Schatten dieser Welt (@Clacie1)
Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch die Jalousien und machten die winzigen Staubkörner sichtbar, die durch den vollen Raum tanzten. Gedankenverloren schritt Susan durch die schmalen Durchgänge zwischen den Tischen und Podesten. Ihr Blick streifte die Informationstafeln über die ägyptische Kultur und eingerahmte Schriftrollen. Eine dicke Staubschicht bedeckte die gläsernen Kästen. Derselbe Schleier bedrückte auch ihr Herz, während Susan so ihre Bahnen zog.
Ein tiefes Seufzen drang aus ihrer Kehle und sie drückte die Klinke der weißen Tür auf, auf der mit großer Aufschrift »Privat« stand. Abgestandene Luft schlug ihr entgegen. Düster lag ihr Büro unberührt da, wie sie es im März zurückgelassen hatte. Die Briefe in ihrer Hand waren schwer und erdrückten Susan wie der stickige Raum. Schnell öffnete sie das Fenster und ließ die frische Brise hinein.
Den ersten Brief brauchte sie gar nicht erst zu öffnen, denn sie wusste, was sich darin verbarg. Der Druck um ihr Herz wurde stärker, doch sie ließ nicht zu, dass dieser sie übermannte. Sie presste ihre Lippen fest zusammen und hob ihr Kinn, ein stiller Trotz gegen die Tatsachen. Das Finanzamt würde ihr nur die rohe Wahrheit an den Kopf werfen, dass ihr kleines Museum kurz vor dem Ruin stand.
Also widmete sie sich zuerst dem anderen Kuvert. Es war überraschend schwer, und als sie es wendete, fand sie ein blutrotes Siegel. Ihre Fingerkuppen begannen vor Neugier zu kribbeln. Mit geschickten Händen brach sie den harten Wachs auf, um geschwind das beschriebene Blatt herauszuziehen. Viel stand nicht auf dem Papier, doch genug, um ihr den Atem zu verschlagen.
Sehr geehrte Frau Susan Roberts,
wir wünschen, Ihre Fähigkeit der altägyptischen Sprache
mächtig zu sein, in Anspruch zu nehmen. Sie würden fürstlich mit Ihrer gewünschten Summe belohnt werden. Wir bitten um höchste Geheimhaltung.
Hochachtungsvoll
Der Orden
Schnell meldete sich die Vernunft und Skepsis zu Wort. Warum wollte dieser ominöse Orden was von ihr? Von einer jungen Wissenschaftlerin, die kurz vor dem Finanztod stand. Woher kannten sie ihre finanziellen Probleme? Wer waren sie? Und wohin sollte sie antworten? Sie hatte soeben entdeckt, dass keine Briefmarke und kein Absender auf dem Umschlag zu finden waren. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Geheuer war ihr dieser »Orden« ganz und gar nicht. Doch der Brief vom Finanzamt lag anklagend auf ihrem Schreibtisch. Seufzend faltete sie die mysteriöse Post zusammen und wollte das Papier wieder in das Couvert stecken, als sie auf Widerstand stieß. Voller Erstaunen fischte sie eine Visitenkarte heraus. Prickelnd heiß bannte sich eine Entscheidung durch ihre Hirnwindungen und breitete sich in ihrem Rückenmark aus. Hatte sie eine Wahl? Tendenziell schon, doch sie wusste, dass ihr Entschluss feststand. Sie würde alles für ihre Forschung und Ausstellung tun.
***
Stirnrunzelnd blickte Susan die rotbraune Fassade des Reihenhauses vor ihr an. Um ehrlich zu sein, hatte sie sich von einem Orden eine schaurige Villa oder Burg erwartet, doch dies war vergleichsweise schlicht, auch wenn es sich sehr von den anderen Gebäuden unterschied. Es war ein historisches Gebäude, mit großen Fenstern und floralen Ornamenten. Ein kleiner Balkon mit steinernen Balustraden krönte das Bauwerk. Enttäuscht war Susan trotzdem.
Sie steuerte die dunkle Eingangstür zu ihrer linken an, doch musste vorher innehalten. Ein Schild verwies auf die Maskenpflicht in diesem Haus und seufzend ging sie auf die Forderung ein. Unter der Maske erkannte man den angespannten Kiefer nicht, der auf ihre Abneigung hindeutete. Susan drückt die Tür auf und musste erschrocken feststellen, dass sie erstaunlich leicht war. Aber es war schon zu spät, die Tür flog mit viel Schwung auf und krachte gegen die Wand. Hitze schoss ihr ins Gesicht und sie schlich durch den langen Gang. Hoffentlich hatte sie niemand gehört.
Suchend blickte sie sich nach einem Hinweis um, wohin sie sollte. Dabei kam sie an einer angelehnten Tür vorbei, die sie vorsichtig aufstieß. Überrascht entdeckte sie eine Rezeption, hinter der eine junge Frau mit Dutt saß. Regungslos blieb Susan in der Tür stehen und spürte, wie die Hitze in ihrem Gesicht immer deutlicher wurde. Sollte sie umdrehen oder etwas sagen? Plötzlich schien die Maske noch dicker zu werden und kaum Sauerstoff durchzulassen. Bevor Susan hyperventilieren konnte, hob die Frau ihren Kopf. Lachfältchen bildeten sich um ihre Augen und deuteten auf ein freundliches Lächeln unter dem Mundschutz hin.
»Guten Tag, haben sie einen Termin?«
Unsicher trat Susan näher. »Ich schätze schon«, nuschelte sie und zog den Brief aus ihrer Umhängetasche. Die Rezeptionistin ließ sich nichts anmerken, als sie den Umschlag erblickte.
»Wie ist Ihr Name?«
»Susan«, antwortete sie etwas perplex, denn sie fühlte sich wie bei einem Arzttermin. Fehlte nur noch, dass sie ihre Gesundheitskarte vorlegen musste. Als die junge Frau sie noch immer erwartungsvoll anschaute, fügte Susan peinlich berührt hinzu: »Roberts. Susan Roberts.«
"Tatsächlich, Sie haben einen Termin. Nehmen Sie bitte im Wartezimmer direkt nebenan Platz." Die Rezeptionistin widmete sich wieder ihrem PC zu und Susan verschwand im angewiesenen Zimmer. Sie suchte sich einen Stuhl in der Ecke und wischte sich ihre schweißigen Hände an ihrer Jeans ab. Es war ihr so unangenehm, dass sie so verpeilt war. Immer wieder strich sie über ihre Beine und entfernte imaginäre Fusel, bis die Tür schwungvoll geöffnet wurde und sie heftig zusammenzuckte.
»Frau Roberts, wie schön, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind«, dröhnte die Stimme des hochgewachsenen Mannes durch den kleinen Raum. »Kommen Sie doch in mein Büro, dann können wir alles besprechen.«
Susan nickte eingeschüchtert und klopfte ein weiteres Mal ihre Hose ab. Sie folgte ihm den Gang hinunter und trat in eines der hinteren Zimmer ein.
»Setzen Sie sich doch.« Der Mann rückte einen Sessel zurecht, um dann um den Tisch herumzugehen und ebenfalls in einem Sessel Platz zu nehmen.
Nervös setze sich Susan auf die Kante des Polsters.
»Wie gesagt, es ist wunderbar, dass Sie gekommen sind. Sicher fragen Sie sich, warum wir Sie angeschrieben haben.«
Allerdings. Diese Frage begleitete sie von Anfang an, und ihr war dieser Verein noch immer suspekt. Sie rang sich ein Nicken ab und strich sich eine gelockte Strähne hinter ihr Ohr.
»Nun, das liegt auf der Hand. Wir sind für das alte Ägypten begeistert.« Er streckte seinen Arm aus und deutete auf das große Regal, das die ganze linke Wand des Büros einnahm. Erst jetzt fiel Susan die Einrichtung auf, davor war sie viel zu nervös. Das dunkel gehaltene und mit Akazien-Holz ausgekleidete Zimmer wirkte sehr erhaben.
Der tiefdunkle Mahagoni-Tisch dominierte die Mitte des Raumes. Der Sessel ihr gegenüber gab mit seinem roten
Polster den Eindruck eines Thrones. Das Regal war voller Bücher und wurde von Nachahmungen ägyptischer Artefakte geziert. Tonkrüge, bemalte Steinplatten und die Miniatur eines vergoldeten Sarkophags. Susans Interesse war sofort geweckt und brachte ihre braunen Augen zum Funkeln.
»Sie interessieren sich für Ägyptologie?«, fragte sie ihn begeistert und lehnte sich vor.
»Oh ja, vor allem für Schriftrollen und Gottheiten.« Er griff nach einer kleinen Figur mit Schakalkopf und menschlichem Körper.
»Anubis«, erwidert Susan wissend, »Wirklich faszinierend, oder?«
»In der Tat. Glauben Sie an Gottheiten, Frau Roberts?«
Sie schrumpfte unter seinem durchdringenden Blick, doch antwortete entschlossen: »Nein, ich bin Wissenschaftlerin.«
»Das eine schließt nicht das andere aus, müssen Sie wissen.«
Eine Gänsehaut legte sich auf ihre Haut und sie presste die Lippen zusammen. Nun war sie doch dankbar für diese lästige Maske.
»Wie auch immer, kommen wir zum Kern dieser Einladung.« Er zog eine Schublade hervor und legte, fein säuberlich in Schutzfolie gesichert, eine Schriftrolle vor ihr auf den Tisch.
Susans Augen weiteten sich. »Ist sie ein Original?«, flüsterte sie ehrfürchtig.
»Selbstverständlich. Und wir bitten Sie darum, diese Schriftprobe zu übersetzen.«
»Ich?« Fassungslos blickte sie zuerst auf den großen Mann und dann auf die mit ordentlichen Hieroglyphen beschriftete Papyrus-Rolle.
»Sie haben ein Talent dafür. Sie würden dafür angemessen honoriert. Nennen Sie mir eine Summe und wir zahlen es aus.«
Susan musste sich bemühen, dass ihr Mund nicht aufklappte. Das konnte er doch nicht ernst meinen. Außerdem, was für eine Summe sollte sie erbeten?
Er schien ihre Unentschlossenheit von ihrem Gesicht ablesen zu können: »Was halten Sie von 500.000 €?«
»Ja, klar«, hauchte sie ungläubig und lachte nervös. Das konnte nur ein Scherz sein. Sie beobachtete ihn und wartete, dass er in schallendes Gelächter ausbrechen würde, aber er bleib ernst.
»Gut, dann hätten wir das geklärt. Es gibt nur eine Bedingung: Sie müssen für die Zeit der Übersetzung hier residieren. Genügt Ihnen eine Woche?«
Schnell nickte sie, kaum in der Lage, die richtigen Worte zu finden. Die Worte sanken in ihr Bewusstsein wie schwere Steine, und ihre Kehle wurde trocken. Ihre Finger krampften sich in den Stoff ihres Pullovers.
»Wunderbar, Sie erhalten die Hälfte sofort und den Rest bei Abschluss.« Er holte einen Umschlag heraus, als hätte er von Anfang an mit diesem Betrag gerechnet, und überreichte es ihr.
»Ich möchte Sie nun bitten, Nelly zu folgen. Sie wird
Ihnen Ihr Zimmer zeigen.«
Die junge Rezeptionistin von vorhin war erschienen und hielt ihr die Tür auf. Noch immer überrumpelt, folgte sie der Frau um die Ecke des Flures, eine Treppe hoch und bis zur dunklen Holztür. »Was ist mit meinen Sachen?«, fragte Susan verwirrt, während die Assistentin die Tür aufschloss.
»Für alles ist gesorgt. Ihre Mahlzeiten werden auf ihr Zimmer gebracht, damit sie ungestört übersetzen können. Passende Kleidung hängt in dem großen Schrank und Kosmetikartikel finden Sie im Bad. Auch Schreibzeug gibt es alles, was sie brauchen.« »Oh, danke, Frau ...?«
»Nelly, einfach Nelly. Ich wünsche Ihnen einen erfolgreichen Aufenthalt.« Nelly überreichte ihr den Schlüssel und eine Ledermappe, um dann wieder zu verschwinden.
Susan trat in das große Zimmer, das in angenehmem Eichenholz mit dunklen Akzenten gehalten war. Ein Doppelbett mit beigefarbenem Bettbezug und ordentlich drapierten Kissen stand an der linken Wand. Ein großer Schreibtisch gleich gegenüber unter einem Fenster. Rechts lehnte ein Schrank an der Wand und energisch öffnete sie diesen. Tatsächlich fand sie darin Klamotten in ihren Maßen.
Sie stolperte zurück, riss zuerst die Maske von ihrem Gesicht und dann das Fenster auf. In langen Atemzügen sog sie die frische Luft in sich auf. Ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Hatte dieser Orden sie etwa beobachtet? Alles deutete darauf hin, und auch wenn es ihr nicht gefiel. Wenn die Aufgabe geschafft war, hatte sie sicher einen großen Teil ihrer Schulden abgedeckt. Deshalb ignorierte sie auch geflissentlich, dass der Mann ihr nicht seinen Namen verraten hatte.
Susan öffnete die Ledermappe und fand darin die Schriftrolle. Tief bewegt strich sie über die Folie, die den
Papyrus vor Beschädigung bewahrte. Sie war es wert, die Woche hier zu bleiben. Ganz abgesehen vom Geld, das sie dringend benötigte.
Also setzte sich Susan voller Tatendrang ans Werk, studierte den ganzen Tag bis tief in die Nacht die akkuraten Symbole. So zogen sich die Tage dahin, nur die regelmäßigen Mahlzeiten und der kurze Schlaf unterbrachen ihre Arbeit.
Eines Morgens erwachte sie völlig verschlafen durch das Klimpern des Geschirrs. Nelly richtete ihr Frühstück an und blickte dann lächelnd auf. Beziehungsweise lächelten ihre Augen, denn sie trug noch immer die Maske.
»Guten Morgen, Frau Roberts. Wie macht sich die Übersetzung?«
»Morgen, Nelly. Ganz gut, mir fehlt nicht mehr viel.«
»Sehr schön, dann sollten Sie in zwei Tagen fertig sein, oder?«
»Ich schätze schon.« Susan schälte sich aus der Decke.
»Gut, dann wünsche ich guten Appetit.« Schon hatte die junge Frau das Zimmer verlassen.
Seufzend schlurfte Susan ins Bad. Vom Lockdown war sie weniger sozialen Kontakt gewohnt, doch sie wünschte sich, dass wenigstens eine oberflächliche Beziehung zwischen ihnen herrschen könnte. Immerhin brachte Nelly ihr seit fünf Tagen dreimal täglich Mahlzeiten. Leider blieb die junge Frau immer auf Distanz und war schneller weg, als dass sie ein richtiges Gespräch hätten führen können.
Resigniert putze sich Susan die Zähne. Vielleicht war es besser so. In zwei Tagen hatte sie es hinter sich und würde diesen Orden nie wieder sehen. Sie blickte auf den Spiegel und erkannte sich selbst fast nicht mehr. Ihre Lockenmähne war nicht mehr zu bändigen und dunkle Augenringe zeichneten sich unter ihren Augen ab.
Wenn sie mit der Übersetzung fertig war, würde sie sich erst mal ein ordentliches Bad und viel Schlaf gönnen. Doch für jetzt nahm die Schriftrolle ihre ganze Aufmerksamkeit in Beschlag. Je länger sie sich mit dieser beschäftigte, umso deutlicher wurde, wie wertvoll sie war.
Es schien sich um eine Prophezeiung zu handeln, die sehr viel Aufschluss über den Glauben der alten Ägypter geben könnte. Vielleicht sollte sie die Rolle einfach für sich behalten. Sie traute dem Orden sowieso nicht. Wer wusste schon, von wo sie das Papyrus hatten. Das Zimmer könnte sie theoretisch immer verlassen. Susan schüttelte den Kopf. So ein Hirngespinst konnte nur von ihrer Übermüdung kommen. Nachdem sie sich kaltes Wasser ins Gesicht gespritzt hatte, machte sie sich weiter an die Arbeit.
Stunden später war sie endlich fertig und blickte voller Stolz auf ihr Werk. Zufrieden lehnte sie sich zurück und hob den Papyrus in das goldene Licht der untergehenden Sonne. Um den Moment dramatisch zu machen, las sie sich die komplette Übersetzung vor.
»Tief unter den Pfaden der Sterne, jenseits des stummen Sandes, liegt das Wort, das war, bevor die Zeit begann. Wer es hört, wird das Sehen der Weisen erlangen, das durch Dunkel und Licht dringt, wo Schatten und Wahrheit eins sind.
Einst war das Wort verborgen in den Hallen der Schatten, jenseits der sichtbaren Welt. Doch nun, in deiner Seele, wird es zur Flamme und Licht. Du wirst sehen und doch nicht erkennen, du wirst wissen und doch nicht verstehen.
Wandle weise, Sterblicher, denn Erkenntnis ist dein Begleiter und dein Schatten; wo du gehst, geht sie mit dir. Was dein Geist nun weiß, mag dein Herz verschließen, und was du suchst, wird dich stets suchen. Die Wahrheit liegt in dir wie eine verborgene Saat, bereit, eines Tages zur Ewigkeit zu erwachen.«
Susan blinzelte mehrmals. Ihre Gedanken schienen für einen Moment stillzustehen. Doch plötzlich überrollte sie eine Sturzflut von Symbolen, Zahlen, Namen aus vergessenen Zeiten und das Gefühl von unendlichem Raum, das sich explosionsartig ausbreitete. Tausende Szenen stürmten im Sekundentakt auf sie ein: Die Geburt eines Kindes, das Erbauen einer Pyramide, die Krönung einer Frau und so viel mehr.
Was war geschehen? Ihre Gedanken überschlugen sich. Susan hatte das Gefühl, als würde sich in ihrem Geist mit jedem Atemzug ein Schatten einnisten. Die Worte der Schriftrolle hallten in ihrem Kopf wider, wuchsen und entblätterten sich wie düstere Blüten. Sie kroch hastig von dem Stuhl weg, ihre Hände zitterten, während sie erfolglos versuchte, diese Informationen zu ordnen.
»Was habe ich getan?«, murmelte sie, den Blick immer wieder auf die Schriftrolle gerichtet, die wie ein unheilvolles Relikt auf dem Tisch lag.
»Wissen ist Macht, und Macht ist Zerfall!«, raunte eine Stimme. Sie konnte nicht erkennen, ob es die Rolle war, die sprach, oder ob es ihre eigene Angst war, die zum Leben erwachte.
»Die Pyramiden sind nicht nur Grabstätten, sondern Portale zu anderen Dimensionen. Wer die Wahrheit kennt, kann die Grenzen zwischen den Welten überschreiten!« Ihre Hände zitterten, als sie versuchte, diese neuen Informationen zu erfassen. Die Bilder, die in ihrem Kopf auftauchten, waren chaotisch und explodierten in ihren Gedanken.
»Die Zeit ist eine Illusion, eine Welle, die über sich selbst bricht! Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nichts weiter als Facetten des unendlichen Wissens!«
Susan presste die Handflächen gegen ihre Schläfen, als ihr Verstand zu implodieren drohte. »Halt!«, schrie sie in die Stille, doch die Stimmen verstummten nicht. Stattdessen verstärkten sie sich, jede Information überlappte die andere und stürzte auf sie ein.
»Du bist Teil des kosmischen Spiels! Die Welt ist ein Theater, du bist die Hauptdarstellerin, die nie die Rolle ablegen kann!«
Sie fühlte sich, als würde sie in einen Abgrund stürzen, der aus fragmentierten Gedanken und wirren Bildern bestand. Ägyptische Götter tanzten vor ihrem inneren Auge und schlossen sich zu einem Kaleidoskop aus Licht und Dunkelheit.
»Die Wahrheit ist ein Schatten, der immer vor dir herläuft! Finde das Wort, das die Welt erschuf, und du wirst verstehen, was das Universum ist!«
»Ich kann nicht!«, keuchte Susan, als sie sich bemühte, den Faden eines sinnvollen Gedankens zu finden. »Es ist zu viel! Ich kann das nicht alles tragen!«
Die Stimmen verwandelten sich in ein Crescendo aus wirren Informationen, Susan wurde von einer schrecklichen Klarheit überwältigt: Sie sah das ganze Spektrum des Wissens vor sich, als würde ein Vorhang fallen, der die wahre Natur der Realität enthüllte – eine chaotische Ansammlung von Möglichkeiten, Enden und Anfängen.
Sie erlebte die Entstehung und den Untergang von Zivilisationen, die Kämpfe der Menschen gegen das Unbekannte, die Kämpfe gegen sich selbst. Die Zeit schien stillzustehen, während sie die Geheimnisse des Universums durchlebte. Doch trotzdem konnte sie nichts wirklich greifen.
»Was ist wahr, wenn alles gleichzeitig wahr ist?«, flüsterte eine Stimme und das Echo hallte in ihr wider. »Was, wenn du nicht einmal du selbst bist?«
Susan fühlte sich, als würde sie in einem Strudel aus Information versinken, der ihre Sinne raubte und sie in den Abgrund zog. Es war zu viel – zu viel Wissen, zu viele Möglichkeiten, und jeder Gedanke war wie ein weiterer Schatten, der sich über ihr ausbreitete.
In diesem Moment wünschte sie sich, nie die Schriftrolle berührt zu haben, die sie in diese verwirrende und düstere Realität geworfen hatte. »Ich kann nicht mehr«, flüsterte sie, während die Stimmen um sie herum weiter wirbelten und wie ein Vorschlaghammer auf ihren Verstand einschlugen.
Hektisch begann sie die Schubladen zu durchwühlen, suchte nach etwas, was ihr Befreiung bringen konnte. Ein Feuerzeug fiel in ihre Hand und ohne zu zögern, riss sie den Papyrus aus der Folie und hielt die heiße Flamme darunter. Die Schriftrolle begann lichterloh zu brennen, doch das Feuer verzehrte sie nicht. Stattdessen lag sie nun wie eine grausame Erkenntnis vor ihr und schien sie zu verspotten.
»Nein, das kann nicht wahr sein.« Susan vergrub ihr Gesicht in ihren Händen. Ein immer größeres Gewicht drückte sich auf ihre Schläfen und sie hatte das Gefühl, ihr Kopf könnte jederzeit zerbersten. Um Ablenkung zu finden, warf sie jedes Buch, das sie fand, zu Boden, blätterte alle durch. Doch bevor sie nur ein Wort las, wusste sie den ganzen Inhalt. Die Frustration kroch wie eine Made durch ihren Verstand, immer tiefer. Es war eine Qual, alles zu wissen. Es gab nichts Neues, nichts zu lernen. Zudem lauerte im hinteren Teil ihres Geistes etwas Finsteres, das auf einen unaufmerksamen Moment wartete. Schlafen war keine Option, doch wenn Susan nichts fand, worauf sie sich fokussieren könnte, würde sie implodieren, dessen war sie sich sicher.
Plötzlich hielt sie ein altes, ledernes Buch in den Händen. Die Bibel. Und obwohl sie den ganzen Inhalt innerhalb von Millisekunden erfasste, den Glauben und all seine Facetten kannte, blieben Mysterien offen. Es faszinierte sie. Auch wenn sie über die unlogischen Geschichten dieses Buches den Kopf schütteln musste – ein Gott, der mit Wörtern die Erde schuf, drei Personen gleichzeitig war und seinen Sohn opferte – fand sie Gefallen daran, dass die ganze Welt im Unklaren stand, was die Geschichten wirklich bedeuten und wer oder was dieser angebliche Gott in ganzer Fülle war. Sich damit auseinandersetzen, war ihr lieber, als in der Flut des Wissens zu ertrinken. So verbrachte sie die ganze Nacht damit, die Bibel mit anderen Religionen zu vergleichen.
Am nächsten Morgen trat Nelly wie immer mit ihrem Frühstück ein. Wortlos stellte sie das Tablett auf den Tisch und holte Susan wieder in die schmerzliche Realität.
Als sie das Buttermesser sah, schlichen sich grausame Möglichkeiten in ihren Kopf. Das Düstere griff mit seinen langen Fingern nach ihrem Verstand, vernebelte ihre Wahrnehmungen. Sie nahm das Messer in ihre geballte Faust.
»Alles in Ordnung bei Ihnen?« Susan schreckte auf.
Nein, wie konnte sie so etwas zu lassen!
Sie drehte sich zu der jungen Frau. »Ich bin fertig. Können wir es hinter uns bringen?« Sie wollte dieses verdammte Schriftstück loswerden.
Nelly riss die Augen auf. »Natürlich, ich spreche es schnell mit meinem Vorgesetzten ab. Ich bin gleich wieder da.«
Die junge Frau eilte aus dem Zimmer. Erschöpft seufzte Susan und schloss ihre Lider. Der Druck in ihrem Hirn war
mittlerweile unerträglich. Es war, als würde das ganze Gewicht des Planeten auf ihr lasten.
Sie blickte auf den Grund alles Übels. Der Papyrus hatte nicht mal eine verkohlte Stelle. Schnell packte sie ihn wieder in die Schutzfolie und legte die Übersetzung ordentlich darüber.
Daraufhin erschien Nelly. »In einer halben Stunde sind wir so weit«, erklärte sie enthusiastisch. Sie drückte Susan ein Bündel mit Klamotten in die Hand. "Bitte ziehe das an und packe beide Schriften in die Ledermappe. Ich hole dich gleich ab."
Susan folgte der Anweisung und hatte nicht mal genug Kraft, sich über die Kutte zu wundern, die sie tragen sollte. Wie Nelly sie ebenfalls mit diesem Gewand abholte und in ein Kellergewölbe brachte, zog an ihr vorbei wie ein unscharfer Film. Sie war am Ende. Ihr Bewusstsein begann sich in kleine Partikel aufzulösen und von der Überzahl an Information einnehmen.
Emotionslos übergab sie die Mappe dem Führer, dessen Kutte sich von allen anderen abhob, doch Susan konnte nicht mehr festmachen, worin der Unterschied lag. Mit hängendem Kopf ließ sie seine Worte an sich vorbeiziehen. In dem Moment, als er still wurde, spürte sie plötzlich eine unglaubliche Leichtigkeit. Das Wissen verflüchtigte sich, der Schatten lockerte seinen Griff zunehmend. Ihr Schädel dröhnte noch immer, aber vor Erleichterung rannen Tränen über ihr Gesicht, das von der Kapuze bedeckt war. Jemand drückte ihr einen Umschlag in die Hand und führte sie hinaus. Sie war mehr als kraftlos und schleppte sich in ihre Wohnung. In dem Moment, als sie die Laken berührte, fiel sie in einen komatösen Schlaf.
Als sie aufwachte, musste sie feststellen, dass es bereits später Nachmittag war. Verschlafen schaltete sie den Fernseher an. Geblendet von der Helligkeit, blinzelte sie und schaute auf den Bildschirm. Die Nachrichten liefen und zu ihrer Überraschung war der Orden in der Live-Übertragung zu sehen. Der Führer redete in die Kamera und besonders auffällig war die goldene Kette mit großen Anhängern.
»Wir haben einen Weg zur Heilung des Virus gefunden! Mit der Macht unendlichen Wissens der alten Ägypter können wir die Welt wieder befreien! Schließt euch uns an, dann ist euch die Heilung sicher!«
Plötzlich brach er ab und pure Panik war in seinen Augen zu sehen, als eine Nahaufnahme gezeigt wurde. Er setzte zum Sprechen an, doch es kamen nur zusammenhangslose Laute aus seinem Mund. Seine Pupillen weiteten sich und er stolperte völlig zitternd zurück, um dann zusammenzubrechen. Susan zog ihre Decke fester um sich, denn ihr war bewusst, dass es einen Zusammenhang mit der Schriftrolle geben musste.
Auf einmal überfluteten Eilmeldungen den Bildschirm. »Alle Schriften aus sämtlichen Büchern und Dokumenten verschwunden! Leere Seiten in Bibliotheken und Archiven weltweit!«
Sie fühlte sich von Eiswasser übergossen und sprang voller Verzweiflung aus dem Bett. Das konnte, nein, durfte nicht wahr sein. Sie griff das erstbeste Buch, das ihr in die Hände fiel, und schlug es auf. Entsetzt blätterte sie alles durch, warf es zu Boden und schnappte sich ein weiteres Buch. Doch überall schrie sie dieselbe Leere an.
Ihr Körper reagierte schneller als ihr Verstand, der noch immer etwas vernebelt war. Ehe sie sich versah, eilte sie im Laufschritt zum Gebäude des Ordens. Sie machte sich nicht mal die Mühe, ihre Maske zu tragen, und stürzte durch die Tür. Es herrschte gespenstische Stille und natürlich saß Nelly nicht an der Rezeption.
Schwer atmend versuchte Susan, den Weg ins Kellergewölbe aus ihrem Gedächtnis hervorzurufen. Mit klopfendem Herzen schlich sie durch die Gänge, bis sie endlich die Treppe, versteckt in einem angeblichen Abstellraum, hinab fand. Aufgebrachte Gespräche hallten durch das steinerne Gewölbe. Die kühle Luft des Kellers verbreitete eine Gänsehaut auf ihrer Haut. Es gelang ihr, unbemerkt unter den vielen Personen mit dunkelbraunen Kutten zu bleiben.
Dennoch spürte sie den Puls an ihren Schläfen.
Trotzdem schritt sie mutig an das Rednerpult aus dunklem Mahagoni, dessen Ausführung pompös und erniedrigend wirkte. In ihrer Erinnerung existierte er nicht. Glücklicherweise entdeckte sie dort die Schriftrolle. Sie streckte ihre Hand aus, als ein Schreien durch die Halle gellte: »Was soll das?« Panisch griff sie nach dem rohen Papyrus, umklammerte ihn und sprintete los.
Kuttenträger warfen sich ihr in den Weg, verfolgten sie, aber sie wich wie ein verängstigter Hase aus. Getrieben von reinem Überlebenswillen bahnte sie sich ihren Weg.
Plötzlich donnerte ein Schuss und explosiv breitete sich Schmerz in ihrem Arm aus. Doch das pulsierende Adrenalin gab ihr ungeahnte Kräfte und ließ sie weiterlaufen.
Wenn es einen Gott gibt, dann lass mich hier lebend herauskommen, dachte sie bei sich, legte aber keine große Hoffnung darauf. Sie spürte, wie das warme Blut ihre Haut hinab rann. Susan wusste nicht, wie lange sie gelaufen war, bis sie feststellte, dass sie bereits außerhalb der Stadt war. Die Dunkelheit hatte sich schon über sie gelegt und in der Ferne waren die Lichter der Skyline zu sehen. Japsend stand sie unter einer einsamen Laterne und blickte auf die Schriftrolle. Dunkle Blutstropfen befleckten den Papyrus. Ihr Blut. Sie erstarrte, nicht in der Lage, sich zu rühren. Es war alles viel zu viel.
Dann entdeckte sie eine Reihe von Hieroglyphen, die vorher nicht da waren. Seltsamerweise konnte sie es ohne Probleme entziffern, als wollte die Schriftrolle, dass sie es verstand.
»Um die Schatten zu vertreiben und die Bürde der Welt zu lösen, braucht es das Herz, dessen Blut das Wort tränkt und in ewigen Schatten bindet.«
Jedes Härchen auf ihrer Haut stellte sich auf. Zitternd blickte sie auf die unheilvollen Worte. Ihr Blut war auf dem alten Papier. Musste sie sich opfern? Für die Welt? Susan keuchte. Warum musste alles so eskalieren? Warum musste es sie treffen?
Am gesamten Körper bebend starrte sie auf die Worte vor sich. Für die Bürde der Welt opfern, also. Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln. So würde es nun für sie enden.
Doch plötzlich kam ihr die Erleuchtung. Ihre Augen weiteten sich. Das Opfer war bereits erbracht. Er war schon für die Bürde gestorben. Er besiegte den Schatten, der nun versuchte, Susan niederzuringen.
»Sieh es ein«, flüsterte sie, »das reine Blut hat schon längst alle befreit. Das ist die Wahrheit und das einzige Wissen, das ich brauche.« Sie fühlte sich wieder klar, der Druck war von ihrem Kopf genommen und die Last von ihrem Herzen.
Die Schrift verschwamm vor ihren Augen und das nicht wegen ihrer Tränen. Langsam löste sich der Papyrus in kleine Pigmente auf und wurde vom Wind hinauf in die Sterne getragen. Da, wo er hingehörte.
Versonnen blickte Susan in den Sternenhimmel. Ja, der Schatten war Teil der Erde. Doch nur wo Licht war, gab es Schatten. Und das Licht vertrieb alle Dunkelheit.
Von: Clacie1
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top