Die Tränen des Raben (@Sia_Ley)

Die freudige Überraschung

Pierre schlurfte gähnend zur Tür. Wer riss ihn denn mitten in der Nacht um elf Uhr morgens aus dem Schlaf? Heute war schließlich der erste Tag der Semesterferien, die Fete gestern war erst im Morgengrauen zu Ende gewesen. Mit halbgeschlossenen Augen nahm er das Einschreiben entgegen, das der Briefträger ihm hinhielt und kritzelte ein paar Buchstaben auf das elektronische Gerät. Als er dann allerdings den Absender auf dem großen, braunen Umschlag sah, war er augenblicklich hellwach.

Deutsch-Ägyptologisches Institut las er und sein Magen hüpfte, sein Herz raste los. Das ... das ... das konnte eigentlich nur eine Zusage bedeuten!

Eine Absage hätte auch in ein kleineres Kuvert gepasst. Ungeduldig fetzte er die Klebekante auf, zog das Bündel an Blättern heraus, überflog den Inhalt, ließ sich auf einen Sessel fallen, atmete hektisch und versuchte sein Glück zu fassen.

Er ... hatte ... einen ... Platz ... bekommen!

Er würde bei den Ausgrabungen, die der weltberühmte Professor Donaldson leitete, dabei sein.

Schon in zehn Tagen würde es losgehen. Er hatte es geschafft.

Natürlich hatte er sich gute Chancen ausgerechnet. Als Sohn eines algerischen Physikprofessors und einer deutschen Chemikerin war er in Frankreich dreisprachig aufgewachsen. Arabisch, deutsch und französisch in Schrift und Sprache beherrschte er perfekt. Den Studienplatz in München hatte er schon als Glücksfall für ihn empfunden, doch seine guten schulischen Leistungen waren sicher ausschlaggebend gewesen. Und jetzt würde er drei Monate in Alexandria verbringen können, zusammen mit Gleichgesinnten aus ganz Europa.

Er musste Inka anrufen. Unbedingt! Er musste sein Glück mit seiner Freundin teilen. Sie waren seit drei Monaten ein Paar – die zierliche, süße bayerische Jura-Studentin mit den dunklen Locken und er, der blonde Hüne mit den dunklen Augen seines Vaters. Seit sie sich auf einer Uni-Fete kennen gelernt hatten, schlug sein Herz nur noch für sie. Er hatte sich in der Vergangenheit ausgetobt, zu Hause in Lille und in München. Die Mädchen hatten es ihm immer leicht gemacht. Zwar wohnten er und Inka noch nicht zusammen, verbrachten aber die meiste Zeit, die ihrer beider Studien ihnen ließen, miteinander.

Auf der Party gestern – oder heute, ganz wie man es sah – war er allerdings alleine gewesen. Inka hatte sich schon mit ihrer Freundin verabredet. Diese Kröte hatte er ungern geschluckt. Katja war ein männermordender Vamp, immer auf der Suche nach Bettabenteuern.

Schier platzend vor Glück drückte er aber nun auf Inkas Kontakt, hörte das Tuten, das allerdings kein Ende zu nehmen schien. Ungeduldig trommelten seine Finger auf der Tischplatte. Als sich Inka endlich hörbar verschlafen meldete, sprudelte er gleich los: »In zehn Tagen fliege ich nach Ägypten. Ich habe einen Platz im Ausgrabungsteam von

Donaldson bekommen!«

»Was? Äh?«, kam als Antwort.

»Wir hatten das doch besprochen!«, wunderte er sich über ihr Unverständnis.

»Ägypten? Ja, klar!« Langsam schien sie zu sich zu kommen. »In zehn Tagen? Für drei Monate? Na, das wars ja dann wohl mit uns!«

Pierre verstand die Welt im Augenblick nicht mehr. »Du hattest doch nichts dagegen, dass ich mich bewerbe!« Sie räusperte sich. »Ja, aber ich hatte doch nie geglaubt, dass du eine Chance hast. Wir reden später noch drüber«, antwortete sie und beendete das Gespräch.

Pierre traf diese Reaktion wie ein kalter Guss. Damit hatte er so gar nicht gerechnet.

***

Pierre in Alexandria

Zehn Tage später stand Pierre in der Ankunftshalle des Flughafens von Alexandria und suchte nach jemanden, der ihn, wie angekündigt, abholen sollte. Allerdings waren seine Gedanken noch auf etwas anderes fokussiert. Während des knapp vierstündigen Fluges hatte er sich sein Gehirn über Inkas Verhalten zermartert.

Sie waren eigentlich in den Tagen vor dem Abflug nie richtig zum Reden gekommen. Inka hatte noch eine Hausarbeit nachzureichen, war vollkommen gestresst gewesen. Wohl oder mehr übel hatte sie ihn zum Flughafen gebracht. Der Abschied war etwas gehetzt abgelaufen, als hätte sie es kaum erwarten können, ihn loszuwerden. Ihr Lachen und ihr Lächeln hatten falsch gewirkt, ihre Umarmung kühl, ihr Abschiedskuss ohne Gefühl. Er versuchte, diese Gedanken aus seinem Kopf zu schütteln.

Da entdeckte er auch das Schild mit seinem Namen und stürmte auf den jungen Mann zu, der es über dem Kopf hielt.

Auf keinen Fall würde er sich dieses einmalige Erlebnis hier in Ägypten vermiesen lassen. Er würde jede Sekunde genießen.

Von dem Moment an, als er von dem fröhlichen Mitstudenten in Empfang genommen wurde, hatte er auch gar keine Zeit mehr, sich Sorgen zu machen. Es gab einen Begrüßungsabend mit all den jungen Leuten, die sich hier eingefunden hatten, um ein paar Geheimnisse der ägyptischen Vergangenheit zu ergründen.

Pierre wurde einem Team von acht Studenten zugeteilt, das bei Ausgrabungen auf der ehemaligen Insel Pharos arbeiten sollte. Dort hatte der Leuchtturm gestanden, eines der sieben Weltwunder der Antike. Mittlerweile führte eine Straße auf das Areal, es war zu einem Teil Alexandrias geworden.

Schon am nächsten Morgen, nach einer eher kurzen Nacht, ging es los. Ein Geländewagen brachte ihn und drei junge Männer auf das einstige Eiland.

Die Arbeit der kommenden Tage war hart, doch das Leben im Camp angefüllt mit Lachen, Freundschaft und Freude.

***

Eine Woche nach seiner Ankunft grub Pierre allein an einer Ecke am Sockel des von mehreren Erdbeben zerstörten Leuchtturms, als seine kleine Schaufel auf weichen Widerstand stieß. Vorsichtig legte er etwas länglich Rundes frei, das sich als eine Lederhülle entpuppte, die in einem erstaunlich guten Zustand war. Vorsichtig öffnete Pierre die Verschnürung, zog mit äußerster Sorgfalt einen gerollten Papyrusbogen hervor. Als er ihn behutsam etwas geglättet hatte, sah er, dass das Fundstück mit Hieroglyphen beschriftet war.

Pierre wusste nicht, warum er seinen spektakulären Fund nicht sofort den anderen Studenten, die etwas entfernt von ihm schufteten, zeigte.

Mit rasendem Herzen packte er das sicher uralte Schriftstück wieder ein und versteckte es an seinem alten Platz. Seine Hände zitterten dabei, ohne dass sich ihm der Grund dafür erschloss. Nur ein Gedanke war in seinem Kopf: Er wollte alleine versuchen, den Text zu entschlüsseln.

Nach dem Abendessen machte er sich auf den einstündigen Weg und schlich sich zurück an die Stelle, die er mit einem großen Steinbrocken markiert hatte.

Im Licht seines Handys malte und schrieb er alle Zeichen, die er kannte in seine Kladde.

Doch schon bald wurde ihm klar, dass seine Kenntnisse nicht ausreichen würden, um den Worten einen Sinn zu geben. So brachte er die Lederhülle zu Professor Donaldson, erzählte eine Halblüge.

»Ich bin heute auf etwas gestoßen, aber es war nicht mehr genügend Zeit, das hier fachgerecht zu bergen. Deshalb bin ich jetzt noch einmal hingegangen«, schwindelte er, ohne mit der Wimper zu zucken.

Der Archäologe entrollte das Papyrus, ahnte, worum es sich handelte: eines der vierundzwanzig Orakel des Neptuchamun, die Anubis ihm an vierundzwanzig Tagen diktiert hatte – vor tausenden von Jahren.

Während Pierre ihn angespannt beobachtete, kritzelte Donaldson Wort um Wort auf ein loses Blatt Papier und hielt es schließlich dem Studenten hin.

»Am Tag des roten Mondes im Monat Mesore im Jahr 4026 wird es geschehen. In einem fernen Land wird ein rollendes Monster das Leben einer jungen Frau beenden. Ihr Liebster befindet sich unendlich weit entfernt. Ihn werden die blutigen Tränen des Raben treffen, drei Tage, bevor es geschieht«, las Pierre.

Währenddessen war der Professor aufgesprungen, hatte sich eines seiner Bücher geschnappt, blätterte aufgeregt darin herum. Er hatte offensichtlich nur eine Bestätigung für seine Vermutung gesucht, hatte wohl geahnt, dass es einen Sinn ergäbe, dass der junge Mann gerade jetzt dieses Dokument gefunden hatte.

Ernst sah er Pierre an. »Mesore ist der August, das Jahr nach der damaligen Zeitrechnung ist das laufende und in Deutschland wird in zehn Tagen ein Blutmond zu beobachten sein.«

Der Student spürte die Gänsehaut, die auf seinem Rücken hochkroch. Doch sollte er an ein über 4000 Jahre altes Orakel glauben? Diesen Hokuspokus?

Er war ein aufgeklärter junger Mann des einundzwanzigsten Jahrhunderts, ein Tatsachenmensch. Doch der etwas verwaschene Blick des Professors, der das Hier und Jetzt verlassen zu haben schien, machte ihm Angst.

»Ziehen Sie wirklich in Betracht, dass diese Weissagung sich erfüllen kann? Sich erfüllen wird?«, stieß er stockend hervor.

Donaldson schien Bilder vor seinen Augen wegschütteln zu wollen, zuckte die Schultern.

»Ich weiß es nicht«, gestand er ein. »Es gab in der Fachliteratur eine Reihe von Berichten über Voraussagen, die eingetroffen waren. Aber wissenschaftlich belegt ist eigentlich nichts davon.« Pierre atmete auf.

Nach ein paar Tagen hatte er seinen Fund und dessen Inhalt vollkommen vergessen. Das Leben im Camp, neue Freundschaften, interessante Ausgrabungen nahmen sein ganzes Denken in Beschlag.

***

Die Götter

Die alten Götter, die ihren Einfluss auf die Menschen ganz und gar verloren hatten, wohnten in dem säulengetragenen Teil des Himmelsgewölbes – der Grieche Zeus mit seiner Frau Hera, nebenan ihre römischen Pendants Jupiter und Juno. Der germanische Wotan, der von den Skandinaviern Odin genannt wurde, mit seiner Hauptgemahlin Frigga waren seine anderen Nachbarn. Zu der Götteransiedlung gehörten auch die Ägypter – bei denen blickten die göttlichen Kollegen noch immer nicht ganz durch. Verschiedene Pharaonen hatten ihre eigenen Lieblingsgötter erwählt, da ging es ganz schön durcheinander.

Im etwas abseits gelegenen Komplex, der schon moderner ausgestattet war, lebten die Gottheiten, die noch aktuell bei den Menschen waren. 

Die Götter der Christen: Ein alter Mann, der sich Gottvater nannte, sein Sohn und als Dritter im Bund ein wenig greifbarer Heiliger Geist. Sie verstanden sich außerordentlich gut mit Jahwe, dem Gott der Juden sowie Allah, dem der Moslem. Sie alle konnten nicht begreifen, warum ihre Gläubigen nicht ebenso friedlich zusammen auf der Welt leben konnten.

Vor allem Allah und Jahwe waren in den letzten Jahren immer gramgebeugter geworden, hatten all den Hass und die vielen Kriege nicht verstehen können. Alles war in ihrem Namen geschehen, nur sie hatte niemand gefragt, ob sie das denn so gewollt hatten.

Ebenso wenig wie den Christengott oder Jupiter – vor vielen Jahrhunderten, als Christenverfolgung und Kreuzzüge zahlreiche Menschenleben gekostet hatten.

In einem Seitentrakt wohnten die indischen Götter und die der indigenen Völker, noch immer verehrt, noch immer herrschend.

Am auffälligsten war das moderne Haus aus Glas und Chrom, in dem die neuen Gottheiten lebten, die immer mehr an Einfluss gewannen und seltsame Namen trugen: Internet, Bitcoin, Börse und KI. Sie waren Nebelwesen, nicht fassbar, kaum sichtbar, aber sehr mächtig.

Zeus schlenderte etwas gelangweilt durch den Olymp, achtete darauf, nicht über Gesteinsbrocken zu stolpern, die wieder einmal von den Säulen losgebrochen waren. Er musste das Jungvolk endlich dazu bringen, die maroden Bauten zu restaurieren, anstatt den ganzen Tag nur Nektar und Ambrosia zu trinken oder auf der Lyra herumzuzupfen.

Da klangen aufgeregte Stimmen von den Ägyptern an sein Ohr. Neugierig lehnte er sich aus einer Fensteröffnung, hoffte auf etwas Abwechslung.

Maat, die Göttin der Wahrheit und Gerechtigkeit, hatte ihre Freunde zusammengerufen, deutete nach unten. »Da hat wieder einer eine Rolle gefunden!«, freute sie sich und klatschte aufgedreht in die Hände. »Wir werden endlich einmal ein wenig Spaß haben!«

Zeus verdrehte die Augen. Die mit ihren Orakeln! Während seiner Machtzeiten war das zwar auch immer wieder ein Thema gewesen, doch das war lange her und vorbei.

Osiris' Augen lagen sehnsüchtig auf der zierlichen Göttin. Sie sah wieder überaus reizend aus in ihrem weißen Kleidchen, das ein goldenes Band unter ihren Brüsten raffte. Wie so oft seufzte er tief. Lange schon war er in sie verliebt, doch sein Bruder Seth, der Gott des Chaos, der Bad Boy, wie die Menschen Typen wie ihn nannten, schien Maats Herzen näher zu stehen. Was verwunderlich war, denn mit dem seltsamen Erdferkel-Kopf, den ihm einer der Hauptgötter verpasst hatte, war Seth nicht gerade als gutaussehend zu bezeichnen.

Doch Maats Freude war natürlich auch die von Osiris. Wenn sie glücklich war, war er es auch. Deshalb eilte er zu ihr, suchte ihre Nähe, bevor sich einer seiner Gott-Kumpane einen Platz an ihrer Seite sichern konnte.

»Lass sehen!«, gab er interessiert von sich.

***

Pierre

Sieben Tage nach seinem Fund rastete Pierre im Schatten eines einzelnen Baumes nahe der Ruine. Seine Gedanken waren bei Inka, mit der er gestern geskypt hatte. Endlich hatte er sie mal wieder am Bildschirm erreicht. Doch sie war nervös und abwesend gewesen. Er glaubte auch, eine Männerstimme im Hintergrund gehört zu haben. Hoffentlich konnte er die Beziehung retten, wenn er wieder zu Hause wäre. Viel würde er dafür tun, sie zurückzubekommen.

Gedankenverloren beobachtete er einen Raben, der auf einem Ast genau über ihm landete. Plötzlich fühlte er ein paar Tropfen, die auf seinem Gesicht landeten. Als er sie etwas angeekelt wegwischte und dann seinen Finger ansah, durchfuhr ihn panischer Schrecken.

Blut!

Blut klebte an seiner Hand und an seiner Wange. Sein Herz setzte aus und raste danach los. Panik hatte ihn ergriffen.

Ohne noch eine Sekunde nachzudenken, rannte er zum Professor. Atemlos kam er im Hauptforschungszelt an. Er hatte vollkommen vergessen, dass er nach dem letzten Gespräch mit dem Ausgrabungsleiter über die Orakel all diese Spinnereien nicht hatte glauben wollen.

Er hielt Donaldson seine Hand hin: »Blut! Die blutigen Tränen des Raben! Das ... das Orakel gilt mir! Ich ...«, er legte eine Pause ein, um zu Atem zu kommen. »Ich muss nach Hause fliegen!« Er sank auf den wackligen, dreibeinigen Klappstuhl, wischte sich den Schweiß aus den Augen.

Oder waren es Tränen der Angst, der Verzweiflung, der gefühlten Hilflosigkeit?

Der Ausgrabungsleiter wich dem Blick des Studenten aus, ahnte, wie der sich fühlte, hoffte, dass das Orakel nicht wirklich den sympathischen jungen Mann traf.

»Gut! Tun Sie, was Sie für richtig halten,« antwortete er schließlich. »Ich kümmere mich um einen Flug und fahre Sie zum Flughafen.«

Schwerfällig erhob sich Donaldson. Mit dem Jeep brachte er Pierre auf der Straße, die auf dem ehemaligen Damm erbaut worden war, zurück zum Camp.

Während der Student packte, suchte der Professor im Internet nach einer Flugverbindung, fand aber leider nur eine mit Zwischenstopp und einer langen Wartezeit in Rom. Doch es blieben ja noch drei Tage, der Junge würde es schaffen, seine Freundin zu retten.

Pierre war alles recht, wenn er nur innerhalb der Frist Inka erreichte.

***

Die Götter

Maat hüpfte vor Begeisterung auf und ab. Das Geschehen, das da unten vor sich ging, war ganz nach ihrem Geschmack. Die Liebe würde siegen, wie wunderschön!

Als sie Seth ansah, erschrak sie. Der zynische Blick des Gottes, den sie schon so lange anhimmelte, kühlte ihr Blut und ihre Freude merklich ab. Auf eine Erklärung hoffend suchten ihre Augen Osiris, den treuen Freund all der Jahrtausende, der gerne mehr gewesen wäre, wie sie schon seit geraumer Zeit wusste.

Doch der wich ihr sichtlich aus. »Was ist los?«, flüsterte sie.

Osiris durchstöberte seinen Kopf nach Worten, die das Unausweichliche etwas abgemildert ausdrücken konnten. Doch er fand nicht wirklich etwas, das die Wahrheit beschönigte.

»Wenn ... wenn ... wenn er sie rettet, ist das zu seinem ... zu seinem persönlichen Vorteil, und das ... und das darf nicht sein«, stammelte er. »Dann verkehrt sich die Weissagung und stürzt den jungen Mann ins Unglück.«

Maat schossen Tränen in die Augen. Ein Blick auf Seth erweckte Ekel in ihr. Er schien sich über die ausweglose Situation zu freuen, rieb sich die Hände, sein ErdferkelMund grinste.

Plötzlich sah sie ihn in all seiner Hässlichkeit, der inneren und der äußeren. Fassungslos wunderte sie sich über ihre Schwärmerei, die Tausende von Jahren lang nicht abgenommen hatte. Als er fordernd seinen Arm um ihre Taille legte, schlug sie seine Hand weg.

»Worüber freust du dich denn, du Scheusal? Dass entweder die Frau stirbt oder der Mann?«

Seth klopfte sich vor Begeisterung auf die Schenkel. »Das wird ein Spaß, wenn er begreift, dass alles umsonst gewesen ist!« Sein johlendes Lachen quälte ihre Ohren, vor Schmerzen hielt sie sie zu.

Zu Tode traurig drehte sie sich um und verließ die Gruppe ihrer Freunde. Sie wollte nicht mehr sehen, was auf der Erde vor sich ging. Nichts konnte das Schicksal ändern, das vor Jahrtausenden beschlossen worden war.

Wie hilflos sie doch alle hier oben geworden waren! Osiris folgte ihr, griff nach ihrer Hand, zog sie tröstend in seine Arme. Zwar freute er sich, dass sie endlich Seths wahres Gesicht gesehen hatte, aber es hätte nicht auf Kosten der jungen Leute da unten geschehen müssen. Außerdem konnte er es kaum ertragen, dass Maat so traurig war. Er trug noch einen kleinen Hoffnungsschimmer in sich, der einer Ahnung entsprungen war.

Der dritte Tag würde zeigen, ob er recht hatte.

***

Pierre

Pierre kam vollkommen übermüdet und gerädert in München an. Ihm blieben noch etwa 36 Stunden. Er leistete sich ein Taxi zu seiner Wohnung. Oben angekommen, rief er sofort bei Inka an, doch er hörte nur die Stimme vom Band: »Der gewünschte Teilnehmer ist zurzeit nicht erreichbar.« Nicht einmal eine Nachricht konnte er auf die Mailbox sprechen. Ihr Handy war wohl aus, da hatte es auch wenig Sinn, etwas zu schreiben. Trotzdem versuchte er es: Ruf mich bitte ganz schnell an.

Danach war er kaum noch zu einem klaren Gedanken fähig.

Vielleicht sollte er sich erst einmal ein paar Stunden Schlaf gönnen, er wusste nicht genau, was ihm bevorstand.

Vier Stunden sollten genügen.

Als der Handywecker sich meldete, fühlte er sich zwar nicht wirklich erholt, aber auch nicht mehr so ausgelaugt und müde im Kopf. Sofort wählte er Inkas Nummer. Er musste sie irgendwohin bringen, wo kein »rollendes Monster« sie töten konnte.

Am besten in dein Bett, dachte er ein wenig bitter. Da wäre sie am sichersten.

Doch wieder nahm sie nicht ab, doch wenigstens sprang die Mailbox schnell an.

Okay, versuchte er sich zu beruhigen, es ist noch ziemlich früh, Inka ist eher die Langschläferin.

Er sprach eine Nachricht aufs Band: »Hallo, Süße! Ich bin kurzfristig nach Hause gekommen, weil ich solche Sehnsucht nach dir hatte. Melde dich doch bitte ganz schnell bei mir!«

Dann wartete er. Eine Stunde, zwei, drei.

Mittlerweile war es später Vormittag, selbst eine Inka würde langsam aufwachen. Er versuchte es noch einmal: »Hey, Süße! Melde dich doch bitte! Es ist wirklich dringend und wichtig!«

Nichts kam zurück – kein Anruf, keine Textnachricht. Sein Magen meldete sich grollend. Er suchte bei seinen Dosen mit den Notvorräten, fand eine mit Brot und eine mit Leberwurst. So konnte er sich wenigstens Frühstück machen. Dazu schüttete er literweise Kaffee in sich hinein. Er fand eine uralte Packung Zigaretten, zündete sich eine an, obwohl er schon lange zu rauchen aufgehört hatte, hustete sich die halbe Lunge aus dem Körper. Anschließend tigerte er durch die Wohnung und sandte neue Nachrichten im Zehn-Minuten-Takt. Da die Zeit nun wirklich drängte, beschloss er, mit der U-Bahn zu ihrer WG zu fahren. Er konnte jetzt nur noch hoffen, dass sie zu Hause war, auch wenn das nicht sehr wahrscheinlich zu sein schien.

Doch auf sein stürmisches Läuten ertönte kein Summen des Türöffners, keine Stimme klang aus der Sprechanlage.

Zwei Stunden waren nur noch verblieben. Der Blutmond ging auf, die Zeit rann ihm zwischen den Fingern hindurch. Vollkommen fertig saß er auf der ausgetretenen Stufe vor der Tür des Altbaus.

Was konnte er noch tun?

Wo sollte er sie suchen?

Wenn sie heute Nacht in einem fremden Bett schlief – wie sollte er sie finden? Ihre Freundin Katja fiel ihm ein. Vielleicht wusste die etwas. Mit zitternden Fingern suchte er ihre Nummer unter den Kontakten, drückte auf den grünen Button. Zum Glück meldete sie sich schnell, ihre für ihn unangenehm schrille Stimme klag deutlich berauscht, wovon auch immer.

»Ah! Der schöne Pierre!«, säuselte sie, als er sich zu erkennen gegeben hatte. »Bischt du auf der Suche nach der heiligen Inka?« Sie lachte laut über ihren vermeintlichen Witz. »Die isch auf dem Weg nach Hause, mit einem gaaaanz heißen Typ!« Wieder kicherte sie dümmlich. Pierres Blut rauschte zwar in den Ohren, doch das Nötigste hatte er verstanden. Inka war auf dem Heimweg. »Wenn du das nich' sehen willscht, kannste ja zu mir kommen!«

Angeekelt beendete er die Verbindung, mehr von diesem Weib konnte er nicht ertragen. Wieder wischte er sich den Schweiß von der Stirn, der ihm in die Augen lief und höllisch brannte. Angestrengt lauschte er in die ruhige Nacht, hörte in der Ferne ein paar Motoren leise summen.

Plötzlich drang ein Lachen in sein Bewusstsein – ihr Lachen.

Er sprang hoch, raste los in die Richtung, aus der es gekommen war. Sein Blick suchte die Straße ab, als er sie um die Ecke kommen sah. Sie hing am Arm eines gutaussehenden jungen Mannes, dessen rechte Hand unter ihrem T-Shirt herumgrapschte. Sie blieben stehen, knutschten und fummelten ziemlich heiß, torkelten offensichtlich bekifft oder betrunken vom Gehsteig auf die Straße. In diesem Moment bog ein Elektrobus um die Kurve – bis auf die Rollgeräusche der Räder auf dem Straßenbelag unhörbar, – der genau auf das turtelnde Paar zufuhr.

»Vorsicht!«, brüllte Pierre lauter, als er je gebrüllt hatte. Sein Warnschrei brachte das Pärchen in die Realität zurück.

Inka erkannte die Situation schneller als ihr Begleiter, hechtete auf den Bürgersteig zurück, zog den schleimigen Typen gerade noch rechtzeitig mit sich, kurz bevor »das rollende Monster« eindeutig zu schnell durch die Straße brauste.

Der Schreck saß Inka in den Gliedern, Tränen kullerten über ihre Wangen. Pierre war wie gelähmt von dem, was innerhalb von Stunden, die doch nur Sekunden gewesen waren, geschehen war. Er brauchte seine ganze Kraft, um sich umzudrehen und wortlos zu gehen. Er wollte sich nur noch seinem Schmerz hingeben und war doch zutiefst erleichtert, dass er sie hatte retten können. Die Liebe seines Lebens, seine Liebste, die ohne ihn wohl jetzt tot wäre. Das Adrenalin raste durch seine Blutbahn, auch wenn er wusste, dass er sie verloren hatte.

Nicht an den Tod, aber an einen anderen Mann – oder vielleicht auch an mehrere andere Männer. Das wurde ihm innerhalb einer ganz kurzen Zeitspanne klar, doch es schmerzte nicht so, wie er vermutet hatte. Denn sie war am Leben.

Der Aufenthalt in Ägypten, der ihre Liebe beendet hatte, hatte ihr Leben gerettet.

Er sah vor seinem geistigen Auge noch immer ihren Blick auf sich, den er schwer deuten konnte.

Angst?

Trauer?

Bitte um Vergebung?

Bitte um Verständnis?

Doch das war jetzt nicht mehr wichtig. Sie lebte.

***

Alexandria

Die Studenten des Teams wunderten sich. Der nette und lustige Pierre war verschwunden, seine Sachen lagen aber noch alle im Spind. Donaldson war überhaupt nicht mehr bei der Sache. Seine Gedanken waren bei dem jungen Mann, den er nach Deutschland hatte fliegen lassen, wohl wissend oder zumindest ahnend, dass er in sein Verderben lief.

Er kannte die Gerüchte, die die Orakel begleiteten. Wer sich der Weissagung entgegenstellte und einen persönlichen Vorteil daraus zog, würde alles gegen sich verschwören.

Hätte er Pierre warnen sollen?

Hätte der ihm geglaubt?

Hätte er seine Freundin geopfert, um selbst keinen Schaden erleiden zu müssen?

Immer und immer wieder stellte er sich die gleichen Fragen.

Wog ein Leben mehr als ein anderes? Er hätte irgendeinen Text als Übersetzung präsentieren können, aber war er berechtigt, in ein Schicksal einzugreifen, das vor Jahrtausenden festgelegt worden war?

Als sein Handy klingelte, nahm er vollkommen geistesabwesend den Anruf entgegen, ohne darauf zu achten, welcher seiner vielen Kontakte sich bei ihm meldete. »Hey, Prof! Können Sie mich am Flughafen abholen?«, hörte er Pierres Stimme. Donaldson musste ein paarmal schlucken, bevor er in der Lage war zu antworten. »Ja! Ja, natürlich. Ich bin schon unterwegs.«

Er atmete etwas auf. Noch schien es Pierre gut zu gehen. Kein Unfall, kein Flugzeugabsturz. Er durchforschte sein Gehirn. Wie lange hatte es jeweils gedauert, bis das Schicksal zugeschlagen hatte, bei denen, die das Orakel zu ihrem eigenen Vorteil erfüllt hatten?

In seinen Erinnerungen fand er keine Antwort – vielleicht ja in den alten Schriften?

Er schickte ein Stoßgebet zu den ägyptischen Göttern:

»Verschont diesen jungen Mann!«

***

Pierre war nach der Rettung Inkas zu seiner Wohnung gelaufen. Der Weg durch die halbe Stadt hatte ihm gut getan, das Adrenalin in seinem Blutkreislauf hatte die Möglichkeit bekommen, sich zu verflüchtigen. Sein Smartphone hatte sich immer wieder gemeldet, und es war immer wieder Inka gewesen. Schließlich hatte er ihr eine Nachricht geschickt: Werde glücklich ohne mich und lebe.

Danach hatte er das Gerät ausgeschaltet. Noch empfand er keinen Trennungsschmerz, wenn er denn käme, würde er ihn ertragen und auch überwinden.

In seinen eigenen vier Wänden hatte er auf seinem älteren Tablet einen Rückflug nach Alexandria gesucht, seine Eltern angerufen und sie gebeten, ihm etwas Geld zu überweisen. Die Beiden erfüllten seine Bitte gern, hatte er doch noch nie um einen Zuschuss für seinen Lebensunterhalt gebeten.

Danach hatte er den Flug gebucht.

***

Die Götter

Seth hatte alles begeistert beobachtet.

Ja! Der Mann hatte die junge Frau gerettet, aber er würde dafür bezahlen müssen – mit seinem eigenen Leben. Was für einen Spaß doch diese alten Orakel immer wieder brachten. Da hatte sich Anubis etwas Feines ausgedacht. Ein Geniestreich, der auch noch nach Jahrtausenden für Unterhaltung im doch etwas öden Götterleben sorgte. Osiris trat neben ihn, Seth wunderte sich über dessen selbstgerechtes Grinsen. Er wollte sich mit dem Bruder abschlagen, doch der verweigerte ihm die Geste.

»Wollen wir das Schauspiel gemeinsam bis zum bitteren Ende verfolgen?«, fragte er feixend.

»Welches bittere Ende?« Osiris' Blick war ungewohnt überheblich. »Na! Den Tod des Jungen!«

Osiris zog Maat mit sich – weg von seinem ungeliebten Bruder. »Nein, wir sind nicht so blutrünstig. Genieß allein, was es noch zu sehen gibt!«, antwortete er über seine Schulter.

Maat wunderte sich über das Lächeln des schönen Gottes.

Seth rieb sich die Hände. Er war so gespannt auf das Ende des Jungen!

»Wird er sehr leiden müssen?«, fragte Maat mitleidsv o l l .

»Nein, gar nicht!«, beruhigte Osiris sie. »Komm! Wir sehen von da drüben zu. Da haben wir auch einen guten

Blick und können Seth im Auge behalten.«

Sie war etwas verwundert über seine doch eher kryptischen Worte, setzte sich aber neben ihn auf die aus Stein gemeißelte Bank. Da die Himmelszeit die Geschehnisse auf der Erde wie in einem Zeitraffer darstellte, mussten sie nicht lange warten.

***

Alexandria

Während der nächsten Wochen ließ Donaldson Pierre kaum aus den Augen. Die Angst um den Studenten hatte sich in ihm festgesetzt, und er konnte nichts gegen diesen Fatalismus tun.

Täglich erwartete er ein Unglück, das ein junges Leben nahm, weil das vor Jahrtausenden so bestimmt worden war.

Pierre hatte ihm in groben Zügen von der Rettungsaktion berichtet, doch den anderen Mann an Inkas Seite verschwiegen. Er wollte nicht den betrogenen Loser geben, dem die Freundin fremdgegangen war, kaum, dass er weggewesen war.

Als die drei Monate für die Studenten zu Ende gingen, war der Professor beunruhigter als je zuvor. Niemand würde ein Auge auf seinen Schützling haben, wenn der erst wieder in München wäre.

In manch schlafloser Nacht versuchte er, sich darüber klar zu werden, ob er Pierre in die Folgen einweihen sollte, die das Orakel vorsah.

Doch zum einen wollte er nicht als Spinner angesehen werden, zum anderen dem Jüngeren nicht sein weiteres Leben vermiesen. Es würde kommen, wie es vorausgesagt worden war. Weder er noch Pierre konnten etwas dagegen tun.

Ob früher oder später wusste niemand. Sollte der Junge bis dahin sein Leben einfach frei von Angst genießen.

Beim Abschied am Flughafen versuchte er, Pierre wie alle anderen zu behandeln, einen lockeren Ton anzuschlagen.

»Ihre Freundin wird Sie schon sehnsüchtig erwarten«, meinte er wie nebenbei.

Pierre grinste ihn offen an, und die folgenden Worte ließen eine ganze Menge an ägyptischen Gesteinsbrocken von der Seele des Professors rollen.

»Sie ist doch gar nicht mehr meine Freundin, war es schon da nicht mehr, als ich sie gerettet habe!«

Donaldson begann zu strahlen, nahm den Studenten eher unüblich fest in die Arme.

»Mein Gott! Bin ich froh, das zu hören!« Seine Stimme hatte einen jubelnden Unterton. Der Junge hatte nicht zu seinem eigenen Vorteil gehandelt, es würde ihm nichts geschehen. Er hatte einer jungen Frau das Leben gerettet, mit der ihn nichts mehr verbunden hatte.

Pierre hatte keine Zeit mehr, sich über das seltsame Verhalten Donaldsons Gedanken zu machen, sein Flug wurde aufgerufen.

War der Professor etwas wunderlich geworden? fragte er sich nur und zog mit drei Kollegen los, die auch nach München flogen.

Alles musste er ja nicht verstehen.

***

Die Götter

Als Seth begriff, was Osiris schon lange durchschaut hatte, verfärbte sich sein hässliches Gesicht blau vor Wut. Der Professor, dessen Gedanken glasklar zu ihm drangen, hatte recht. Das Orakel würde nicht gegen diesen Pierre wirken.

»Hattest du da deine Finger im Spiel?« Seth spuckte seinem Erzrivalen die Worte ins Gesicht.

Osiris zuckte nur die Schultern, nahm Maat in die Arme.

»Hattest du?«, fragte sie zu ihm hochsehend.

Er gab auch ihr keine Antwort, schmunzelte nur geheimnisvoll.

Wie hätte ich das denn anstellen sollen, machtlos wie ich bin? Wie wir alle sind?, dachte er.

Doch sollten Seth und Maat das ruhig annehmen. Im Bruderkrieg und in der Liebe waren schließlich alle Mittel erlaubt.

Von: Sia_Ley


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