Die vierundzwanzig Schriftrollen (@Sokeefe4ever4110)

Ein einziger Schritt, und Eliza betrat eine andere Welt. Sofort stiegen ihr exotische Gerüche nach Muskatnuss, Safran und Zimt in die Nase. Lautes Geschnatter in verschiedenen fremden Sprachen erfüllte ihre Ohren; Händler, die lautstark ihre Ware anpriesen, und Kunden, die um jede Münze feilschten. Ihre Augen waren kurz geblendet von den grellen Farben. Die kleinen Holzstände und Karren, eingehüllt in bunte Tücher, die sanft in der leichten Brise wehten, erstreckten sich, soweit Eliza gucken konnte. Von Gewürzen über Schmuck bis hin zu Öllampen wurde alles feilgeboten. Sogar ein paar Esel und Kamele scharrten in einem mit einfachem Strick abgegrenzten Bereich ungeduldig mit den Hufen. Der Basar von Luxor war schon etwas ganz Besonderes. Eliza nahm einen tiefen Atemzug und wischte sich verstohlen etwas Schweiß von der Stirn. Einmal mehr war sie nicht ausreichend auf die Unbarmherzigkeit der ägyptischen Sonne vorbereitet gewesen. Doch trotz der Strapazen der Reise, der unerträglichen Hitze und des allgegenwärtigen Sandes fühlte sie vor allem eines: Erleichterung. Erleichterung, endlich der erdrückenden Schwere Londons entkommen zu sein. Langsam, aber sicher, breitete sich ein befreites Lächeln auf ihren Zügen aus und sie setzte sich in Bewegung. Während sie sich ihren Weg durch die Menge bahnte, hielt sie Ausschau nach einem Stand, der Hüte verkaufte.

Schnell wurde sie fündig und erwarb einen einfachen Hut mit breiter Krempe. Der Verkäufer beäugte misstrauisch ihre helle Haut, die blonden Haare und die europäische Kleidung, gab sich jedoch zufrieden, als sie ihm seine Bezahlung in die Hand legte. Eliza zog sich die Krempe des Huts tief ins Gesicht und rief sich den Grund für ihren Besuch ins Gedächtnis. Dann schritt sie mit neuer Energie weiter.

Seit zwei Jahren hatte sie Amir nicht mehr gesehen, erkannte ihn jedoch sofort an seinem breiten Grinsen. Sie saß an einem wackligen Tisch etwas abseits von den anderen Tischen, vor sich einen Teller Ta'amia, als er winkend auf sie zukam.

»Elizabeth, Elizabeth! Du fühlen dich gut?«, fragte er in gebrochenem Englisch. Seine dunklen Haare waren etwas länger als bei ihrem letzten Treffen und seine Kleidung wirkte hochwertiger als früher, sonst war er jedoch ganz der Alte.

»Hallo Amir, schön dich zu sehen. Mir geht es gut.«

Er setzte sich neben sie und klaute sich ein Stück ihrer Falafeln.

»Warum haben du mich treffen wollen?«, wollte er wissen, sobald er fertiggekaut hatte.

»Warst du nicht sowieso in der Nähe?«, wich sie der Frage aus.

»Doch, doch.« Dann setzte er eine besorgte Miene auf.

»Du nicht wieder suchen einen Schatz, oder?«

Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und es bildete sich eine kleine Falte auf seiner Stirn.

Ihr hätte klar sein müssen, dass er den Grund für das plötzliche Wiedersehen erraten würde. Nervös kaute sie auf ihrer Unterlippe, eine Angewohnheit, die sie eigentlich dringend loszuwerden versuchte. Es half ja nichts, früher oder später würde er es sowieso erfahren.

»Ich suche ein Artefakt. Genaugenommen vierundzwanzig Schriftrollen, auf denen jeweils ein Orakelspruch stehen soll. Laut meinen Quellen hat ein gewisser Pharao Neptuchamun sie damals erhalten und sie wurden ihm in sein Grab mitgegeben. Ich denke, das Grab liegt im Tal der Könige. Aber ich brauche deine Hilfe, um an mehr Informationen zu kommen.«

Gespannt wartete Eliza auf seine Antwort. Würde ihr Plan aufgehen? Natürlich könnte sie auch auf anderem Wege an Informationen kommen, allerdings kannte sie Amir schon lange und vertraute ihm vollends. Er war zwar nicht froh darüber, dass sie sich als Schatzsucherin ihren Lebensunterhalt verdiente, aber im Stich lassen würde er sie nicht, dessen war Eliza sich sicher.

Es war auch nicht so, dass sie es gerne tat, ihr blieb einfach keine andere Möglichkeit. Verschollene, antike Gegenstände waren das Einzige, mit dem sie sich wirklich auskannte. Weil ihre Eltern Archäologen gewesen waren, war Eliza schon früh um die Welt gereist und hatte nur gelernt, was ihre Eltern für nötig befunden hatten. Ein Studium der Archäologie wurde ihr an der Londoner Universität jedoch verwehrt. Offiziell wurde sie den Leistungsansprüchen nicht gerecht, doch Eliza war der wahre Grund bekannt; sie war eine Frau. Natürlich würden all die alten Männer das vermeintlich schwächere Geschlecht dort nicht dulden.

Ihre Eltern waren vor ein paar Jahren gestorben und hatten ihr nichts von materiellem Wert hinterlassen. Doch mit ihren gerade einmal neunzehn Jahren hatte sie wenig Interesse, eine Ehe einzugehen und jemand anderen für sich sorgen zu lassen. So beschloss sie, für reiche Sammler oder auch Museen, Schätze zu sammeln, denn dafür war sie offenbar nicht zu »ungeeignet«. Sie bemühte sich, vertrauenswürdige Arbeitgeber zu finden, die die Schätze anderer Kulturen der Öffentlichkeit zugänglich machten, oder zumindest respektvoll behandelten. Diesmal handelte sie jedoch aus persönlichem Antrieb. Es hieß, wer immer eine der Schriftrollen fände, würde einen Blick in die Zukunft erhaschen. Sicherlich könnte sie diesen zu ihrem Vorteil nutzen, um nicht mehr Schätzjägerin sein zu müssen und stattdessen studieren zu können. Außerdem übte Ägyptens Mythologie eine nie dagewesene Faszination auf sie aus, und sie brannte darauf, eine der sagenumwobenen Orakelschriftrollen zu finden.

Amirs lautes Räuspern riss Eliza aus ihren Gedanken. Er schien ganz und gar nicht zufrieden mit ihrem Vorhaben, stimmte jedoch zu, sich umzuhören.

»Was musst wissen du?«

Erleichtert seufzte sie auf. »Ob die Leute in der Gegend sich etwas erzählen, über einen bestimmten Abschnitt des Tals. Sagen, Märchen, Legenden. Irgendwelche Vorkommnisse.«

Amir nickte ernst und nachdem sie sich noch eine Weile ausgetauscht hatten, verabschiedete sich mit der Begründung, noch ein paar Erledigungen tätigen zu müssen.

»Ich mich melden werde bald. Sei vorsichtig, Elizabeth.« Damit verschwand er wieder im Trubel des Basars und ließ Eliza allein zurück. Diese stocherte noch eine Weile halbherzig in ihrem Essen, aus Grauen vor dem, was nun vor ihr lag, bevor auch sie sich wieder auf den Weg machte.

Zwei Tage und einige Vorbereitungen später saß Eliza auf einem Kamel, sie ritt durch eine staubtrockene Einöde mit spärlicher Vegetation und noch weniger tierischen Bewohnern. Ab und an sah sie eine Eidechse, die sich auf einem Stein sonnte. Trotz ihres neuen Hutes lief ihr seit Stunden der Schweiß in Strömen und ihre reichlichen Wasservorräte neigten sich allmählich dem Ende zu. Einmal mehr vergewisserte sie sich mithilfe ihrer Karte, ob sie noch der richtigen Route folgte. Tat sie, wie sie anhand der verschiedenen Markierungen und mittels eines Kompasses feststellte. Also wechselte sie nur seufzend die unbequeme Position im Sattel und stierte weiter geradeaus. Nach einiger Zeit kam endlich das Tal der Könige in Sicht.

Mehrere Zelte mit darunter aufgebauten Tischen und allerlei Ausrüstungsgegenstände standen auf dem trockenen Boden. Dazwischen wuselten überall Männer mit langen Gewändern in Grau- und Brauntönen und Turbanen der gleichen Färbung umher. Seit der Entdeckung des Tals vor ein paar Jahren wimmelte es hier nur so von Forschern und Schaulustigen. Im Schritttempo durchquerte sie das Tal, vorbei an Gruben, halb geöffneten Höhleneingängen und unter Zelten ausgebreiteten Funden und schaute sich dabei aufmerksam um. In einem abgelegeneren Teil des Tals ließ der Trubel schließlich nach. Dort befand sich nur eine einzige, kleine Ansammlung an Zelten. Auch wenn es nicht viel war, musste sie unwillkürlich grinsen vor Genugtuung. Jamal hatte sich also an ihre Abmachung gehalten.

Jamal zu finden hatte sich schwerer gestaltet als gedacht, doch schließlich konnte ihr jemand den Weg zu dem berüchtigten Händler mit den zweifelhaften Verbindungen beschreiben. Sie fand den Weg zu einer verlassenen Lagerhalle in einem der äußeren Bezirke der Stadt. Als man sie zu ihm in die große Halle brachte, rekelte er sich an der hinteren Wand auf einem Diwan, der mit unglaublich wertvollem, blutrotem Stoff bezogen war und ließ sich von ein paar Dienern Luft zufächeln. Als Jamal Eliza erblickte, verengten sich seine Augen. Er gab den Männern einen Wink mit der Hand und schickte sie damit fort. Wie kann man Menschen nur so herablassend behandeln? Eliza ballte stumm ihre Hände zu Fäusten, so fest, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Jamal war gefährlicher, als er mit seinem starken Übergewicht und dem schütteren Haar aussah. Wenn ihr Unterfangen fruchten sollte, musste sie sich unter Kontrolle haben.

»Sieh an, sieh an. Die kleine Elizabeth«, begrüßte er sie betont gedehnt.

»Jamal«, antwortete sie knapp. »Du weißt, weshalb ich hier bin.«

»Aber natürlich. Ich vergesse nicht, wem ich eine Gefälligkeit schuldig bin«, erwiderte er scheinbar erheitert, doch Eliza nahm den unterschwelligen Zorn über ihr ungebetenes Auftauchen wahr. Ihr komplettes Unterfangen hing genau von diesem Punkt ab - Jamals Ehrgefühl. Er mochte zwar das größte Ekel sein und er scheute nicht vor Diebstahl und Dergleichen zurück, doch sein Wort hatte er bisher immer gehalten. Er hasste es, anderen etwas schuldig zu sein, weshalb er immer darauf bedacht war, diese Schuld so bald wie möglich zu begleichen. Es war schon einige Zeit her, seit Eliza Jamal aus einer schwierigen Situation geholfen hatte, und sie hatte sich den Gefallen aufgehoben, wohlwissend, dass er viel wert war. Jamal hatte Wege und Mittel, die anderen schlichtweg nicht zur Verfügung standen.

»Ich brauche Arbeiter. Einen ganzen Trupp, qualifiziert genug für Ausgrabungen«, wagte sie auszusprechen.

Jamal richtete sich auf und ließ seine Maske aus Höflichkeit fallen: »Das ist ganz schön viel verlangt. Zu viel. Bitte mich um etwas Anderes.«

Im Hintergrund huschte ein Diener von einer Tür zur anderen und verließ den Raum.

»Durch nichts Anderes wirst du deine Schuld bei mir begleichen können.«

Er runzelte verärgert die Stirn und überlegte. »Wozu brauchst du Ausgrabungshelfer, wenn du nicht auf etwas gestoßen bist? Was hast du gefunden, kleine Schatzsucherin?«, wollte er wissen und bleckte die Zähne zu einem fiesen Grinsen.

Eliza zwang sich, tief durchzuatmen. Ein paar Informationen musste sie ihm notgedrungen geben, sonst würde er sich auf diese Abmachung nicht einlassen.

»Ich weiß von einem Grab. Es gehört einem Pharao. Dort gibt es etwas, das ich haben will.«

Jamal tat, als würde er angestrengt nachdenken: »Ein Pharaonengrab ... Was gedenkst du dort zu finden, dass dir scheinbar so wichtig ist?«

Ihre Gründe würde er nicht verstehen, also schwieg Eliza. Er lebte von schmutzigen Geschäften, labte sich regelrecht am Leid, das er anderen zufügte. Wie könnte er jemals begreifen, dass sie mit allen Mitteln versuchte, ihr Schicksal zu wenden?

Jamal fragte ungerührt weiter: »Und wie gelangt jemand wie du an solche Informationen?«

Die Wahrheit war, dass sie nächtelang das Londoner Archiv durchforstet hatte. Sich nahezu unbemerkt Zutritt zu verschaffen, war nicht weiter schwierig gewesen. Ihre »Eintrittskarte«, wenn man es so nennen wollte, war ein kaum erwachsener Mitarbeiter, der nachts für die Wache verantwortlich war. Ein paar gehauchte Worte der Bewunderung, um ihm das Gefühl zu geben, ihr größter Held zu sein, hatten ausgereicht, um sich für eine Nacht unerlaubt Zutritt zu verschaffen. Nach ein paar gemeinsam verbrachten Abenden und einem atemlosen Kuss, in einer dunklen Ecke eng an die Hauswand gedrängt, war ihr der Zugang vorerst gesichert, sodass sie für den Rest des Monats und darüber hinaus Nacht für Nacht Bücher wälzen konnte, bis sie ihre umfangreichen Recherchen abgeschlossen hatte. Ein paar Mal bekam sie ein schlechtes Gewissen; es war nicht wirklich fair von ihr, ihn für ihre persönlichen Interessen auszunutzen. Auf der anderen Seite war es genauso wenig fair, dass ihr der Zutritt zum Archiv verweigert wurde, nur aufgrund der Tatsache, dass sie eine Frau war. Und somit war ihr jeder Weg zu den Büchern recht, schließlich heiligte der Zweck die Mittel.

Aber das würde sie niemandem erzählen, am allerwenigsten Jamal.

»Ich habe eben meine Quellen. Das tut doch nichts zur Sache. Wirst du deine Schuld begleichen?«

Noch bevor er es aussprach, konnte sie seine Antwort auf seinem Gesicht ablesen.

Sie hatte ihre Zweifel gehabt, ob es wirklich klug war, Jamal zu verraten, wo sie das Grab vermutete. Doch offenbar hatte er es ernst gemeint, denn als Eliza nun - widerwillig staunend über die schnelle Organisation - das Lager durchquerte, sah sie schon eine Ausgrabungsstelle, die von dem kleinen Team untersucht wurde. Jamal hatte nicht mehr organisiert als unbedingt nötig, aber beschweren würde sie sich darüber nicht. Es war alles, was sie immer gewollt hatte; ein eigenes Ausgrabungsteam und ihre eigene Fundstelle. Beinahe wäre ihr vor Freude ein kleines Quietschen entwichen, doch es gelang ihr, einen kühlen und professionellen Gesichtsausdruck zu erhalten. Schnell hatte sie das Hauptzelt ausgemacht und wandte sich in diese Richtung, nachdem sie ihr Kamel angebunden hatte. Auf dem Weg warfen ihr ein paar der Arbeiter misstrauische Blicke zu, schienen jedoch über sie informiert worden zu sein; keiner versuchte sie aufzuhalten. Als sie gerade nach der Zeltplane greifen wollte, die aus dünnem, cremefarbenem Stoff bestand, wurde diese von innen geöffnet. Fast wäre sie mit dem hochgewachsenen Mann zusammengeprallt, der in der Öffnung stand. Er war recht muskulös und hatte pechschwarze Haaren, die ihm leicht in die Stirn fielen. Eliza schätzte ihn auf ein wenig älter als sich selbst. Seine Haut hatte die Farbe von Milchkaffee, allerdings stand seine durchaus gutaussehende Erscheinung im starken Kontrast zu dem missbilligenden Blick, mit dem er sie bedachte.

»Die feine Dame beehrt unsere bescheidene Ausgrabungsstelle mit ihrer Anwesenheit, welch Ehre«, sprach er sie in akzentfreiem Englisch an und deutete ironisch eine Verbeugung an.

»Wie bitte?!«

Während Eliza noch verblüfft dastand und sich insgeheim fragte, seit wann man Fremden gegenüber so unfreundlich war, redete er schon weiter und ließ dabei den Blick unruhig über das Lager schweifen:

»Ich bin Tarek. Ich habe die Aufgabe, Sie durch das

Camp zu geleiten, nicht dass Sie stürzen.«

Oha, dachte sie. Der war ja wirklich schlecht gelaunt.

»Elizabeth«, stellte sie sich knapp vor. Er nickte und setzte sich in Bewegung, offenbar davon überzeugt, dass Eliza ihm folgen würde. Ein Augenrollen konnte sie sich nicht verkneifen, trottete dann aber hinter ihm her. Nach einer Weile wandte sie sich in Ermangelung einer Alternative wieder an ihn.

»Kannst du mir zuerst das Materialienzelt zeigen? Ich möchte überprüfen, was uns an Werkzeugen zur Verfügung steht. Wurde schon ein Inventar erstellt? Wenn nicht, mach ich das später, ich wollte mir die Sachen sowieso genauer anschauen.« Tarek warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu, als hätte er nicht erwartet, dass eine Frau wie sie überhaupt wusste, was Werkzeug war. Langsam war Eliza sicher, dass sie ihn nie würde leiden können. Als er antwortete, war sein Tonfall allerdings deutlich milder geworden.

»Ich habe gestern angefangen, eine Liste zu erstellen, bin aber nicht ganz fertig geworden.«

Das war gut, dann war er zwar nervig, aber nicht unfähig. Ihm ihre Hilfe anzubieten, ließ sie allerdings trotzdem lieber bleiben. Seine Reaktion darauf konnte sie sich nur allzu gut vorstellen.

Im Materialzelt stellte sie fest, dass sie zwar keine Massen an Werkzeug hatten, aber dennoch genug, um vernünftig arbeiten zu können. Vor Erleichterung stieß sie einen tiefen Seufzer aus.

Der Rest des Tages zog in unglaublicher Geschwindigkeit an ihr vorbei. Tarek stellte ihr das Team vor, und zeigte ihr, wo bereits mit den Grabungen begonnen wurde. Sie kontrollierte die Fortschritte und gab hier und da ein paar Tipps. Am Abend fiel sie erschöpft in ihr provisorisches Klappbett mit der kratzigen Matratze. Doch es störte sie nicht, es erinnerte sie nur daran, was in den nächsten Tagen vor ihr lag. Viel Arbeit, so viel stand fest, und doch meinte sie, sich noch nie in ihrem Leben so auf etwas gefreut zu haben. Müde, aber glücklich schlief sie schließlich ein.

Die nächsten Wochen waren ein wahrgewordener

Traum für Eliza. Tagsüber grub das Team an einer nahen Felswand, an der Eliza den Eingang vermutete, suchte und katalogisierte die spärlichen Funde, und Eliza war Teil von all dem. Alle paar Tage ritt sie zurück in die Stadt, um sich bei Amir nach Neuigkeiten zu erkundigen, doch noch hatte er nichts herausfinden können. Überraschenderweise verstand sie sich nach einer Weile sogar mit Tarek recht gut und musste zugeben, sich in ihm getäuscht zu haben. Er war nicht so engstirnig wie sie anfangs angenommen hatte. Nach einer Weile notgedrungenen gemeinsamen Arbeitens, begann er einzusehen, dass sie als Frau sehr wohl Wissen beisteuern konnte und akzeptierte dies, ja, schien sogar etwas beeindruckt. Manchmal bat er sie sogar um Rat, was Eliza anhand seines umfassenden Wissens mit einem nie gekannten Stolz erfüllte. Selbst diejenige zu sein, die Fragen beantwortete, war ein großartiges Gefühl. Sie begann Tarek ehrlich zu mögen; er brachte sie zum Lachen und war immer darauf bedacht, anderen zu helfen.

So verging die Zeit, und eines Tages kam er dann, der große Durchbruch, den sich alle erhofft hatten. Ein kleines Stück eines Reliefs, das zum Eingang führen könnte, wurde entdeckt. In der folgenden Woche arbeitete das Team so hart wie noch nie, um vollständig freizulegen, was immer sich dort befand. Eliza blieb bis spät in die Nacht auf und schlief über ihren Papieren ein. Später wurde sie von Tarek geweckt, der sie zu ihrem Zelt brachte, weil sie zu schlaftrunken war, um allein zu laufen.

»Eliza«, wurde diese am nächsten Tag von Tareks aufgeregter Stimme geweckt, »wir haben einen Eingang freigelegt!«

Sofort war sie hellwach und saß aufrecht in ihrem Bett. Kurz saß sie still und konnte es nicht fassen. Dann kam wieder Regung in sie. Sie sprang auf und machte sich so schnell fertig, wie noch nie zuvor. Als sie aus dem Zelt stürmte, lief Tarek schon unruhig davor herum und eilte los, kaum dass er sie sah.

»Wie spät ist es?«, wollte Eliza atemlos wissen, während sie versuchte mitzuhalten.

»Fast mittags«, kam die knappe Antwort zurück.

»Was? Warum hat mich niemand früher geweckt, ich hätte helfen können!«

»Du bist gestern vor Müdigkeit über deinen Notizen eingeschlafen. Du hattest den zusätzlichen Schlaf dringend nötig.«

Tarek zog eine Augenbraue hoch und Eliza schaute peinlich berührt zu Boden. Hoffentlich würde er nicht ansprechen, wie er sie zu ihrem Zelt hatte bringen müssen. Ihre Wangen färbten sich rosa, doch entweder bemerkte er es nicht, oder es war ihm egal, denn er ließ es unkommentiert. Dann kamen sie am Rand des Tals an, wo sich eine zerklüftete Steinwand in die Höhe erstreckte. Und im unteren Teil hatte das Team tatsächlich eine rechteckige Öffnung freigelegt.

»Unglaublich«, hauchte Eliza begeistert. An den Seiten der Öffnung waren ein paar Hieroglyphen in den Stein gemeißelt.

»Ist das eine Namenskartusche?« Die Aufregung konnte sie nun nicht mehr aus ihrem Tonfall verbannen.

»Ja. Und sieh nur, wessen Name darinsteht.«

Tarek bedeutete ihr, sich die Symbole genauer anzuschauen und sie beugte sich vor. Die Kartusche bestand aus untereinander geschriebenen Hieroglyphen, die von einem stilisierten Seil umschlossen wurden. Dieses sollte im Glauben der alten Ägypter den Namen schützen und für alle Zeit erhalten.

»Neptuchamun«, las Eliza laut vor.

Sie konnte es nicht fassen. Sie hatte recht gehabt! Mit einem Mal wirkte sie wie in Trance. Tarek fasste sie um die Schultern und rief fröhlich etwas, doch sie hörte nur Rauschen. Alle beglückwünschten sich gegenseitig und riefen wild durcheinander. Eliza ließ sich etwas abseits in den Sand fallen und wartete, bis die allgemeine Aufregung etwas abgeklungen war.

»Ich gehe hinein. Ich habe alles, was ich brauche, dabei.« Schon wollte Eliza in die Öffnung treten, da wurde sie von Tarek zurückgehalten.

»Auf keinen Fall gehst du da allein hinunter.« Sein Tonfall und sein Blick waren grimmig.

Sofort wich Eliza einen Schritt zurück. Warum war er auf einmal so kühl?

»Vertraust du mir nicht?«, wollte Eliza wissen und der Gedanke versetzte ihr einen seltsamen Stich.

»Wie kommst du denn darauf? Darum geht es doch gar nicht. Du solltest nicht allein gehen, das ist zu gefährlich«, entgegnete er verblüfft und scheinbar ein wenig verletzt. »Und wäre es denn so verwerflich, dir zu misstrauen? Du bist schließlich eine Schatzjägerin.«

Fassungslos sah sie ihn an. Dachte er so schlecht über sie?

»Ich habe nie gesagt, dass ich freiwillig Schatzjägerin bin«, antwortete Eliza heiser. »Ich bin eine Frau. Denkst du, ich könnte einfach so Archäologie studieren? So wie du es könntest? Kann ich nicht. Und eine andere Ausbildung habe ich nie erhalten.« Kaum hörbar fügte sie noch hinzu: »Ich habe keine Wahl.«

Dann wurde sie wütend auf sich selbst. Als ob sie sich vor ihm rechtfertigen müsste.

Spontan drehte sie sich auf dem Absatz herum und rannte ohne einen weiteren Kommentar in das Grabmal hinein. Sie hörte noch, wie Tarek ihren Namen rief, aber sie achtete nicht darauf. Natürlich war es leichtsinnig, einfach so ein Grab zu betreten, noch dazu allein, doch sie konnte nicht anders. Hatte Tarek die ganze Zeit nur so getan, als würde er sie mögen? Wieso hatte er nicht mit ihr gesprochen? Nach einer Weile bleib Eliza stehen und atmete tief durch. Es brachte sie nicht weiter, darüber zu grübeln und sich am Ende zu verlaufen. Vermutlich reagierte sie in ihrem Glauben, niemand würde sie ernst nehmen, wieder einmal über. Sie schüttelte den Kopf, als könne sie den Gedanken an Tarek hinausschütteln und kramte dann in ihrer Tasche. Bald fand sie eine Packung Streichhölzer und zündete flink eine Kerze an. Sofort erhellte der flackernde Schein der Flamme ihre Umgebung und sie konnte nun wieder ihre eigene Hand vor Augen sehen. Kurz besah sie sich die grob behauenen, steinernen Wände, dann lief sie mit neuer Energie und Konzentration weiter. Bald gelangte sie an eine steile Treppe, die scheinbar unendlich in die Tiefe führte, doch schließlich erreichte Eliza einen geraden Abschnitt. Je tiefer sie vordrang, umso kunstfertiger waren die Wände gestaltet. Farbenfrohe Bildnisse des Jenseits, verschiedenster Götter und natürlich des Pharaos. Es dauerte nicht lange, da hatte sie sich in den Bildern verloren und verschwendete keinen Gedanken mehr an Tarek oder die Oberwelt.

Als sie die erste Gabelung erreichte, holte sie ein Stück Kreide und ein aufgewickeltes Garn aus ihrer Tasche. Das Garn klemmte sie behelfsmäßig in einen Spalt im Stein und begann dann, es vorsichtig abzuwickeln. Mit der Kreide malte sie vorsichtig eine Markierung an die Wand und schlug dann den linken Gang ein. An jeder weiteren Verzweigung markierte sie die Wand. Ein paar Mal musste sie umkehren und eine andere Abzweigung nehmen, doch sie arbeitete geschickt und konzentriert und schon bald stand sie in einem Teil des Grabes, ein geweiteter Raum.

Im schummrigen Kerzenschein funkelte und leuchtete die Kammer, die bis an die Decke gefüllt war mit Grabbeigaben. Kunstvoll geschnitzte Stühle, allerlei Schmuck aus Gold, besetzt mit Lapislazuli und Karneol, Schalen, in denen sich vor hunderten von Jahren vermutlich einmal Nahrungsmittel befunden hatten und allerlei halb zerfallene Kleidungsstücke. Vor lauter Staunen blieb Eliza erst einmal eine ganze Weile im Eingang des Raumes stehen und besah sich alles ganz genau. Dann trat sie vorsichtig hinein. Sie konnte kaum widerstehen, sich sofort auf die Grabbeigaben zu stürzen und diese genauestens zu untersuchen, rief sich aber den wahren Grund für ihre Anwesenheit ins Gedächtnis; die Schriftrollen.

Doch diese konnte sie nirgends entdecken. Nach und nach durchforstete sie den ganzen Raum, baute vorsichtig Stapel um Stapel auseinander, stets darauf bedacht, nichts kaputt zu machen. Mit jedem weiteren durchsuchten Abschnitt wurde ihr schwerer ums Herz. Die Schriftrollen waren nicht da. Entmutigt ließ sie sich in der Mitte der Kammer auf den Boden sinken. Als sie ihren Blick über all die wertvollen Gegenstände schweifen ließ, fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Vor lauter Gesuche nach den Orakelrollen, hatte sie gar nicht bemerkt, dass noch etwas fehlte; der Sarkophag. Was Sinn ergab, denn Särge waren nur sehr selten mit den Beigaben in derselben Kammer. Es musste noch eine weitere Kammer geben, in der sich vielleicht auch die Schriftrollen befanden. Eilig raffte sie sich auf. Garn und Kreide bereit, und weiter ging die Suche. Diesmal wurde sie schneller fündig. Ihr Herz hüpfte in ihrer Brust, als Eliza die Grabkammer endlich erreichte. In ihr befand sich nicht nur ein Steinsarg, sondern auch ein säulenartiges Podest, auf dem vierundzwanzig fein säuberlich gestapelte Lederbehältnisse lagen. Einmal mehr verfluchte sie sich selbst dafür, nicht gleich darauf gekommen zu sein, die Grabkammer zu suchen. Als sie nun die so sehnlich gesuchten Schriftrollen sah, warf Eliza alle Vorsicht über Bord und stürmte darauf zu, ohne den Wandmalereien oder dem Sarg Beachtung zu schenken. Die Lederhüllen hatten die Form schmaler Zylinder und waren mit den Jahrhunderten brüchig geworden. An mehreren Stellen zogen sich feine Risse über die Oberfläche. Eliza entwich ein atemloses Lachen. Endlich hatte sie sie gefunden! Mit der Hilfe der Prophezeiungen würde sie sicherlich ihr Dasein als Schatzjägerin aufgeben können und Tarek würde sie nicht mehr hassen. Vor lauter Glück kam ihr nicht einmal in den Sinn, sich zu fragen, seit wann ihr Tareks Meinung so viel bedeutete. Beinahe sanft hob sie die erste Rolle vom Stapel und ließ sie in ihre Tasche gleiten. Sie war ungefähr zehn Zoll lang und recht dünn. Erst als sie sich selbst tief Luft holen hörte, wurde ihr klar, dass sie dabei den Atem angehalten hatte. Kurz darauf fanden weitere dreiundzwanzig den Weg in ihren Besitz, wenn auch sehr gequetscht. Während sie ihren Fund sorgsam verstaute, malte sie sich weiter aus, was sie nun alles würde bewirken können. Eliza besaß einen Glauben an ägyptische Magie, für den sie in Fachkreisen ausgelacht worden wäre. Doch ihr war schon seit langer Zeit klar, dass es Dinge gab, die man mit Wissenschaft schlicht nicht erklären konnte.

Ein plötzliches Rumpeln und die darauffolgende Erschütterung des Bodens rissen sie aus ihren Tagträumen. Erschrocken fuhr sie zusammen. Das Rumpeln wurde immer stärker und nach einem Augenblick gesellte sich auch noch ein ohrenbetäubendes Knirschen hinzu. Als das Beben so stark wurde, dass sie stolperte und Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten, sprang ihr Blick hektisch umher - und blieb an einigen Hieroglyphen am Sockel der Stele hängen.

»Verdammt«, zischte Eliza. Es war ein Fluch, ein ägyptischer Grabfluch, der Grabräuber davon abhalten sollte, etwas zu stehlen. Sie hatte zwar schon davon gehört, so etwas jedoch noch nie am eigenen Leib zu spüren bekommen. Die Wahrsagungen waren so bedeutsam, dass sie sich in der Grabkammer des Pharaos befanden, trotzdem war Eliza nicht auf die Idee gekommen, sie auf Flüche zu untersuchen. Viel zu geblendet vor Glück war sie gewesen, und nun kam sie das teuer zu stehen. Neben ihr schlug ein Brocken aus der Decke einen Krater in den Boden. Eliza wollte den Raum schleunigst verlassen, kam jedoch nur schwer voran. Dann ertönte direkt über ihr ein unheilvolles Knacken. Eliza erstarrte vor Angst und war wie gelähmt. Sie konnte nicht denken, konnte sich nicht bewegen. In dem Moment spürte sie einen heftigen Ruck und traf im nächsten mit der Schulter schmerzhaft auf dem Steinboden auf. Die Kerze rutschte ihr aus der Hand und erlosch, als sie auf dem Boden aufkam. Kurz war die Welt stockfinster, dann beleuchtete eine kleine Flamme das Geschehen. Dort, wo sie vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte, lag nun ein riesiger Felsbrocken. Mit großen Augen starrte sie ihn an. Dann wandte sie ihren Blick zur Seite und eine noch größere Überraschung wartete auf sie, mit einem Streichholz in der Hand, das ihrer beiden Züge in flackernde Schatten tauchte.

»Tarek?« Eliza blieb für einen Moment vor Schreck das Herz stehen, dann machte sich Erleichterung in ihr breit.

»Los jetzt!«, schrie er sie über das Donnern des Gesteins hinweg an. »Wir müssen sofort raus hier!«

Er griff nach ihrem Arm, zog sie unsanft auf die Füße und gemeinsam rannten sie, so gut es im spärlichen Schein des Streichholzes möglich war, durch das Labyrinth an Gängen. Ab und zu mussten sie über einen Felsen klettern oder diesen ausweichen, doch letztendlich schafften sie es dank Elizas zahlreichen Markierungen heil hinaus. Draußen standen noch immer die Arbeiter und musterten besorgt den Eingang, da kamen Tarek und Eliza hinausgestürmt.

»Lauft!«

Sofort kam Bewegung in sie. Alle rannten so schnell wie möglich vom Grabeingang weg, da riss eine letzte große Erschütterung sie von den Füßen. Eine Sandwolke stieg auf und verdunkelte kurzzeitig den zuvor strahlend blauen Himmel. Danach war es wieder ruhig. Als sich der Staub gelegt hatte, war das Ausmaß der Zerstörung zu erkennen. Der Eingang existierte praktisch nicht mehr, es gab nur noch einige Felsbrocken und einen großen Haufen Sand. Eliza rappelte sich auf und spuckte Sand aus.

Sofort schaute sie sich um, um zu prüfen, ob es allen so weit gut ging. Ein Blickwechsel mit Tarek und es war klar; sie hatten einiges zu besprechen. Nachdem alle beruhigt worden waren, trafen sich die beiden im Hauptzelt.

»Es tut mir leid-«, setzte Tarek an.

Im gleichen Moment fragte Eliza: »Weshalb bist du mir gefolgt?«

Es folgte eine angespannte Stille, dann wiederholte sich Eliza: »Warum bist du mir gefolgt? Und warum hast du mich unter dem Stein weggeschoben? Du hättest dabei selbst draufgehen können!«

Tarek gluckste kurz. »Du bist echt die Einzige, die sauer sein könnte, weil man ihr das Leben gerettet hat.« Dann wurde er sofort wieder ernst.

»Ich habe doch gesagt, dass ich dich da nicht allein hinunterlasse. Nicht, weil ich dir nicht vertraue - das tue ich. Mehr als sonst jemandem. Sondern, weil es einfach gefährlich ist und niemand das allein machen sollte. Und es tut mir leid, was ich vorhin über dich gesagt habe. Ich hätte dich nach deinen Beweggründen fragen sollen, anstatt dich dafür zu verurteilen.«

Er schien es ehrlich zu bereuen und Eliza war ihm deswegen nicht mehr böse.

»Ist schon in Ordnung.«

Tarek fuhr sich mit der Hand durchs Haar, als wäre er nervös.

»Was das mit dem Stein angeht ... Ich weiß es selbst nicht so genau. Ich habe nicht darüber nachgedacht.« »Danke jedenfalls«, meinte Eliza und tat etwas, das sie selbst überraschte.

Sie trat einen Schritt vor und umarmte Tarek fest. Der schien im ersten Moment ebenfalls überfordert, erwiderte die Umarmung dann aber.

»Es ist schade, was da unten alles verlorengegangen ist«, seufzte Tarek, als sie gemeinsam am Tisch saßen.

»Nun ja«, antwortete Eliza betont geheimnisvoll, »alles ist nicht verloren gegangen.«

Damit holte sie ihre Tasche hervor und zeigte ihm die Lederhüllen. Seine Augen begannen zu leuchten und er half ihr, sie alle auf dem Tisch auszubreiten.

»Das Beben begann, als ich sie gerade alle eingepackt hatte. Das Podest war mit einem Fluch versehen«, erklärte sie und fuhr peinlich berührt fort: »Ich war so aufgeregt, sie endlich gefunden zu haben, dass ich darauf nicht mehr geachtet habe.«

»Macht nichts, es geht ja allen so weit gut«, bemühte sich Tarek sie zu beschwichtigen. »Willst du sie jetzt gleich aufmachen?« In seinen Augen konnte sie erkennen, wie neugierig er auf den Inhalt war, weshalb sie es umso mehr zu schätzen wusste, dass er ihr die Wahl ließ. Doch auch sie selbst brannte darauf, die Prophezeiungen genauer zu untersuchen, also nickte sie.

Mit zittrigen Fingern griff sie nach einer beliebigen Rolle und öffnete den Deckel an der einen Seite. Ganz leicht neigte sie den Zylinder und ließ die Rolle auf eine freie Fläche des Tisches gleiten. Sie bestand aus grobfaserigem Papyrus. Als Tarek sie sanft auseinanderrollte, offenbarten sich auf der Innenseite Hieroglyphen, in verschiedenen Farben aufgetragen.

Die Spannung war förmlich zum Greifen und Eliza fühlte sich von der Schriftrolle wie magisch angezogen. Alles verblasste im Hintergrund, es gab nur noch sie und die bunten Schriftzeichen. Doch als ihre Fingerspitzen den Papyrus berührten, weil sie ihn hochheben wollte, wurde ihr plötzlich furchtbar schwindelig. Die Welt kippte in eine Schräglage und das Letzte, was sie sah, bevor Schwärze sie umfing, war Tareks erschrockenes Gesicht.

Bilder zuckten durch die Dunkelheit. Zu schnell und viel zu verschwommen, um sie zu erkennen. Immer schneller wirbelten sie um Eliza herum. Diese fühlte sich seltsam schwerelos, als würde sie fallen, ohne jemals irgendwo aufzukommen. Sie hatte kein Gefühl mehr für Zeit, deshalb konnte sie nicht bestimmen, wie lange sie durch die undurchdringliche Leere flog. Nach einer Weile verlangsamten sich die Visionen, sie konnte endlich Ausschnitte erkennen.

Sie sah einen Mann, der teure Stoffe und Sandalen trug. An seinen Fingern und um seinen Hals blitzte Gold. Er schien sehr reich und mächtig zu sein, dennoch kniete er auf dem Boden und schien eine Bitte an eine andere Person zu richten. Da ertönte eine Stimme, heiser und doch gebieterisch und verkündete:

»Keine der Weisheiten darf zum persönlichen Nutzen missbraucht werden. Sollte dies dennoch geschehen, wird sie sich ins Gegenteil verkehren und den Träger ins Unglück stürzen.«

Das Bild wechselte, nun sah sie Tarek mit tränenüberströmtem Gesicht neben einem Grabstein stehen, auf dem ihr Name stand.

»Ach Eliza«, murmelte er. »Hättest du bloß die Finger von der Prophezeiung gelassen. Sie war nicht für uns bestimmt.«

Sie streckte die Hand aus, wollte ihm erklären, dass doch alles in Ordnung war, da wurde er von Dunkelheit verschluckt.

Nun begannen grelle Lichtblitze die Dunkelheit zu durchschneiden. So grell, dass es ihr regelrecht Schmerzen bereitete. Das entfernte Echo einer panischen Stimme war zu hören und sie fühlte sich, als würde sie durchgeschüttelt werden. Ihre Kehle schnürte sich zu und sie bekam keine Luft mehr. Der Drang nach Sauerstoff wurde immer übermächtiger und mit einem Keuchen schlug Eliza die Augen auf.

Sie fand sich in den Armen einer Person wieder, die sie trug und dabei Anweisungen schrie. Sofort begann sie sich zu wehren. Als die Person den Kopf drehte, erkannte sie Tareks Profil.

»Eliza? Um Himmelswillen, dir geht es gut!« Er blieb stehen und beorderte eine Liege herbei.

»Mein Gott, Tarek, lass mich auf der Stelle runter!« Ihre Wangen brannten wie Feuer.

Er schüttelte störrisch den Kopf und setzte sie erst ab, als jemand eine Liege brachte. »Was ist passiert? Du hast den Papyrus kaum berührt, da bist du bewusstlos geworden.«

Kurz überlegte sie, ihm eine Lüge aufzutischen, verwarf den Gedanken aber sofort. Das hier war Tarek, dem sie zu vertrauen gelernt hatte.

»Glaubst du an die alte Magie?«, fragte sie zurück.

Er schmunzelte. »Ich bin Ägypter. Das ist wohl oder übel ein Teil von mir. Wieso?«

»Ich glaube, die Schriftrolle hat mir gerade eine Vision geschickt«, sprach sie ihre Gedanken laut aus.

***

Ein paar Tage später

»Und wo die Rollen jetzt sind?«, wollte Amir wissen, als

Eliza mit ihrer Geschichte geendet hatte.

»Ich habe sie sicher versteckt. Sie sind eindeutig nicht für uns gedacht und die Gefahr, dass jemand sie für seine persönliche Vorhaben nutzt, ist einfach zu hoch. So schnell sollte die niemand finden«, entgegnete sie.

»Nicht einmal mir wollte sie mehr verraten«, ergänzte Tarek.

Die drei saßen in der Mittagssonne unter einem Sonnenschirm auf dem Basar und teilten sich einen Om Ali; der süße Brotauflauf schmeckte hervorragend.

»Was machen ihr beiden nun?«, fragte Amir weiter.

»Ihr könntet bleiben in Luxor.«

Tarek und Eliza wechselten einen Blick und er grinste.

»Wir werden nach London reisen und gemeinsam dafür sorgen, dass ich mein Archäologiestudium erhalte.«

Damit lehnte sie sich nach hinten und beobachtete die vereinzelten Wolken im sonst strahlend blauen Himmel.

Ein zufriedenes Seufzen entwich ihr. Alle Probleme waren nicht gelöst, aber sie war sicher, dass sich nun alles bessern würde. Was die Schriftrollen anging - Eliza brauchte sie nicht mehr, sie hatte nun jemanden an ihrer Seite, der ihr helfen würde, ihren Traum zu verwirklichen.

Und als sie Tareks Hand spürte, die ihre sanft streichelte und dabei wie immer einen Schauer ihren Arm hochsandte, konnte Eliza sich zum ersten Mal seit langem wieder mit einem seligen Lächeln auf den Lippen entspannen.

Von: Sokeefe4ever4110


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