amsterdam Avenue war es bloß eine halbe Meile, die man problemlos zu Fuß bewältigen konnte. Doch Keith sagte nichts.

Während er schweigend fuhr, begann der Dozent zu telefonieren – oder versuchte es, denn er sprach offensichtlich mit einer Mailbox. »Hey, Ariel, ruf mich so schnell wie möglich zurück. Ich ... ich weiß nicht, was ich tun soll. Verdammt, ich brauch dich!«

Langsam machte Keith die Panik des Mannes ein wenig Sorgen. »Alles in Ordnung, Mister?«

»Ja, ja.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung, doch die Angst in seinen Augen verschwand nicht.

Als Keith schließlich am Ziel anhielt, sprang der Mann förmlich aus dem Auto.

»Sie müssen noch zahlen.«, rief Keith ihm hinterher und ein zehn Dollarschein kam durch sein Fenster geflogen, fast das doppelte von dem, was eigentlich hätte gezahlt werden müssen.

Keith sah ihm stirnrunzelnd nach. Es kam selten vor, dass er so hohes Trinkgeld bekam. New Yorker waren normalerweise unglaublich geizig.

Gedanklich noch bei seinem seltsamen Gast, machte er sich auf den Weg nach Hause.

***

Als Keith ankam, hatte er den wundersamen New Yorker schon fast wieder vergessen. Müde stieg er aus und sofort begrüßte ihn der Gestank nach Abgasen und Urin, den Keith kaum noch wahrnahm, so sehr hatte er sich daran gewöhnt.

Gähnend schlug er die sonnengelbe Fahrertür zu, als er einen dunklen Schatten auf der Rückbank bemerkte . Keith kniff die Augen zusammen und trat einen Schritt näher an die Hintertür. Auch wenn es spiegelte, erkannte Keith eine braune Aktentasche. Sofort dachte er an seinen ängstlichen Fahrgast. Hatte dieser nicht die gleiche Tasche in der Hand gehalten?

Neugier überkam Keith und er öffnete sein Taxi wieder. Tatsächlich, es war die Tasche seines Fahrgastes. Die Mappe bestand aus weichem, braunem Leder und war augenscheinlich neu. Allerdings ein wenig leicht. Kurz rang Keith mit sich, doch dann öffnete er sie, wobei er den Gedanken an Geld, welches sich womöglich in der Tasche befand, nicht ganz loswerden konnte. Als er den Deckel anhob, stutze er. Denn alles, was sich in der überaus teuren Tasche befand, war ein altes Stück Papier.

Vorsichtig nahm er es heraus, es war eine Schriftrolle, offenbar aus Papyrus. Sie war brüchig und Keith gab sich größte Mühe, nichts zu beschädigen, während er sie auseinanderrollte.

Er konnte die Ehrfurcht, welche ihn überkam, nicht unterdrücken. Das Schriftstück war definitiv ein ägyptischer Papyrus, denn es war über und über mit Hieroglyphen beschrieben. Obwohl Keith kein Wort verstand, fühlte er sich, als würde er einen Teil seines Kindheitstraums in den Händen halten. Vor allem die ägyptische Geschichte hatte ihn immer fasziniert. So sehr, dass er einmal den gesamten Götterkanon auswendig gelernt hatte und ihn immer noch konnte.

Keith sah von dem Papyrus wieder zurück zur Tasche. Es müsste doch einen Hinweis geben, wer der Mann war, dem sie gehörte. Also durchsuchte Keith sie nochmals gründlich und fand tatsächlich ein Namensschild. Auf cremefarbenes Papier geschrieben, stand dort in akkurater Handschrift:

Dies ist Eigentum von:
Dr. Jeremiah Williams
Professor für ägyptische Geschichte am Department für
Geschichte und Archäologie, Columbia University
Wohnhaft: 10 / 2, 1654 Amsterdam AVE, New York City

Keith hatte also recht gehabt, der Mann war Dozent im Fachbereich Archäologie, das erklärte auch den Papyrus. Er sah auf seine Uhr, 6.15 AM. Entweder würde er jetzt die Tür zu seiner winzigen Wohnung aufschließen und ins Bett verschwinden, oder den Besitzer der Aktentasche suchen.

Die Entscheidung fiel ihm leicht. Seine Müdigkeit war bereits verflogen. Er brauchte ein kleines Abenteuer in seinem langweiligen Leben. Er legte die Tasche auf den Beifahrersitz und schwang sich zurück ins Taxi.

Die Fahrt war kurz, und so parkte Keith nach wenigen Minuten vor einem großen graubraunen Hochhaus. Da er sich sicher war, dass sich bei 10 / 2 um die Appartmentnummer handelte, fuhr er gleich mit dem Aufzug in den zehnten Stock. Die Aktentasche fest in der Hand klopfte er sogleich bei Apartment Nummer zwei.

Sein Fahrgast öffnete und sofort schlich sich Verwirrung und Angst in seinen Ausdruck.

»Hallo, Mr. Williams«, grüßte Keith höflich. »Sie haben ihre Aktentasche in meinem Taxi vergessen.« Er hob sie in die Höhe.

Jeremiah Williams wich ängstlich zurück und hob sogar die Fäuste, als wolle er kämpfen. »W-Wer sind Sie?«, stotterte er, »Wie haben Sie mich gefunden, woher kennen Sie meinen Namen?«

Jetzt war Keith es, der verwirrt dreinblickte und sich wiederholte. »Mein Name ist Keith Jackson und ...«, er nahm das Namensschild an der Tasche in die Hand, »Ihr

Name und Ihre Adresse standen hier.« Williams entspannte sich ein wenig.

»Ach so, also ...«, er zog aus seiner Hosentasche ein Bündel Scheine und Keith konnte den Freudensprung, welchen sein Herz machte, nicht unterdrücken.

»Seien Sie so gut und nehmen Sie die Tasche mit, egal wohin.« Er drückte Keith das Geld in die Hand.

Verdattert stand dieser nun dort, unschlüssig, was er jetzt tun sollte.

»Jeremiah.«, erklang plötzlich eine tadelnde Stimme aus der Wohnung und ließ sowohl Keith als auch den Angesprochenen zusammenzucken.

Eine Frau trat in den Flur, sie musste ungefähre so alt sein wie Jeremiah und trug einen eleganten Hosenanzug. Ihre hellbraunen Haare waren zu einem schicken Bob geschnitten und sie wirkte allgemein sehr elegant.

»Was machst du da?«

»Ah, Ariel, ich...« Jeremiah rang nach Worten.

»Was ist da drin?«, unterbrach sie ihn harsch.

Das war also die Person, mit der er im Taxi hatte telefonieren wollen, dachte Keith. Er ließ das Geld, bevor jemand auf die Idee kam, es ihm wieder wegzunehmen, in seiner Hosentasche verschwinden.

Ariel schien Keith erst jetzt zu bemerken, denn ihr strenger Gesichtsausdruck wurde augenblicklich freundlicher. »Verzeihung, Mister«, lächelnd kam sie auf ihn zu. »Ich bin Ariel Williams.« Mit einem Seitenblick ergänzte sie: »Seine Schwester.«

»Freut mich. Keith Jackson«, stellte er sich rasch vor.

Ariel sah auf die Aktentasche, welche Keith immer noch in der Hand hielt. »Wissen Sie, was sich darin befindet?« Ihre Stimme blieb freundlich, aber bekam nun einen fordernden Unterton.

»Ein Papyrus«, sagte er also wahrheitsgemäß. »Sonst nichts.«

Sie tauschte mit Jeremiah einen Blick, den Keith nicht deuten konnte, bevor sie die Hand nach der Aktentasche ausstreckte. »Darf ich?«

Wortlos reichte Keith ihr die Mappe. Mit flinken Fingern öffnete Ariel sie, zog den Papyrus heraus und überflog ihn.

»Können Sie das lesen?«, neugierig beobachtete Keith die junge Frau.

Ariel nickte abwesend, was Keith vermuten ließ, dass sie ebenfalls Ägyptologie studiert hatte. Als sie wieder aufsah, lag ein seltsamer Ausdruck in ihrem Gesicht, eine Mischung aus Verwirrung, Unverständnis und Angst.

»Lasst uns reingehen.«

Jeremiah seufzte und ging in die Wohnung. Keith war unsicher, ob er auch gemeint war. Doch die Frage erübrigte sich, als Ariel ihm die Tür aufhielt. Er folgte ihr durch einen schmalen Flur in einen recht geräumigen Wohn- und Essbereich.

Ariel zog im Vorbeigehen vier kleine Holzklötze aus einer Schublade und blieb dann an einem großen Tisch stehen. Er lag vollgestellt mit Zeitungsausschnitten, Büchern und Artefakten die Keith noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Sie kehrte einfach alles mit einer Handbewegung an den Rand, bevor sie vorsichtig den Papyrus ausrollte und die Ecken mit dem Holz beschwerte, damit er offenblieb.

Jetzt sah sie Jeremiah an: »Woher hast du das?«

»Aus dem Temple of Dendur«, stammelte dieser. »Ich war mit meinem Kurs dort und – und es lag dort ich hatte nicht die Möglichkeit, es zu lesen, also habe ich ...", seine Stimme wurde von Wort zu Wort leiser, »... es mitgenommen. Es geht um Neptuchamun, du weißt schon, den Pharao, über den ich bei meiner letzten Ägyptenreise einige Quellen entdeckt habe. In dieser hier steht sein Name sehr deutlich. Ich hatte im Museum, aber keine Möglichkeit den Papyrus richtig zu studieren und er ist neu, also hätten sie ihn mir niemals jetzt schon ausgeliehen. « Er sah schuldbewusst zu seiner Schwester. Doch Keith entging nicht das abenteuerlustige Funkeln in seinen Augen, welches aufgeblitzt war, während Jeremiah gesprochen hatte. »Dann in meinem Büro habe ich es allerdings gelesen... und«, jetzt war wieder Angst in seinen Zügen, »es ist grauenhaft, also habe ich versucht, es in einem Taxi loszuwerden und ...«

Ariel unterbrach seinen Redefluss. »Du hast ein Dokument aus einem Museum geklaut, es gelesen und dann versucht es loszuwerden, weil du Angst bekommen hast, aber in deiner Hektik vergessen, dass deine Aktentasche mit

Namen und Anschrift versehen ist?«

Jeremiah nickte. Ariel schüttelte den Kopf.

»Es hat mich magisch angezogen«, er sah sie flehend an. »Es ist das Schriftstück, nach dem ich so lange gesucht haben«

Ariel hob tadelnd eine Augenbraue: »Deine Besessenheit ist noch lange kein Grund etwas zu stehlen.«

Keith verstand nichts mehr, er kannte den Temple of Dendur, ein kleiner Tempel, welcher Nahe der Columbia Universität im Metropolitan Museum of Art ausgestellt war. Dennoch verstand er den Zusammenhang mit dem Schriftstück nicht ganz. »Erklärt mir jetzt bitte einer von Ihnen, was so wichtig an diesem Papyrus ist und wer dieser Pharao ist?«

Die Geschwister sahen ihn an, als hätten sie vergessen, dass er noch da war.

Ariel erbarmte sich schließlich »Es ist eine Prophezeiung von Neptuchamun. Er war Pharao im alten Ägypten und beschreibt darin, wie Seth noch einmal nach Ägypten zurückkehrt, um alles Unrecht zu beseitigen.«

Keith kniff die Augen zusammen. »Und was ist so schrecklich an dieser Prophezeiung, dass Sie versucht haben, sie in meinem Taxi loszuwerden?«, sprach er seinen ersten Gedanken aus. Ägypten war schließlich nicht New York. Warum sollte es sie kümmern, wenn ein ägyptischer Pharao in sein Land zurückkehrte.

Ariel seufzte. »Laut den Legenden gibt es bestimmte Bildnisse, durch die die Götter die Duat, also das ägyptische Jenseits, verlassen können. Das Problem ist, dass diese Prophezeiung vor über 3000 Jahren geschrieben wurde. Also befinden sich die Bildnisse nicht mehr dort, wo sie früher einmal gewesen waren.« Sie machte eine kurze Pause und Keith begriff allmählich, worauf sie hinauswollte. »Außerdem sind die Bildnisse unterschiedlich stark und das stärkste, an dem der Übergang zwischen beiden Welten am leichtesten gelingen kann, ist Cleopatra's Needles Paar. Und genau die stehen mittlerweile mitten in New York und London.«

Ariel wollte gerade noch etwas hinzufügen, als Jeremiah sie unterbrach. »Das wäre ja alles kein Problem, wenn diese Prophezeiung kein Datum hätte«, sagte er mit zitternder Stimme. »Und zwar das heutige, das Totenfest des Osiris.«

Keith öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, geschweige denn, wie viel er davon glauben konnte. Cleopatra's Needles waren zwei riesige Obelisken, welche Ende des 19. Jahrhunderts aus Ägypten nach Großbritannien und Amerika kamen. Er meinte sich dunkel daran zu erinnern, dass sie ein Geschenk der ägyptischen Regierung gewesen waren. Er war sich eigentlich ziemlich sicher, dass sie kein Tor zum ägyptischen Jenseits waren.

»Was macht euch so sicher, dass diese Prophezeiung echt ist? Ich meine, sie könnte ja auch gefakt worden sein?«, fragte er schließlich.

»Das hier sind altägyptische Hieroglyphen. Aber über die Jahrhunderte ist das Wissen, sie zu schreiben, durch Einflüsse aus dem griechischen und dem Einfall des Christentums in Ägypten verloren gegangen«, erklärte Jeremiah. »Deshalb können wir sie heutzutage zwar noch halbwegs lesen, aber keinesfalls schreiben. Die Schriftrolle stammt definitiv aus dem alten Ägypten, und zwar aus der Zeit um etwa 1500 vor Christus. Deshalb war es auch so seltsam, dass sie bei dem Tempel hing, er ist nämlich erst etwa 10 vor Christus fertiggestellt worden.«

Keith war immer noch skeptisch. Er war zwar keineswegs frei von Aberglauben, aber eine düstere ägyptische Prophezeiung über den Weltuntergang, klang für ihn doch recht weit hergeholt. »Was macht euch so sicher, dass genau heute die Welt untergeht?«

Ariel zuckte mit den Schultern: »Der Wortlaut ist: Osiris kann nicht ewig halten, was Böses verspricht, so wird Seth die Mauern durchbrechen, noch bevor Apophis und Ra ihren letzten Kampf ausgefochten haben, sie ...« Ariel stockte, als hätte sie etwas entdeckt, was vorher nicht da gewesen war. »Hast du die anderen Quellen um diesen Pharao noch da?«

Jeremiah sah sie verwirrt an. »Ja, warte.«

Er lief zu einer Schublade und zog zwei weitere Papyri hervor, Ariel breitete sie ebenfalls auf dem Tisch aus.

»Warum...«, setze Jeremiah an, aber Ariel unterbrach ihn, indem sie den Zeigefinger hob.

Sie kramte ein Stück Papier und einen Stift hervor und kritzelte eilig einige Hieroglyphen darauf. Dann begann sie zu erklären. »Ich meinte mich zu erinnern, dass ich einen Wortlaut hier drin schonmal gehört habe.« Sie deutete auf drei Textstellen. »Ich hatte recht, es sind drei ähnliche Formulierungen, aus denen ich die Unterschiede herausgeschrieben habe.«

Jeremiah beugte sich über die Papyri und murmelte etwas unverständliches. Keith konnte nichts von all dem lesen und sah den Geschwistern fasziniert zu.

»Das stimmt nicht«, sagte Jeremiah plötzlich und deutete auf eine Hieroglyphe, er korrigierte sie.

»So ergibt es aber keinen Sinn mehr ...« Ariel unterbrach sich selbst, als ein Leuchten von den Hieroglyphen auszugehen schien. Jeremiah machte erschrocken einen Satz nach hinten und auch Keith ging langsam rückwärts.

»Was steht da?«, fragte er.

»Unverständliches Kauderwelsch, jetzt da Jeremiah es verändert hat«, erwiderte Ariel, ihre Stimme zitterte leicht. In ihren Augen lag eine Mischung aus entsetzen und Faszination. »In der Reihenfolge sind es nur zusammenhangslose Laute.«

Die Hieroglyphen erhoben sich vom Papier und schwebten nun in der Luft, ihr gelbliches Glühen würde stärker.

»Ach du heilige Scheiße«, entfuhr es Keith, sofort kroch Angst seine Kehle hinauf, er gab sich Mühe, seinen Fluchtinstinkt zu unterdrücken.

Nun kam auch noch ein Summen hinzu, das die Luft zum Vibrieren brachte. Wie ein Schwarm goldgelber Insekten hingen die Zeichen in der Luft und wuchsen immer weiter an! Mit Schrecken beobachteten sie, wie die Hieroglyphen die Größe eines menschlichen Kopfes annahmen. Als sie plötzlich mit einem lauten Knall verschwanden.

Jeremiah sah seine Schwester mit weit aufgerissenen Augen und panischem Gesichtsausdruck an. »Was zur

Hölle haben wir getan?«

Ariel antwortete nicht, sie starrte mit versteinerten Gesichtszügen auf die Zeichen, auch in ihren Augen flackerte nun Angst.

Keith hörte sein Herz schlagen, es hämmerte gegen seine Rippen, für wenige Sekunden war es das einzige Geräusch in dieser angsterfüllten Stille.

Dann drangen Schreie durch das Fenster. Ariel, Jeremiah und Keith stürmten zeitgleich nach vorne.

»Scheiße«, war der ernüchternde Kommentar von Ariel, welche sich zuerst wieder gefangen hatte, Ein Wort, dass die Situation überraschend gut beschrieb.

Wie Ameisen stürmte eine Horde Menschen durch die Straßen New Yorks. Nicht einmal das wilde Hupen von empörten Autofahrern konnte sie aufhalten. Sie schienen sich alle fluchtartig von einem bestimmten Punkt zu entfernen. Nach wenigen Sekunden begriff Keith auch warum: Ein riesiges geflügeltes Wesen erhob sich hinter den Hochhäusern. Es hatte einen Pferdekörper, doch an seinen Vorderbeinen waren keine Hufen, sondern Krallen, welche einem Adler ähnelten. Ebenso saß auf dem Pferdhals ein gefiederter Adlerkopf.

»I-Ist das ein Greif?!«, blankes Entsetzen schwang in Jeremiahs Stimme mit.

Ariel schluckte und deutete hinter den Greif. »Es scheint nicht das einzige seiner Art zu sein.«

Kaum hatte sie den Satz zu Ende gesprochen, erhob sich eine Armee aus Fabelwesen über den Häusern. Nicht bloß Greifen, nein, auch geflügelte Schlangen zischten durch die Luft, über den Boden rannten Tiere mit Leoparden Körpern und Schlangenköpfen und sogar eine Chimäre trampelte zwischen den Autos entlang.

»Und jetzt?« Keith konnte seine Angst kaum unterdrücken.

»Jetzt«, sagte Ariel, während sie den Papyrus mit einigen anderen Dingen, die Keith nicht benennen konnte, wieder in die Aktentasche warf und sich diese umhing, »schnappen wir uns ein Auto und fahren zu Cleopatra's Needle. Ich bin mir sicher, dass die ganzen Wesen von dort kommen.«

Sie hastete zur Tür und ignorierte jeglichen Protest.

***

Keith hatte sich Cleopatra's Needle noch nie von Nahem angesehen, doch jetzt, wo er mit seinem Taxi darauf zuraste, war er sich sicher, dass sie nicht so aussah, wie sie es sollte. Die Hieroglyphen, welche in den Stein gemeißelt worden waren, glühten bedrohlich und die Konturen des Obelisken schienen zu verschwimmen. Er bildete wohl eine Art Portal, denn Ariel hatte recht behalten: sämtliche Fabelwesen kamen aus ihm hervor.

Während Keith wie gebannt auf das Geschehen starrte, versperrten ihm plötzlich Federn die Sicht. Ein Greif raste auf sein Taxi zu, das riesige Tier schlug kräftig mit den braunen Schwingen und sein Schnabel klapperte bedrohlich. Entsetzen breitete sich in Keith aus, vor Angst gelähmt konnte er nicht tun, als den scharfen Klauen entgegenzublicken. Er war sich sicher, dass das sein Ende war.

Jeremiah war wohl anderer Meinung, denn griff ins Lenkrad. »Brems, verdammt brems!«, schrie er.

Geistesgegenwärtig trat Keith auf die Bremse und das Auto kam quietschend zum Stehen. Allerdings hatte der Greif die Verfolgung noch nicht aufgegeben, denn das Federvieh drehte und flog wieder auf sie zu.

»Raus hier!«, brüllte Ariel und alle drei warfen sich aus dem Fahrzeug.

Keine Sekunde zu spät. Der Vogel krachte mit dem Schnabel durch den Kofferraum und Keith beobachtete, wie sein Dienstwagen sich in Schutt verwandelte. Doch er hatte keine Zeit, um das Taxi zu trauern. Jeremiah packte ihn am Arm und zwang ihn loszurennen.

»Das war dein Plan?«, keifte Jeremiah seine Schwester an. »Wir fahren einfach hin und gucken was passiert?«, es sollte wohl wütend klingen, doch seine Stimme war dafür zwei Oktaven zu hoch.

»Nein, mein Plan war es, das Ganze aufzuhalten.«

Ariel griff in die Aktentasche und zog den Papyrus heraus.

Sie überflog hektisch das Schriftstück.

»Es muss hier irgendwas geben«, murmelte sie. »Ah na bitte, ein Spruch!«

Sie riss einen Bleistift aus ihrer Tasche und markierte einige Hieroglyphen. Jeremiah stieß einen klagenden Laut aus, als sie das Dokument verunstaltete. Keith wollte gerade fragen, worum es sich handelte, als das Haus hinter ihnen wortwörtlich in seine Einzelteile zerbrach. Keith gab vor Angst ein hohes Kreischen von sich.

Aber dieses Mal war es kein Greif, sondern ein roter Blitz, der die Steinmauern blutrot brennen ließ. Keith spürte, wie Ariel ihn am Handgelenk packte und mitzerrte.

»Ist das Seth?«, fragte Jeremiah panisch.

Ariel drehte im Lauf den Kopf nach hinten. »Ach du Scheiße. JaAAA.«

Sie hätte besser auf den Weg vor sich geachtet, denn so sah sie die Trümmerteile vor ihren Füßen nicht und fiel der Länge nach auf den Boden. Keith, dessen Handgelenk sie immer noch fest im Griff hatte, stürzte mit ihr.

Jeremiah wollte bremsen und ihnen helfen, aber Ariel warf ihm den Papyrus zu.

»Lauf! lauf und benutze es!«, schrie sie ihm zu und ihr Bruder rannte.

Keith drehte den Kopf nach hinten und erneut sah er etwas, das er nicht glauben konnte. Denn ein riesiger großer Mann kam auf ihn zu. Die Gestalt trug nichts weiter als einen Lendenschurz. Seine rote Haut spannte sich hart um seinen muskulösen Oberkörper, aus seinen Händen schossen die unheilvollen roten Blitze. Doch das Grausamste war sein Kopf, den Keith als eine Mischung aus Antilopen- und Hundekopf interpretierte.

»Verdammt, das ist Seth!«, murmelte Ariel verstört und robbte rückwärts.

Der Gott war nicht gerade langsam. Keith rappelte sich ebenfalls wieder auf, als ein lauter Knall ertönte und es mit einem Mal dunkler wurde. Es war, als hätte jemand einen Rotfilter über die Welt gelegt. Keith legte den Kopf in den Nacken und sah zum Himmel. Er war blutrot. Keith hatte bereits Abbildungen des Gottes Seth und seinen Flüchen gesehen, aber das hier übertraf jegliche Bilder und Vorstellungskräfte.

»Das sind Hieroglyphen«, sagte Ariel völlig zusammenhangslos mit tonloser Stimme.

»Was?«

»Das, was da aus seinen Händen kommt!« Sie war wie zur Salzsäule erstarrt und ihr ängstlicher Blick hing an dem Gott.

Keith kniff die Augen zusammen. Sie hatte recht. Es waren keine Blitze, sondern kleine Symbole. Während er noch versuchte, zu begreifen, was er da sah, stoppte eine Hieroglyphe genau vor ihnen und schwebte in der Luft.

Keith kannte sie nicht, aber Ariel riss die Augen auf.

»Scheiße«, flüsterte sie, als sich dunkle Seile um sie wickelten. Sie schrie noch auf, bevor sich ein Strang um ihren Mund zog Ihre Füße hoben vom Boden ab und sie bewegte sich auf Seth zu.

Keith stand einfach nur da. Die Angst fraß sich durch seine Gedanken, machte es ihm aber gleichzeitig unmöglich, sich zu bewegen. Ariel zu helfen, erschien ihm logisch, doch er hatte nicht den Hauch einer Ahnung, wie er gegen dieses Monster ankommen sollte.

Ein, auf ihn zufliegendes, Stück Schutt unterbrach seine Gedanken und nahm ihm die Entscheidung. Er gab seinem Fluchtinstinkt nach.

Keith hetzte, getrieben von seiner eigenen Angst, im Zickzack durch die Straßen. Er sah nicht zurück, blickte sich bloß nach Jeremiah um, konnte ihn aber nirgends finden. Bis er in ihn hineinrannte.

»Du bist es«, keuchte Jeremiah, als Keith zum Stehen kam. »Wo ist Ariel?«

Keith deutete bloß in Richtung des Gottes. Sofort fiel Jeremiah auf die Knie und zog ein Stück Kreide aus seiner Hosentasche. er breitete den Papyrus aus und beschwerte die Ecken mit ein paar Steinen. Dann blickte er kurz hoch zu Keith, bevor er die Kreide zerbrach und ihm eine Hälfte reichte.

»Komm her und zeichne das ab. Ich habe endlich verstanden, was Ariel meinte.« Er deutete auf die unterstrichenen Zeilen.

Keith widersprach nicht. Er ging neben Jeremiah auf die Knie und malte los. Als er beinahe fertig war, hörte er einen Schrei, so laut, dass er die anderen Geräusche übertönte.

Jeremiah zuckte zusammen. »Ariel", flüsterte er und schrieb schneller. Keith konnte aus dem Augenwinkel Jeremiahs Panik sehen, seine Finger zitterten und er schwitzte. Aber auch Keith selbst musste seine Angst unterdrücken.

Kaum hatten die beiden die letzten Zeichen vollendet, leuchteten sie gelb, genau wie die Hieroglyphen in der Wohnung. Sie erhoben sich und flogen auf Seth zu. Als sie ihn erreichten, kreischte der Gott auf. Ein ohrenbetäubender Laut Jeremiah stürmte nach vorn und schrie den Namen seiner Schwester.

Keith starrte einfach nur in die Luft, für ihn war alles so surreal. Er fühlte sich wie in Watte gepackt, und die Zeit schien langsamer zu vergehen.

Plötzlich ertönte ein leises Plopp und ein Junge erschien direkt vor ihm. Er hatte bleiche Haut, dunkles Haar und war ungefähr sechzehn. Er lächelte. »Hallo.«

Keith war von den Ereignissen des Tages schon so fertig, dass ihn das Erscheinen des Jungen aus dem Nichts absolut nicht überraschte. »Hallo.«

Der Junge sah neben Keith auf den Boden, wo immer noch der Papyrus lag. »Gibst du mir den? Dann kann ich das alles hier beenden.«

Keith bückte sich und rollte das brüchige Papier zusammen. Er fragte nicht, wer der Junge war. Er fragte nicht, wo er herkam, und er fragte auch nicht, warum der Junge den Papyrus haben wollte. Er tat einfach, was ihm gesagt wurde. Keith fühlte nichts mehr. Bis ihn plötzlich eine unglaubliche Müdigkeit überkam, seine Knochen schmerzten und seine Sicht verschwamm. Er reichte dem Jungen das Schriftstück.

»Danke.«

Dann wurde alles schwarz.

Das Letzte, was Keith sah, war das Lächeln des Jungen, welches mit einem Schakalskopf verschwamm.

Von: Hell_inHeaven66


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