Ein Stern für den Kaiser (@Ideenzauber)
Je länger Lamira das Bild des Hofnarren betrachtete, desto sicherer war sie sich, dass sich hinter seinem Lächeln ein Geheimnis verbarg.
Gedankenverloren blätterte die junge Frau durch ihr Buch. Hinter den Fensterscheiben neigte sich die Sonne bereits zum Horizont. Je tiefer sie sank, desto schwerer wurden auch ihre Augenlider. Lamira stützte den Kopf in die Hände. Sie versuchte sich auf die Worte ihres Lehrers an der Tafel zu konzentrieren, doch seine Stimme schien immer leiser zu werden. Stattdessen meinte sie, den Klang eines Glöckchens wahrzunehmen. Er wurde immer lauter und präsenter. Der Ton lud sie ein, in eine andere Zeit einzutauchen ...
Das Glöckchen an seinem linken Schuh klingelte, als der Hofnarr über den langen Teppich hüpfte.
„Wie gut, dass keiner sieht, wie der Narr durch die Gänge flieht!"
Kuntz kicherte leise. Er hatte soeben Holzspäne in den Türrahmen der Bibliothek gesteckt, wo der kaiserliche Berater drin war und seine Schriften sortierte. Nun versteckte er sich draußen und wartete.
Es dauerte keine zwei Minuten, bis Schritte im Raum erklangen. Er rieb sich vorfreudig die Hände. Der Türknauf knackte. Doch die Tür ging nicht auf – immerhin hatte er sie blockiert – und jemand knallte im Laufschritt gegen das Holz.
Kuntz hörte Bücher zu Boden fallen und sein Streicheopfer gedämpft fluchen.
Er hüpfte zur Bibliothek und fing an zu spotten. „Solche unangebrachten Worte hätte ich von einem kaiserlichen
Berater nicht erwartet."
„Kuntz!"
„Ja, Dietrich?", fragte er mit unschuldigem Ton.
Ein gedämpftes Schnauben erklang. „Herr Dietrich für dich, du Narr. Zeige etwas Respekt!"
Auch wenn der Berater es nicht sehen konnte, vollführte Kuntz eine spöttische Verbeugung. „Herr Dietrich. Du legst zu viel Wert auf deinen hohen Stand."
„Und du scheinst den Verstand verloren zu haben!"
Der Berater rüttelte an der Tür und die Holzspäne stoben in alle Richtungen davon. Erschrocken zog Kuntz den Kopf ein. Nur Sekunden später flog die Tür knallend auf und Herr Dietrich stand mit erhobenem Haupt vor ihm. Er blickte abschätzend auf ihn hinab.
Es war nicht schwer für die Leute, auf ihn herabzuschauen – nicht nur, weil er der Narr war. Kuntz war mit seinem einen Meter Körpergröße einfach jedem am Hof unterlegen.
„Man hätte dich in eine Torenkisten sperren sollen, wie die anderen Deinesgleichens." Herr Dietrich rümpfte die Nase.
Kuntz versuchte, sein schabernäckiges Grinsen aufrechtzuerhalten. Leider war er solche Äußerungen gewohnt. Das mittelalterliche Ständesystem hatte keinen Platz für körperlich Behinderte wie ihn – mit seiner Kleinwüchsigkeit hatte er noch Glück im Unglück gehabt. Seine Eltern hatten ihn bereits als Kind rausgeworfen, weil sie ihn als nicht lebensfähig bezeichnet hatten. Er war mit anderen wie ihn im Narrenhaus aufgewachsen, stets ausgegrenzt und schlecht behandelt. Alles hatte sich geändert, als der Kaiser ihn von der Straße geholt hatte. Er sollte den Narren an dessen Hof spielen.
Für Kuntz war das wie ein Geschenk von Gott persönlich gewesen. Mit seiner skurrilen Art, Scherze zu machen und Streiche zu spielen, war er hier willkommen. Er kostete seine neu gewonnene Narrenfreiheit schamlos aus und die Leute amüsierten sich. Früher hatte er gedacht, der Adel am Hofe würde ein aufregendes Leben führen – doch als er zum ersten Mal durch die Mauern gehüpft war, hatte ihn die alltägliche Langeweile, Eintönigkeit und Melancholie fast erdrückt.
Nun wurde niemandem mehr langweilig. Kuntz tanzte auf den Tischen, spielte Musik und unterhielt den Adel mit seinen Scherzen. Während die meisten über ihn lachten, verstand Herr Dietrich keinen Humor – was ihn zu Kuntz liebstem Streicheopfer machte.
Der Narr wackelte mit dem Kopf und seine Narrenkappe klimperte. „Sei vorsichtig mit deinen Worten. Wenn der Kaiser hören würde, was du zu mir sagst, wäre er nicht glücklich. Ich stehe unter seinem Schutz."
„Du unterliegst seiner herrschaftlichen Willkür – wie alle. Irgendwann wirst du es zu weit treiben und dann siehst du, was du davon hast."
„Vielleicht." Kuntz zuckte mit den Schultern. „Aber was kümmert mich das morgen, wenn ich heute glücklich bin?"
Herr Dietrich stieß ein Seufzen aus, dann umgriff er seine Bücher und Schriften fester. „Aus dem Weg, Narr. Ich muss meinen Aufgaben als kaiserlicher Berater nachgehen."
„Oh, ich kann helfen. Immerhin bin ich auch ein Berater des Kaisers!"
Er versuchte, mit seinen kurzen Beinen Schritt zu halten, während er Herrn Dietrich mit dessen wehender Robe hinterhereilte.
„Wie kommst du auf den absurden Gedanken?"
„Nun ja, du sagst ihm als Berater genau das, was er hören will. Und ich sage ihm die Wahrheit."
Herr Dietrich blieb so plötzlich stehen, dass Kuntz in ihn hineinrannte. Er rümpfte die Nase und wich zurück, weil er daran erinnert wurde, warum seine Körpergröße manchmal unpraktisch war.
Der Berater hatte die Zähne zusammengebissen. „Mag sein, dass du als Einziger in diesen Mauern die Wahrheit sagen kannst, ohne den Zorn des Kaisers auf dich zu ziehen. Aber denk an meinen Rat: Treib es nicht zu weit, Narr."
Damit ging er und Kuntz blieb allein zurück. Diese Worte machten ihm keine Angst. Er zuckte mit den Schultern und begann, durch den Flur zu streifen. Ihm war langweilig. In den Burgmauern gab es keine Unterhaltung, wenn man selbst die einzige Unterhaltung war.
„Der Kaiser hat zu mir gesagt, dass er meinen Rat wertschätzt. Es ist egal, was Herr Dietrich sagt, Hauptsache, ich habe hier ein gutes Leben."
Und das hatte er. Wenn er an die alten Zeiten auf den Straßen dachte, wo er neben den Ratten geschlafen hatte und auf dem Markt mit Tomaten beworfen wurde, ging es ihm hier gut. Kuntz zog seine Narrenjacke zurecht – sie war etwas eng, oder er wurde langsam etwas dicker – als sein Blick auf die noch offene Tür der Bibliothek fiel. „Na, sieh einer an."
Er war noch nie dort drinnen gewesen. Herr Dietrich verschloss den Raum immer. Außerdem hatte es ihn bisher wenig interessiert, weil er nicht lesen konnte.
Neugierig streckte Kuntz seinen Kopf durch die Tür. Im Inneren stapelten sich Bücher und Schriften in den Regalen. Es sah langweilig aus. Und es war es dunkel. Die einzige Lichtquelle war eine Kerze, die Herr Dietrich unbedacht zurückgelassen hatte.
Kopfschüttelnd beschloss Kuntz, sie auszupusten. Er war für jeden Scherz zu haben, um den kaiserlichen Berater zu ärgern, aber er würde nicht zulassen, dass dessen Bibliothek abbrannte.
Er betrat den Raum. Doch bevor er die Kerze erreichte, fiel sein Blick auf etwas Kleines in der Ecke. Es lag unter dem Tisch, ganz hinten an der Wand, verhüllt von Spinnenweben. Wahrscheinlich hatte es seit Jahrzehnten niemand gesehen oder bewegt. Kuntz wunderte das nicht. So groß, wie der Adel war, schaute er über alles hinweg, was unter ihnen lag.
Auf unerklärliche Weise zog das Etwas seine Aufmerksamkeit magnetisch an.
„Nur ein kurzer Blick ...", gab er der Neugier nach.
Er kroch unter den Tisch und griff nach dem geheimnisvollen Gegenstand. Es war eine schlichte Lederhülle. Kuntz klopfte den Staub ab. Etwas an der Art, wie seine Fingerspitzen kribbelten, ließ ihn ganz ernst werden. Vorsichtig öffnete er die Lederrolle und zog ein raues Papier heraus. So ein Material hatte er noch nie gesehen – Herr Dietrich hatte es nicht geschrieben, so viel stand fest. Vielleicht der Berater vorher? Ein früherer König oder Kaiser?
„Hui, aufregend!" Er kroch unter dem Tisch hervor und betrachtete das seltsame Papier im Kerzenschein.
Er konnte es lesen.
„Oh!"
Die Schrift war nicht in Worten. Sie war in Bildern. Winzige kleine Bilder, Reihe um Reihe, leicht verblasst und doch gut erkennbar.
Aber auch wenn er sie lesen konnte, konnte er sie nicht verstehen.
„Vogel, anderer Vogel, Kringel, Strich? Was soll sein?", murmelte er enttäuscht. Die Schriftzeichen sahen aus, als hätte ein Gelehrter sie absichtlich gemalt, jedoch ohne Sinn. Oder es gab einen Sinn, aber Kuntz konnte ihn nicht erkennen.
Unzufrieden warf er die Schriftrolle zurück in die Ecke. Der Aufprall sorgte dafür, dass sie weiter aufrollte und ein anderer Zettel sichtbar wurde, der anscheinend dort drin gesteckt hatte. Kuntz legte den Kopf schief. Aber die Neugier siegte erneut und er hob ihn auf.
Es war ein neues Bild – dieses Mal eines, das er verstand. Auf dem Papier hatte jemand den Himmel gezeichnet. Die Punkte stellten vermutlich Sterne dar. Ein Stern war besonders groß und hell.
War das die Übersetzung für die komische Bildersprache?
Er war so vertieft, dass er die Schritte zu spät wahrnahm.
„Was tust du Narr in meiner Bibliothek?!"
Kuntz zuckte so heftig zusammen, dass die Glöckchen an seinem Kostüm klirrten.
„Herr Dietrich, ich ..."
Doch der Berater ließ ihn nicht aussprechen. Er packte den Narren an seiner bunten Jacke und schleifte ihn aus der Kammer. Kuntz gelang es gerade so, die Schriftrolle aufzuheben. Er hielt beide Zettel fest. Kurzerhand steckte er die Übersetzung unter seine Narrenjacke. Aber bevor er das Original ebenfalls verstecken konnte, riss sein Gegenüber es ihm aus der Hand.
Er brachte ihn direkt zum Kaiser.
Kaiser Heinrich III war ein gerechter Herrscher. Er mochte seinen Narren. Aber wie Herr Dietrich gesagt hatte: Jeder unterlag seiner Willkür. Kuntz wusste, dass er in Ungnade fallen würde, wenn der Berater die Situation aus seiner Sicht schildern würde.
Er musste ihm zuvorkommen. Am besten mit einer guten Geschichte.
„Mein Kaiser ...", begann Herr Dietrich sofort und ballte die Hand um die Schriftrolle.
„Oh, mein allerdurchlauchtigster und großmächtigster Herr!", fiel Kuntz dazwischen und warf sich zu Boden. Er küsste die Schuhe des Erhabenen, was dessen volle Aufmerksamkeit auf sich zog. „Ich habe ein Geschenk für
Euch!"
„Er hat sich in meiner Bibliothek herumgetrieben", sagte der Berater trocken und verschränkte die Arme. „Ich schlage vor, dass Ihr seinen Scherzen endlich Einhalt gebietet."
Kuntz setzte sein klassisches Narrengesicht auf – ein Grinsen, das zeigte, dass er das Leben mit Späßen verbrachte. So nahm ihn keiner ernst. „Und ich schlage vor, dass Ihr mich erst ausreden lasst, damit Ihr erfahrt, was ich für Euch habe."
Kaiser Heinrich III erhob sich und bedeutete Kuntz, ebenfalls aufzustehen. Auch wenn er nicht lächelte, waren seine Augen weich, fast liebevoll.
„Sprich", forderte er Kuntz auf.
Kuntz deutete auf die Schriftrolle aus dem seltsamen Papier, die er in der Ecke gefunden hatte, und die Herr
Dietrich festhielt. „Das ist eine Botschaft von Gott höchstpersönlich!", begann er zu berichten. Mit der richtigen Geschichte entkam er jeder Situation. „Ich habe sie vom ehrwürdigen Vater für Euch empfangen. Der Text ... sagt die Zukunft voraus! Er zeigt Euch, wie Ihr Euren Einfluss über die Grenzen von Bayern und Schwaben hinaus erweitern und festigen könnt."
Kaiser Heinrich III zog interessiert die Augenbrauen hoch. Dann nickte er seinem Berater zu.
Herr Dietrich trat widerwillig vor. Er rollte das Dokument auf und strich mit den Fingern über das raue Papier. Zum ersten Mal schien er es eingehender zu betrachten.
„Das ist Papyrus", erkannte er stirnrunzelnd.
„Genau", bestätigte Kuntz stolz, obwohl er keine Ahnung hatte, was dieses Wort bedeutete.
Herr Dietrich betrachtete die alte Bilderschrift. „Das sind Hieroglyphen", teilte der Gelehrte dem Kaiser mit.
„Aber ich kann sie nicht lesen."
Stille.
Kuntz erkannte seine Chance.
„Aber ich kann es", sagte er. Er dachte an das seltsame Bild, das noch immer unter seiner Jacke steckte.
„Tatsächlich? Dann sag mir, was steht da?", wollte Kaiser Heinrich III wissen.
Kuntz sprang auf den nächstbesten Tisch, um durch die neu gewonnene Größe mehr Selbstvertrauen zu bekommen. Er stemmt die Hände in die Seiten. „Das sage ich Euch nur, wenn Eurer Berater sich bei mir entschuldigt." Kaiser Heinrich III faltete die Arme hinter dem Rücken. Herr Dietrich verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als würde er lieber eine Ratte küssen, als sich zu entschuldigen. Der Hofnarr Kuntz grinste siegessicher.
„Und ich möchte, dass er vor allen anderen Adligen verkündet, dass ich der beste Berater im ganzen Hof bin." „Sicher nicht", widersprach Herr Dietrich. „Du weißt doch eh nicht, was dort steht."
„Natürlich! Ich übersetze es bis heute Abend und zeige dir meine Fähigkeiten. Wenn du siehst, was ich kann, musst du dich entschuldigen."
Herr Dietrich verdrehte die Augen. „Meinetwegen, Narr."
„Ha!" Kuntz tanzte eine Runde auf dem Tisch, weil er wusste, dass er soeben gegen den Berater gewonnen hatte. Er würde die Übersetzung zu seinem Vorteil nutzen und endlich den Respekt bekommen, der ihm nie zugestanden hatte. Vielleicht erkannte auch Kaiser Heinrich III, wie viel in ihm steckte, und würde ihm eine bessere Kammer in der Burg geben – näher bei sich. Und damit näher an der Küche. Dann könnte er nachts heimlich die übrig geblieben Fleischkeulen essen.
Er sah sein neues Leben schon vor seinen inneren Augen leuchten.
Tollpatschig, wie er war, vergaß er bei seinem Siegestanz, dass er noch immer auf dem Tisch stand, und fiel beim nächsten Sprung hinunter.
Kuntz rappelte sich auf und grinste. „Mir geht's gut."
Kaiser Heinrich III wirkte amüsiert. Dafür war Kuntz immerhin da: um ihn zu amüsieren. Selbst wenn er kompletten Blödsinn erzählen würde – solange der Herrscher gute Laune hatte, war alles gut.
Wenn nicht ... Dann gnade ihm Gott.
In seiner Kammer angekommen, warf sich Kuntz auf sein Bett. Normalerweise spielte er den ganzen Tag seine Narrenrolle, aber Kaiser Heinrich III hatte ihn fort gewinkt und ihm damit einige Stunden ohne Verpflichtungen geschenkt. Das war keine Seltenheit. Normalerweise nutzte er die Zeit, um sich neue Streiche auszudenken. Doch heute musste er so tun, als würde er die Schriftrolle übersetzen.
Kuntz zog das Papier aus seiner Jacke. Es war leicht zerknittert, aber das Bild war eindeutig zu erkennen. Der Himmel und die Sterne. Ein Stern, der ganz groß war.
Glücklich drückte er den Schatz an sich und streckte die
Beine in die Höhe. „Das ist mein Eintritt in ein besseres Leben! Herr Dietrich wird mich endlich respektieren müssen, weil ich diese Sprache übersetzen kann und er nicht. Ha, ha, haa!", freute er sich. „Oh Kuntz, verzeih mir meine Unfreundlichkeit. Ich habe nie gesehen, was für ein närrisches Genie du bist", imitierte er dessen Stimme. „Du bist ein ehrenwerter Mitbürger und ein guter Berater des Kaisers."
Er setzte sich auf und faltete die Hände vor der Brust. Kuntz fühlte sich mit Gott verbunden, auch wenn er nicht in der Kirche war. Früher hatte er nie dorthin gehen können, weil er wegen seiner Kleinwüchsigkeit ausgelacht wurde. Selbst im Gotteshaus, wo Leute um Vergebung ihrer Sünden baten, hatten sie in seinen Augen stets neue Sünden begangen, indem sie ihn verspotteten.
Kuntz begann zu beten. „Geliebter Vater im Himmel, ich danke dir für die Botschaft, die du mir geschickt hast. Du gibst mir eine Chance – das tut sonst niemand. Das weiß ich zu schätzen. Ich werde das Beste daraus machen. Gib mir die Kraft, heute Abend eine gute Geschichte zu erzählen und allen zu beweisen, dass ich mehr kann, als nur tollpatschig zu sein. Amen."
Doch statt innere Ruhe zu erfahren, fegte wie aus dem Nichts ein kalter Windhauch durch sein Zimmer. Kuntz öffnete die Augen. Er hatte kein Fenster, nicht einmal einen Windfang. Wo war er hergekommen?
Zitternd beschloss er, es zu ignorieren, und wandte sich der mysteriösen Skizze zu. Was bedeutete der große Stern? War es ein Zeichen? Vielleicht von Gott persönlich?
Eigentlich war es egal, was er übersetzen würde. Er brauchte nur eine gute Geschichte. Am besten, er dachte sich ein Gedicht zum Bild aus. Kuntz hatte eine Mission.
Die Stunden verflogen und ehe er sich versah, kam der Adel zum Abendmahl zusammen. Der Kaiser hatte alle einberufen, um ein kleines Festmahl zu veranstalten, weil heute eine gute politische Nachricht gekommen war. Kuntz verstand nicht viel von Politik. Er hatte auch außer den Burgmauern und dem Narrenhaus noch nichts von der Welt gesehen. Aber er freute sich, dass die Stimmung ausgelassen war. Das erleichterte es ihm, die Leute zu unterhalten. Er tanzte um die Stühle, schenkte dem Adel Wein nach und kippte hier und da etwas daneben. Das sorgte für brüllende und betrunkene Lacher aus allen Richtungen.
Irgendwann, als der Mond schon hoch am Himmel stand, erhob sich Kaiser Heinrich III mit geröteten Wangen und einem zufriedenen Gesicht. „Meine Freunde! Der Tag heute war ein Erfolg. Dazu habe ich eine weitere gute Nachricht bekommen. Kuntz, mein Narr, tritt näher und verkünde endlich, was du übersetzt hast."
Herr Dietrich begann zu grinsen und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück. Er sah seltsam siegessicher als – als hätte er seine Widerworte für jede Übersetzung, die Kuntz vortragen würde, bereits geplant.
Der Hofnarr stellte den Weinkrug ab. Er hüpfte nach vorn und kletterte auf einen Stuhl. Alle Augen ruhten auf ihm.
„Nun denn, meine verehrten Herren, mein hochgeliebter Kaiser!", begann er seine Rede und breitete die Arme aus. „Heute habe ich eine Botschaft von Gott persönlich empfangen!"
Der Adel gab „Ahh!" und „Oh!" von sich. Sie waren eindeutig angetrunken. Kuntz konnte es ihnen beim guten Wein nicht verübeln. Er selbst hatte auch den ein oder anderen Becher geleert. Er schwankte ein wenig auf dem Stuhl, doch er fing sich wieder und fuhr fort.
„Unser Kaiser ist der einzig wahre Herrscher über die Herzogtümer Bayern und Schwaben! Das hat Gott bestätigt, als er dem Papst seine Erlaubnis gegeben hat, ihn zu krönen. Aber was ist, wenn ich euch sage, dass Gott noch viel größere Pläne hat? Hicks!"
Kaiser Heinrich III lehnte sich ein Stück vor. Die Krone funkelte erhaben auf seinem Haupt. Sein Blick war gespannt und ... etwas sorgenvoll?
Kuntz schwankte und der Stuhl kippelte leicht. Glücklicherweise blieb er stabil. Er fuhr aufgeregt fort. „Lauscht meinen – nein, seinen Worten, die eine glorreiche Zukunft vorhersagen!"
Umständlich zog er das Bild unter seiner Jacke hervor und hielt es in die Höhe, damit jeder den Himmel und den großen Stern sehen konnte. Er sah zufrieden, wie Herr Dietrich beide Augenbrauen nach oben zog.
Damit hatte er nicht gerechnet!
„Ja, ich habe es übersetzt", teilte er dem Berater mit und grinste. „Die Übersetzung lautet wie folgt: Es ..."
Kuntz wollte sein ausgedachtes Gedicht vortragen, doch die Verse verschwammen in seinen Gedanken zu einer Pfütze aus Wörtern und Wein. Er dachte angestrengt nach. Es gelang ihm nicht, sich zu erinnern. „Es ..."
Seine Gedanken waren unklar. Je länger er den Zettel mit der Übersetzung festhielt, desto mehr schien er zu vergessen, was er eigentlich hatte sagen wollen.
„Ja?", fragte der Kaiser nach.
Kuntz Mund klappte auf. Er hatte sich ein tolles Gedicht überlegt, aber er brachte kein Wort über die Lippen.
Es war wie verflucht. Erneut fegte ein kalter Wind durch den Raum. Nur Kuntz schien ihn zu bemerken. Zufall? Wahrscheinlich nicht.
„Ich brauche die Original-Schriftrolle", brachte er hervor. Diese Worte konnte er aussprechen.
Der Adel begann wenig erfreut auf den Plätzen umher zu rutschen. Kuntz sprang von seinem Stuhl und stolperte auf Herrn Dietrich zu.
Dieser grinste scheinheilig. „Die Schriftrolle? Ich habe sie nicht."
„Du hast sie vorhin mitgenommen! Natürlich hast du sie."
„Ich weiß nicht, wovon du redest."
„Aber ..." Kuntz sah hilflos seinen Zettel an. Er hatte die Übersetzung. Er würde es auch so schaffen.
Er räusperte sich und hielt das Bild erneut hoch. „Es ..."
Die Adeligen begannen zu lachen. Der Hofnarr war es gewohnt, dass man über ihn lachte, aber dieses Gelächter klang seltsam in seinen Ohren. Er drehte den Zettel um und riss die Augen auf.
Dort war nicht länger das Bild vom Himmel und einem Stern zu sehen. Da war ein Bild von ihm, wie er von einem Stern gejagt wurde. Das Bild bewegte sich. Kuntz rannte mit seinen kurzen Beinen um sein Leben, doch der Stern war schneller. Er verschlang ihn wie ein Dämon.
Kuntz rieb sich die Augen und sah nochmals hin – die Szene war fort. Nun war dort nur noch ein Bild von ihm zu sehen. Er hielt es kopfüber, was ihn lustig aussehen ließ, und der Adel lachte noch immer.
Das war nicht normal.
Herr Dietrich lehnte sich näher. Vielleicht lag es am schwachen Kerzenlicht, denn sein Schatten sah plötzlich viel zu überwältigend aus.
„Du konntest es wohl doch nicht übersetzen, habe ich recht?", fragte er. „Wie gut, dass der Kaiser mich hat. Immerhin bin ich der beste Berater am Hof."
Herr Dietrich hatte die Schriftrolle, da war er sich sicher. Er würde versuchen, sie selbst zu entziffern und beim Kaiser anzugeben, mit einer Botschaft, die eigentlich Kuntz zuerst bekommen hatte.
Plötzlich begann Kuntz zu zittern. Nein, niemand würde den Inhalt je erfahren! Das Papier fühlte sich unter seinen Fingern eiskalt an. Die Kälte, die vorhin als Windstoß gekommen war, breitete sich nun in ihm aus. Sie verbot ihm jedes Wort. Sie schnürte ihm die Kehle zu, als sei die Zukunft noch nicht bereit, geteilt zu werden.
Kuntz hatte nur eine Entschuldigung hören wollen und sich ein besseres Leben gewünscht. Nun überkam ihn die Angst. Er konnte es sich nicht erklären. Hier mussten dunkle Mächte am Werk sein!
Dann traf ihn die Erkenntnis. „Der Teufel hat seine Finger im Spiel", hauchte er.
Die Schriftrolle war nicht von Gott gekommen. Sie war eine Versuchung vom Teufel höchstpersönlich gewesen. Kuntz hatte die Übersetzung zu seinem Vorteil nutzen wollen, statt Ehrlichkeit zu wahren. Er war den bösen Mächten verfallen! Er hatte gesündigt!
„Oh großer Gott, vergib mir!" Er ließ sich auf die Knie fallen und es war ihm egal, dass alle ihn dabei sahen. Kuntz zerknüllte das Bild und warf es im hohen Bogen in den Kamin. Die Flammen verschlangen das Papier knisternd. Es zog sich zu einem schwarzen Klumpen zusammen und zerbröckelte zu Asche.
„Gib mir die Schriftrolle!" Der Narr warf sich förmlich auf den kaiserlichen Berater, um das Original zurückzubekommen. Er spürte, wie die teuflische Macht an Stärke gewann. Er musste sie verbrennen – schnell!
Herr Dietrich stolperte erschrocken zurück. „Was um
Himmels Willen ...?"
„Die Schrift wird nur Unheil bringen!"
„Lass mich los!"
„Genug!" Kaiser Heinrich III brüllte ein Machtwort.
Endlich erwischte Kuntz die Schriftrolle in Herr Dietrichs Mantel. Er erkannte das seltsame Papier sofort. Der Narr riss sie hervor und schleuderte sie erleichtert ebenfalls in den Kamin. Das Feuer verschlang sie schneller, als er gucken konnte.
Er hatte es geschafft.
Genau in dem Moment packte ihn jemand von hinten und zerrte ihn von Herrn Dietrich weg, welcher ihn fassungslos anstarrte. Kuntz hatte keine Kraft, sich zu wehren – aber er hatte sein Ziel erreicht. Das Böse war verbrannt. Nur der schwache Geruch von Ruß hing als Überrest in der Luft.
Alle waren in Sicherheit.
Nun konnte Kuntz sich dem Wein und der Schläfrigkeit hingeben.
Als Kuntz die Augen öffnete, hörte er einen Vogel singen. Der Boden war hart und Stroh kratzte an seinem Gesicht, als er sich mühsam aufrappelte. Was war passiert?
Dann fiel es ihm wieder ein: Die Versuchung. Der Zorn des Kaisers. Das Feuer.
"Ohjemine!", klagte er und rüttelte an den Gitterstäben im Verlies.
Treib es nicht zu weit.
Das hatte Herr Dietrich gesagt.
Du unterliegst seiner herrschaftlichen Willkür – wie alle.
Der Kaiser hatte ihn weggesperrt. Kuntz Erinnerungen waren noch immer verschwommen, aber er konnte sich vorstellen, wie er auf die anderen gewirkt haben musste.
„Ehrwürdiger Vater im Himmel, vergib mir meine Lügen! Vergib mir den Kontakt mit den teuflischen Kräften! Ich habe der Verführung nicht widerstanden. Aber ich werde fortan nur noch Gutes tun. Ich werde Herrn Dietrich auch nie wieder einen Streich spielen!"
Als hätte jemand ihn erhört, erklangen Schritte in der Ferne. Ein Wächter kam. Er sah, dass der Hofnarr wach war, und öffnete das Verlies.
„Mitkommen", befahl er.
Kuntz folgte ihm schweigend. Auch wenn sein Kostüm der farbenfrohste Fleck in der ganzen Burg war, kam er sich wie der traurigste Narr im Reich vor.
„Mein Kaiser", grüßte der Wächter, als sie den Thronsaal betraten. Dann trat er zurück und ließ Kuntz mit Kaiser Heinrich III allein.
Kuntz sah zu Boden. Keine Scherze. Keine Witze. Nur Reue erfüllte ihn.
„Kuntz, mein Narr. Was hast du zu gestern zu sagen?"
Die Worte platzten aus ihm heraus. „Ich bitte vielmals um Verzeihung, Eure hochachtungsvolle Gnädigkeit! Mir scheinen der Wein und der Hochmut gestern zu Kopf gestiegen zu sein. Es gibt nichts, wie ich um Entschuldigung bitten könnte! Bitte ... bitte verbannt mich nicht zurück auf die Straße."
Kaiser Heinrich III sah ihn überrascht an. „Ich hatte nicht vor, dich zu verbannen."
„Ehrlich?", erstaunt blickte er auf.
„Ehrlich", erwiderte der Kaiser. Trotz allem war sein Blick weich wie eh und je. Doch seine Stimme war hart.
„Ich kann dieses Benehmen nicht ungestraft lassen."
Kuntz nickte. „Ja, mein Kaiser."
„Ich fordere, dass du dich bei Herrn Dietrich für dein
Verhalten entschuldigst."
Sein Mund klappte auf. Er sollte sich entschuldigen?!
Kuntz beschloss, keine Widerworte zu leisten. Nur er wusste, was wirklich geschehen war. Er hatte alle am Hof vor den dunklen Mächten gerettet – vor allem Herr Dietrich, da dieser sonst als nächstes der teuflischen Kraft erlegen wäre.
Für die Menschen war er nur der tollpatschige Narr. Und das würde er auch immer bleiben. Vielleicht, beschloss Kuntz, waren ihm diese Ahnungslosigkeit und ein ruhiges Leben lieber.
„Natürlich, mein Kaiser", stimmte er zu.
„Gut. Dann darfst du gehen."
Kuntz verließ den Saal. Anscheinend hatte er den ganzen Tag verschlafen. Als er am nächsten Fenster vorbeiging, sah er bereits die Sterne. Keiner strahlte heller als die anderen. Aber auch stürzte sich keiner auf ihn und wollte ihn verschlingen.
Er sollte weniger Wein trinken. Und mehr beten.
Kuntz konnte nicht anders, als zu lächeln. Er hatte zwar keine Anerkennung von Herrn Dietrich bekommen, aber er war noch immer der Hofnarr. Als sein Blick über die mittelalterlichen Straßen in der Ferne glitt, wurde ihm bewusst, dass sein Leben ohnehin viel mehr wert war als die Worte des Beraters. Hier in der Burg ging es ihm gut. Das war alles, was zählte.
Das Glöckchen an seinem rechten Schuh klingelte fröhlich, als er über den langen Teppich davon hüpfte.
Der Glöckchenklang endete abrupt und verwandelte sich in ein lautes Klingeln, das sie aus den Träumereien riss. Lamira schreckte hoch. War sie eingeschlafen? Sie rieb sich mit den Händen über die Augen und versuchte nicht ertappt dreinzuschauen. Dann bemerkte sie, dass der Klassenraum leer war.
Nur ihr bester Freund Leon war noch da. Er drückte den Anruf auf seinem Handy weg und sah sie schuldbewusst an. Lamira brauchte einen Moment, bis sie verstand, dass dieses Klingeln sie geweckt hatte.
„Ich wollte dich nicht alleine lassen", sagte Leon. „Der Unterricht hat vor einer halben Stunde geendet."
„Oh Gott!" Peinlich berührt strich sich Lamira die Haare aus dem Gesicht. Das Buch lag noch immer aufgeschlagen vor ihr, und der Hofnarr Kuntz lächelte sie schalkhaft an.
„Was habe ich verpasst?"
Leon steckte sein Handy zurück in den Rucksack. Da beide Achtundzwanzigjährigen tagsüber arbeiteten, blieb ihnen nur die Abendschule, um ihr Abitur nachzuholen. Anscheinend schaffte ihr Freund es besser, mit der Doppelbelastung umzugehen – auch wenn Lamira froh war, dass ihr Lehrer den Unterricht locker gestaltete.
„Das Leben im Mittelalter, das Ständesystem, Kaiser Heinrich III und der Papstschismus, die Supernova 1045 ..."
„Supernova?", wiederholte Lamira. Sie richtete sich auf. Das Bild der Schriftrolle tauchte vor ihrem inneren Auge auf.
Ein heller Stern ... – konnte das sein?
Glücklicherweise fasste Leon zusammen, was sie verschlafen hatte. „Im Jahr 1045 soll im Sternbild Stier ein neuer Stern erschienen sein. Das Ereignis hat das Weltbild der Menschen in den Grundzügen erschüttert, denn bis dahin galt der Kosmos als statisch. Es war der Beginn der Forschung und Astronomie."
„Der Papyrus hat also die Zukunft vorhergesagt", murmelte Lamira.
„Was sagst du?"
„Ach nichts. Lass uns nach Hause gehen."
Wenn sie genauer darüber nachdachte, war es vermutlich besser, dass Kuntz niemandem die Wahrheit verraten hatte. Vielleicht war auch nichts wirklich geschehen und ihr Unterbewusstsein hatte sich die Geschichte nur ausgedacht. Sie würde es nie erfahren.
Lamira schüttelte lächelnd den Kopf, als sie ihre Bücher in ihrer Tasche verstaute. Gemeinsam mit Leon trat sie in die kalte Nacht. Als sie nach oben blickte, leuchteten dort bereits die Sterne.
Einer strahlte besonders hell. Je länger sie ihn betrachtete, desto sicherer war sie sich, dass sich hinter Kuntz Geschichte mehr als nur ein Geheimnis verbarg.
Von: Ideenzauber
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