Die Totenrichter im Totenbuch (@ nympha_meliai)
Es war später Nachmittag. Die Sonne hing schwer über dem trockenen Wüstenland. Staub wirbelte über den Marktplatz, sowie in den engen Gassen, in denen versucht wurde, Handel zu treiben. Dieses Jahr war die Ernte schlecht ausgefallen, die Götter waren erzürnt gewesen. Der Nil hatte keinen fruchtbaren Schlamm zurückgelassen. Im Volk kursierte bereits das Gerücht, dass der Pharao die Verbindung zu seinen Göttern verloren hatte. Waren ihm doch nicht nur Frau und Kind genommen worden, auch seine Geliebte, welche ihm zuletzt Lebensmut gegeben hatte.
Nun, die Mutter der Gottheiten, lächelte müde. Bald würde die Prophezeiung wieder ihren Lauf nehmen. Solange Ägypten existierte, würde sich der Kreislauf immer wiederholen. Sollten diejenigen verflucht werden, die ihrem Land Schaden zufügen wollen. Sollten sie alle ziellos im Gewässer umher wandern.
»Es ist so weit.« Die kühle Stimme Atums ließ das klare Wasser vibrieren, in welchem Nun saß.
Ihre Haut war braun gebrannt von der Sonne und den unendlichen Reflexionen der Sonnenstrahlen.
»Ich weiß«, hauchte sie mit einer Unschuld in der Stimme, welche Atum zweifeln ließ, dass Nun und er in Symbiose leben sollten.
Der Schöpfergott lief auf die sitzenden Urgöttin zu und kniete neben ihr nieder. Behutsam glitt seine Hand in das klare Wasser.
»Ob dieser Pharao den Weg besser beschreiten wird?«, fragte Atum seine Schöpferin.
Nun lachte beherzt auf. Ihre warmen Finger legten sich an Atums Wange.
»Wir werden sehen«, hauchte sie erneut.
***
»Heliopolis!«, sagte der Gelehrte klar und deutlich seinen Schülern, welche am Königshofe unterrichtet wurden. »Helioplois ist unser Ursprung. Einst existierte nur Chaos, aus welchem Nun, unsere Mutter der Gottheiten, entstand. Aus ihr entsprang Atum, unser Schöpfergott. Sie leben in Symbiose einher, Atum kann ohne Nun nicht existieren. Sie sind diejenigen, die uns Leben gaben.«
Essam hörte die Stimme des Gelehrten durch die hohen Tore in den Thronsaal fließen. Wie oft hatten seine Lehrer ihm die Geschichte seines Landes erzählt. Als Pharao musste er jedes Detail kennen. Jeden noch so abgewandelten Namen. Er musste im Schlaf die Götter aufzählen können. Wer war das erste Götterpaar? Wer hat wem welches Leben gegeben.
Ohne die Götter waren die Menschen nicht vollkommen. Und Essam musste die Brücke der Götter und seines Volkes sein. Er war derjenige, der für Frieden sorgte. Er musste und wollte, dass es seinem Volk, aber auch den Göttern an nichts fehlte. Er musste...
»Mein Pharao. Ihr tut es erneut.« Anwar, sein ältester und engster Berater, welcher damals schon seinem Vater die Treue geschworen hatte, trat neben ihn.
»Was tue ich?«, fragte Essam und versuchte nicht wütend zu werden.
»Ihr verzieht euer Gesicht, mein König. Ihr verliert euch erneut in euren tosenden Gedanken.«
Essam unterdrückte ein Seufzen. Seine Hände krallten sich in die Lehnen des vergoldeten Throns. Seine Fingerknöchel stachen weiß hervor.
»Ich brauche Ruhe«, sagte er leise. Er erhob sich. Essam schritt vom Podest hinab.
»Alleine!«, donnerte seine Stimme, als seine Wachen ihm wie selbstverständlich folgen wollten.
Den Gelehrten am Hofe hörte er längst nicht mehr als er die Flure seines Palastes entlang schritt. Die Farben an den Wänden wirkten blass, die Hieroglyphen verwischt.
Die Dämonen hatten sich in den Geist des Königs eingenistet und zerrten an seiner Realität.
Ohne Frau und Sohn, ohne Geliebte, ohne jeglichen Lebensmut, warum sollte er weiter seinem Reich dienen. Essam quälten die Gedanken, dass er nicht einmal einen Erben hatte, dem er dieses wunderschöne Reich vermachen konnte. Er wollte auch nicht einfach eine namenlose Frau am Hofe sein Kind gebären lassen. Essam kannte die Geschichten der Frauen, welche mit Intrigen versucht hatten, den König und somit die Gunst der Götter für sich zu gewinnen.
Einfach gesagt, er war ein nutzloser König geworden.
»Verdammt!« Er war in seinem Gemach angekommen, griff nach der Karaffe mit dem Traubenwein und ließ ihn an der Wand zerschellen. Die Wachen vor seiner Tür zwangen sich, nicht hineinzustürmen. Der Einzige, der Essam in solchen Situationen beruhigen konnte, war Yasin, aber dieser war mit seiner Schwester nicht am Hofe.
Yasin war der einzige Leibwächter, den der König als Freund bezeichnen würde.
Der Pharao setzte sich auf sein Bett und starrte gedankenlos auf den Boden. Der Wind wehte über die offene Terrasse Sand und Staub hinein. Auch wenn sie mit einem leichten Windzug kamen, spürte er den Sand an seinen Fußgelenken streifen. Als ob der Gott des Chaos ihn auslachen würde. Langsam, aber sicher, verlor er seine Glaubwürdigkeit. Essam ließ sich zurückfallen auf sein Bett und schloss seine Augen. Der Geruch von Traubenwein hing in der Luft, als er in einen traumlosen Schlaf fiel.
***
Benommen schlug er die Augen auf. Ein beißender Geruch ließ sie tränen, so dass seine Wangen unwillkürlich nass wurden.
»Na? Wach? Wie schön. Ich dachte schon, du willst gar nicht mehr mit mir reden und verschwendest meine Zeit.«
Blinzelnd versuchte er, ein scharfes Bild vor seine Augen zu bekommen. Er wollte die Stimme zuordnen, niemand würde sich trauen, mit seinem Pharao so respektlos zu reden.
Aber als Essam die Gestalt vor sich sah, erstarrte er.
Er ging auf die Knie, senkte sein Haupt und betete, dass er nicht tot war. Obwohl er keinen Lebensmut mehr hatte, jagte ihm der Gedanke, gestorben zu sein, eine unbeschreibliche Angst ein.
Breitbeinig saß der Wüstengott Seth vor ihm. Sein weißes Gewand flatterte leicht, obwohl kein Wind wehte. Sein Blick war rasend vor Wut und Gier.
»Wenigstens scheinen deine Gedanken noch etwas fassen zu können. Pharao.« Er spuckte ihm die Wörter förmlich ins Gesicht.
Die gebogene schwarze Schnauze seiner Maske verdeckte zwar seine Augen, aber Essam spürte das Chaos innewohnen.
»Was möchtest du nun von mir, Pharao? Du hast dich doch nach mir gesehnt. Schau mich an!«
Essam hob seinen Blick und blickte dem Wüstengott in die Augen.
»Meine Gottheit ... Ich ... Ich weiß es nicht«, stammelte er unbeholfen. »Es war nicht meine Absicht gewesen, euch zu rufen.«
»Aber nun bin ich hier.« Seth schwenkte sein Zepter, das die Spitze auf Essam Kopf zeigte. »Du wirst im Duat verloren gehen, Pharao.«
»Ich weiß.«
»Willst du das so sehr?«
»Ich weiß es nicht.« Er starrte auf die Spitze des Zepters. Gerade hatte er den Gedanken gehabt, nicht sterben zu wollen, nun fragte der Wüstengott ihn nach seinem Lebenswillen und Essam wurde es wieder egal.
Sein Blick ging hinter Seth. Erneut erstarrte er und senkte sein Haupt. Essam wollte sich auf den Boden pressen und versinken.
Seth grinste frech. Als Wüstengott konnte er am einfachsten den Sterblichen gegenübertreten, als Chaos verkörperte er die wahre Natur der Menschen, welche ihre Emotionen immer schön und positiv redeten. Aber wurden die Menschen wütend, kam er als die reinste Form an Emotionen zum Hervorscheinen. Chaos war eben die wahre Natur der Sterblichen.
Atum blickte mit seinen Kindern den Pharao ruhig an.
Schu stand für das Leben. Tefnut für die Wahrheit. Geb repräsentierte die Erde und Nut den Himmel. Osiris herrschte über den Duat, Isis über die Geburt und den Tod, sowie ihre Zwillingsschwester Nephthys.
»Nun Pharao«, sprach Seth erneut. »Lange ist es her, dass einer da war... der vom Orakel als würdig empfunden wurde.«
***
Schweißgebadet wachte Essam auf. Das Laken und seine Kleidung waren nass. Er wische sich den Schweiß von Stirn und Augen.
»Ein Traum?«, sprach er keuchend zu sich selbst. Seine Stimme klang weit entfernt. Seine Ohren fühlten sich taub an. Er setzte sich auf, rieb erneut mit seinen Händen über seine Stirn und griff nach dem Wasserkrug. Gierig trank er ihn aus, bis es leer war und stürmte daraufhin in sein Bad. Er zog sich aus, griff nach dem Eimer und schöpfte das Wasser ab. Die Flüssigkeit war kalt. Aber eine Bedienstete nachts zu sich holen zu müssen, wollte er auch nicht.
Einige Zeit später stand Essam vor einem kleinen Haus mitten in der Stadt. Seine Tricksereien aus Kindertagen hatten es ihm leicht gemacht, aus seinem Schloss unbemerkt zu entkommen. Nun klopfte er an die Holztür und hoffte das sein einziger Freund aufmachen würde.
Yasin, aus dem Schlaf gerissen, öffnete genervt die Tür. Aber als er Essam sah, änderte sich sein Blick. »Ihr?«, stammelte er.
»Liebling?«, kam es aus dem hinteren Bereich des Hauses. Seine schwangere Frau tauchte auf, aber als sie den Pharao sah, senkte sie ihren Blick sofort.
»Mein König«, meinte sie überrumpelt.
Auch Yasins Schwester Gül tauchte auf. Alarmiert, denn Besucher mitten in der Nacht bedeutete nie etwas Gutes.
Aber als sie ihren Bruder und den König sah, verkniff sie sich jeden zickigen Kommentar.
»Lassen wir die Höflichkeiten beiseite. Ich brauche dich. Als meinem Freund.« Flehend sah der Pharao Yasin an.
Das Knistern der Feuerstelle erwärmte die Küche. Der warme Tee verbreitete einen süßlichen Duft im Raum. Gül hatte den Männern lauschen wollen, aber Yasin hatte sie in ihr Zimmer verwiesen.
»Sag schon. Hast du lauschen können?«, fragte sie hoffnungsvoll die Frau ihres Bruders.
»Nein. Nun lassen wir die Männer alleine. Los. Raus mit uns. Wir sollten schlafen gehen«, sagte sie und fasste Gül am Handgelenk.
»Hättest du das nicht Anwar fragen müssen. Woher soll ich das Wissen haben über... ein Orakel. Ich kenne mich mit der Magie nicht so aus, wie ich wollte, Essam. Ich bin ein Krieger.«
»Dem bin ich mir bewusst. Aber... Anwar hält mich mittlerweile für verrückt.«
Yasin sah ihn mahnend und fragend zugleich an. Jeder im Land hielt den Pharao momentan für verrückt.
Essam lachte müde. Er trank vom Tee. »Ich muss nach Heliopolis. Mir sind die Neun erschienenen.«
»Die Neun.«
»Ja. Die Neun. Das war eine Prophezeiung. Die Prophezeiung, die mich zum Orakel führt.«
»Essam, du hast geträumt.«
»Nein! Unterstelle mir nichts, Yasin. Ich muss nach Heliopolis.« Seine Stimme wurde harsch. Aber er unterbrach sich schnell und versuchte sich zu mäßigen. »Mein Vater und meine Mutter ... Eines Tages waren wir in Heliopolis gewesen. Meine Mutter, Selket segne sie, hatte meinem Vater nie widersprochen. Nie. Sie war herzensgut gewesen. Aber an jenem Tag hielt sie ein Papyrus in den Händen und konfrontierte meinen Vater. Sie stritten. Das war das erste und einzige Mal, dass er seine Hand gegen sie erhoben hat. Was auch immer mir die Neun sagen wollten ...
Ich finde die Antwort in Heliopolis.«
Yasin lauschte der kurzen Geschichte aus den Kindertagen des Pharaos. »Das Orakel ist der Papyrus. Verstehe ich das richtig?«, fragte er sicherheitshalber nach.
»Ja. Davon gehe ich aus.«
»Und wie möchtest du deinem Land erklären, das du nun gehst? Essam, dein Land, wir ... wir leiden.«
»Das ist mir bewusst. Deswegen wirst du meine Nachfolge für den nächsten Zeitraum sein.«
Yasin sah ihn geschockt und sprachlos an.
»Maat stehe mir bei«, brachte Yasin leise hervor. »Essam! Das reicht jetzt. Du verlierst den Verstand.«
»Nein. Tue ich nicht.« Essam griff in die Innenseite seines Gewands. Er zog einen versiegelten Papyrus hervor. »Gebe das Anwar. Ich werde bald zurückkehren.«
»Und wenn Ihr nicht zurückkehrt, mein Pharao, was sollen wir dann tun?« Wut funkelte in Yasins Augen auf. Wut und eine Menge Verzweiflung.
Essam hatte den letzten Schluck seines Tees getrunken und stand auf. Er lächelte müde. »Dann werden die Götter entscheiden.«
***
Einige Tage waren vergangen und Yasin und die Ältesten versuchten, die Abwesenheit ihres Königs zu verbergen. Essam ritt nach Heliopolis. Nicht als König, sondern als einfacher Mann, der Arbeit suchte. Überrascht von der Hilfsbereitschaft seines eigenen Volkes, bekam er Unterschlupf und Essen auf seiner Reise. Dabei hatte sie selbst nicht viel. Seine verwöhnten Knochen vermissten sein seidiges Bett schon nach kurzer Zeit.
»Mein Herr seid Ihr sicher, dass Ihr da hineinwollt?« Der kleine Junge mit dem liebevollen Lächeln blickte zu ihm hoch. Je weiter die Menschen von der Hauptstadt entfernt lebten, desto unbekannter war er.
»Warum sollte ich nicht?«, fragte er verwirrt.
»Vergebt mir die Gotteslästerei. Aber die Priester sagen, Seth hat diesen Ort verflucht.«
»Dann hoffe ich mal, dass Seth mich nicht verfluchen wird.« Er wuschelte dem Jungen durch die Haare.
»Hoffentlich ...«, sagte der Junge. Essam gab ihm die Silbermünzen und stieg schließlich in die Ruine hinein. Sofort fühlte er sich erdrückt. Aber er spürte keinen Funken in sich brennen. Es war mitten am Tage, er glaubte, er müsse bis zum zur Einbruch der Nacht warten, um die Neun Götter wiederzusehen. Er musste schlafen.
Aber er konnte nicht. Essam wurde nicht müde, als der Sternhimmel aufklarte. Er musterte die verschiedenen Bilder am Himmel. Ziellos irrte er umher, über Steine und Staub, bis er ausrutschte. In seinem neuen Blickfeld entdeckte er eine Nische. Ein vergilbter Papyrus lag zerfleddert unter Stein. Der Pharao reckte sich danach, bekam aber nur die Ecke zu fassen.
»Das ist doch Vaters ...«, sagte er atemlos zu sich. Er erkannte die Seiten sofort. Er erkannte das Papyrus, welches seiner Mutter weh getan hatte. »Aber warum ist es nicht in seinem Grab?« Er blieb am Boden liegen.
Kriechend näherte er sich der Nische. Die Magie eines Bannzaubers war nun deutlich zu spüren. Er zog den Papyrus hervor, sah, wie die Seiten aufrissen und sich dann wieder von selbst verschlossen. Die Hieroglyphen schimmerten weiß-gold im Mondlicht.
Essam setzte sich auf. Das Schriftstück hätte als Grabbeigabe unter der Erde sein müssen. Nicht hier unter einem Haufen von Steinruinen. Seine Finger rieben über die Kartuschen. Irritiert darüber, dass sie keinen Sinn ergaben, merkte er erst im letzten Moment, wie sich die Inschrift des Papyrus änderte. Die alten Kartuschen verblassten allesamt und neue erschienen.
»Was zu sagen ist beim Eintritt in die Halle, bei der Erlösung von allem Bösen, was er getan hat, beim Anblick der Gesichter der Götter.
Der Verstorbene spricht: Gegrüßt seiest du, großer Gott der Halle der Allumfassenden Wahrheit. Ich bin zu dir gebracht worden, um deine Vollkommenheit zu sehen. Ich kenne die Namen der zweiundvierzig Götter, die bei dir sind in der Halle der Allumfassenden Wahrheit. Ich bin zu dir gekommen, nachdem ich dir die Maat gebracht und die Ungerechtigkeit vertrieben habe.«
- Negatives Schuldbekenntnis, ägyptisches Totenbuch
Essams Mund wurde trocken. Er war weder tot, noch kannte er ein Totenbuch. Er kannte die Schutzzauber, die auf den Särgen, an den Wänden der Tempeln standen oder die in Schmuck eingebettet waren.Aber es gab kein zusammengefasstes Buch. Man sagte, die Magie sei zu zerstörerisch, die vom Buch ausgehen würde. Sie sollte schützen, nicht verletzen.
Dennoch saß er gerade in Heliopolis unter klarem Sternenhimmel und las die Zeilen, die man vor dem Totengericht sprach. Er fasste mit seiner flachen Hand an sein Herz. Er war nicht tot. Sein Herz schlug.
»Du wolltest die Neun treffen. Aber nun bist du hier. Bei uns.« Hinter Essam hatte es zu brennen angefangen. Werats Stimme kam aus dem Feuer hervor.
»Ich bin nicht tot?«, fragte Essam tonlos nach. Seine Hand noch immer am Herzen. Es pochte wild.
Werat blieb hinter ihm stehen. »Solange dein Herz schlägt, offensichtlich nicht.« Die Flammen züngelten an seiner Haut entlang. »Ich sehe, du hast Fragen. Sterbliche haben immer so viele Fragen.«
»Ihr seid ein Totenrichter.«
»Belesen ist unser Pharao. Ja. Aber du scheinst ... zu versinken.«
»Ja, das tue ich.« Essam drückte seine Hand fester an seine Kleidung, sodass er seine Haut kratzte. Er musste sein Herz spüren, um seinen Verstand nicht zu verlieren.
»Magie ist kostbar. Weißt du, Pharao, jeder liest etwas anderes.«
»Ich verstehe euren Satz nicht, Totenrichter«, antwortete er nach kurzem Zögern.
Werat schmunzelte. Er lachte auf. Seine Hände drückten sich auf Essams Schultern. Er spürte das Feuer in seinen Schultern brennen.
»Jeder von euch Pharaonen sollte einmal nach Heliopolis kommen. Jeder bekommt die Prophezeiung auf unterschiedliche Arten. Aber es ist selten, dass Seth derjenige ist, der einen weckt und den Weg weist. Aber viele kommen nicht. Dein Vater war hier, aber ihm hat sich nichts offenbart. Er stritt mit deiner Mutter.«
»Das weiß ich schon. Verzeiht, sagt mir euren Namen.« Essam spürte sein Herz noch immer pochen.
»Werat.« Werats Hand schob sich vor, an Essams Hals entlang. Die Flammen brannten auf seiner Haut. »Aber, Pharao, es geht nicht um mich oder um deinen Vater. Es geht um dich. Und soll ich dir etwas verraten, was du nicht weißt?« Die Stimme raunte an Essams Ohr. »Du bist ein Bastardkind. Nicht von königlichem Blut.«
Er riss Essam rum. Er buckelte, blieb geduckt am Boden. Aus dem Augenwinkel erkannte er Werat, der Totenrichter, der über den Raub urteilte.
Heliopolis hatte sich zu einem Gerichtshof verändert. Die Ruinen waren zu Podesten geworden. Die Totenrichter saßen versammelt auf den Podesten und beobachteten den knienden Pharao.
»Keine Sorge, da du nicht tot bist, wirst du nicht allen vortreten«, hauchte Werat. »Nur den Wichtigsten. Du möchtest wissen, warum alle in deinem Umfeld in Mitleidenschaft gezogen werden? Wir auch Pharao. Erhebe dich.«
Essam erhob sich. Seine Hand noch immer am Herzen. Es pumpte. Er spürte es pulsieren, vor Anspannung und Angst schneller als gewollt. Er sah die Richter. Er sah in weiter Ferne oben auf den Wolken sitzend, die Neun Schöpfergottheiten.
Und er sah Nun, die Schöpferin ihrer Welt, vor sich stehend. Ihre Schönheit raubte ihm den Atem.
Ihr weißes lockeres Kleid fiel Wellenartig herab. Leichtfüßig schritt sie auf ihn zu.
»Nicht jeder muss von königlichem Blute sein, um mein Vermittler zu sein. Ihr alle seid meine Kinder.« Ihre Stimme klang klar und respektvoll.
Sienahm Essams Hand, die noch immer sein Herz berührte. »Dieser Papyrus ... wird von Generation zu Generation weitervererbt. Aber oftmals offenbaren wir uns nicht. Vor allem nicht in diesem Ausmaß. Alle Götter sind hier. Für einen sterblichen Pharao. Ihr seid wahrlich interessant für mich, Essam.« Sie beugte sich herab und küsste seine Stirn.
Essam versuchte, sich auf seinen Herzschlag zu konzentrieren. Die Göttin erfüllte ihn mit einer Kälte, die ihn erschauern ließ.
»Meine Göttin«, sprach er in dem Versuch, den Fokus nicht zu verlieren. »Bitte. Beginnen wir mit dem Totengericht.«
Nun löste sich von ihm und schmunzelte. »Wie Ihr wünscht, Pharao.« Ihre Finger streiften durch sein dunkles Haar.
Sie setzte sich in die Mitte des Podests auf einen vergoldeten Thron. »Pharao. Statt vor zweiundvierzig Totenrichternt, werdet Ihr heute nur vor vieren treten. Sie werden entscheiden, ob Ihr weiter das königliche Amt ausüben dürft oder nicht.« Nun überschlug ihre Beine elegant und wackelte mit ihrer Fußspitze.
Essam sah sie an, senkte den Blick wieder und ballte seine Hände zu Fäusten. »Verzeiht mir Göttin«, sprach er mit fester Stimme, obwohl sein Blick gesenkt war. »Aber bin ich überhaupt geeignet?«
»Wie bitte?« Nun sah ihn fragend ihn. Die vorherigen Pharaonen, die sie erlebt hatte, hatten vor Selbstsicherheit und Panik gestrotzt, dass sie perfekt und die einzig wahren Könige und Vermittler waren. Keiner hatte sich aktiv selbst infrage gestellt.
»Ich habe das Gefühl, dass ich schon lange nicht mehr dazu bestimmt bin, euer Vermittler zu sein. Euer aller Vermittler.« Essam machte eine ausladende Handbewegung zu den Göttern hin, die ihn beobachteten.
Harachte, der Totenrichter, der prüfte, wie viele Unwahrheiten der Pharao begangen hatte, erhob sich. Er lief auf Essam zu und presste seine flache Hand an die Stirn.
Essam hatte das Gefühl, sein ganzes Leben vor seinem inneren Auge zu sehen. Er sah, wie er mit seinen Schwestern am Hof lernte, wie er mit Yasin trainierte, wie sein Vater beerdigt wurde. Er sah alles und gleichzeitig nichts.
Als Harachte seine Hand zurückzog, fühlte Essam sich ausgelaugt. »Er hat in seinem Leben nie gelogen. Niemals. Sein Herz ist so rein wie ... weiße Federn. Selbst als seine Geliebte hier war, wusste jeder, wer sie war. Auch wenn ihre Herkunft nicht der Wahrheit entsprach, so leugnete er nie, dass er sie liebte. Er liebte sie aufrichtig, wie seine Frau und Kind. Aber... ich habe noch nie einen Pharao ohne Lebensmut gesehen. Verzeiht mir, Nun... aber wir können ihn so nicht richten.«
Nun's Blick verfinsterte sich. »Bitte?«, fragte sie überspitzt.
»Beruhigen wir unsere Gemüter.« Die Stimme von Seth donnerte über die Totenrichter hinweg.
»Man kam ihn richten. Vielleicht nicht einzeln. Aber ...« Seth blickte seinen Bruder Osiris an. »Mein geliebter Bruder. Ihr könnt urteilen. Urteilt über unseren wundersamen Pharao.«
Osiris blickte zorniug. Er war schon immer gegen die Prophezeiung gewesen. Auch wenn sie ins gelobte Reich führen sollten, so waren doch viele Pharaonen in den letzten Jahren von falschem Stolz geblendet worden. Und nun hatten sie seit langem einen Pharao vor sich, der ohne Falschheit und Furcht war, und ausgerechnet dieser verlor sich in seinen Selbstzweifeln.
Nun verzog ihr Gesicht. Sie wollte aufspringen und Seth unterjochen, doch als Osiris über den Platz schritt und auf Essam herabblickte, blieb sie sitzen.
»Nenne mir deinen Herzenswunsch Pharao«, forderte Osiris.
Die Hand griff nach Essams Kinn und zwang ihn, aufzusehen.Essam blickte in Osiris' kalte Augen.
»Eure Frau zurückzuholen? Euer Kind? Sollen sie wieder geboren werden?«
»Nein, Osiris. Bitte nicht. Die Toten sollten in Frieden ruhen.«
»Weise Antwort, Pharao. Wenn das nicht Euer innigster Wunsch ist, was ist es dann?«
»Der Schutz meines Volkes. Bestraft nicht meine Untertanen für meine ... Dummheit und Naivität.«
Osiris lies sein Kinn los. Er begann zu lächeln. Der Totengott hob seine Hände.
»Das Gericht ist beendet.«
»Bitte?!«, knurrte Nun hinein. »Was erlaubst du dir? Osiris!«
Doch Osiris wandte sich seiner Urgöttin zu. »Das Gericht ist beendet. Nicht heute«, sagte er knurrend.
***
Der Sternenhimmel funkelte über Essams Augen. Heliopolis lag noch immer in tiefster Dunkelheit um ihn herum. Nur die Sterne schimmerten als einzige Lichtquelle am Himmel.
Er griff sich an die Brust und spürte sein Herz pochen. Stöhnend setzte er sich auf als er bemerkte, dass er nicht allein war. Er blickte vor sich.
Der kleine Junge, der ihn zur Tempelruine geführt hatte, saß auf einem der Trümmersteine.
»Ich hatte Euch doch gesagt, dass der Ort verflucht ist.«
»Ich weiß, Kind. Solltest du nicht zu Hause sein?«
»Ich bin zu Hause mein Herr. Aber Ihr nicht. Auf dem Boden liegen, das ist nicht der richtige Ort für Euch. Mein König.«
Essam lachte bitter auf.
»Was habt Ihr gesehen, Pharao?"
»Woher weißt du, wer ich bin?«
»Euer Schuhwerk. Niemand hier draußen besitzt solches Schuhwerk.«
Essam lachte erneut. Er hielt sich die Hand vor die Augen. »Ich habe nichts gesehen.«
»Lügt Ihr, Pharao?«
»Ja.«
»Was gedenkt Ihr nun zu tun?«
»Ich werde schreiben. Ich werde das mächtigste Schutzbuch erschaffen, welches uns vor Chaos und Dunkelheit schützen wird.«
»Werdet Ihr es Totenbuch nennen?«
Der kleine Junge sprang von dem Schutt auf, lief auf den mächtigsten Mann seines Landes zu und reichte ihm seine Hand.
»Woher weißt du das?«, fragte Essam und fasste die kleine Hand. Er sah ihm in die Augen.
»Eines Tages wird unser Land ... nicht mehr so sein. Ich habe es gesehen. Ich sehe die Vergangenheit. Die Gegenwart. Und die Zukunft, Pharao. Das Orakel windet sich im Papyrus. Es ... sieht und fasst alles.«
Essam spürte, wie ihm kalt wurde. Der Sternenhimmel verschwand. Er spürte Trauer und Wut aufflammen. Schritte über Sand. Unzählige Schritte über dem Sand waren zu hören. Essam blickte auf einen vergoldeten Sarg.
»Pharao.«
»Ja?«
»Das Totengericht beginnt. Bitte folgt mir.« Kalter Wind wehte hinter ihm auf. Er spürte den Sand an seinen nackten Armen streifen.
»Kind, was ist passiert?«
»Ihr seid für euer Land gestorben. Ihr seid ein wahrhaftiger Herrscher. Andere nicht. Ihr habt euch immer gefragt, ob ihr dazu bestimmt seid, der Vermittler zwischen den Göttern und den Sterblichen zu sein. Die Antwort lautet: Ja.«
»Ich bin gestorben. Wann?«
»Vor siebzig Tagen Pharao. Nun kommt. Osiris wartet nicht gerne.«
Der kleine Junge griff nach der durchsichtigen Hand. »Seid unbesorgt, Pharao. Eure Erinnerungen werden kommen. Gebt Euch einen Moment Zeit.«
Essam drehte sich vom Licht weg. Er folgte dem kleinen Jungen in die Dunkelheit hinein. »Wann werde ich mich erinnern?«, fragte er unbeholfen in die Dunkelheit hinein.
Der kleine Junge sah zu ihm hoch. »Sobald Ihr es wollt. Wollt Ihr es?«
Essam wollte nicken, aber gleichzeitig bekam er Angst. Er wollte den Moment seines Todes nicht wieder erleben.
»Ich habe den Papyrus gelesen«, sagte er plötzlich.
»Das stimmt.«
»Es war ein Zauberspruch. Er ... Er schützt mein Volk«, brachte er stockend hervor. »Es war nicht nur ein Zauberspruch. Es waren mehrere. Diese Magie ...« Sein totes Herz begann aufgeregt zu klopfen.
»Pharao. Ich verlasse Euch nun. Vor uns warten die zweiundvierzig Totenrichter. Ihr werdet jedem Einzelnen gegenübertreten. Am Ende spricht Osiris zu Euch. Wir werden uns im Jenseits wiedersehen.«
»Versprochen, Kleiner?«
»Verspricht es mir, dass ich Euch wieder sehe, Pharao. Ihr werdet geprüft, nicht ich.«
»Dann verspreche ich es. Wir sehen uns wieder«, sagte Essam und straffte seine Schultern. Die steinerne Tür öffnete sich. Essam trat hinein.
***
Der Zauber des vergilbten Papyrus war so stark, dass Jahrhunderte später dank Pharao Essam immer noch nicht genügend Informationen über die 14. Dynastie zusammengetragen werden konnten. Keiner der Ägyptologen und Archäologen wusste genau, wer in der Zeit regiert hatte, und was geschehen war. Es gab nur wenige schriftliche Zeugnisse über dieses Jahrhundert. Darunter der erste Vorläufer des Totenbuches, das damals nur wenige Seiten umfasste, mit Gebeten und Zaubersprüchen für Schutz und Gesundheit beschrieben war und heutzutage noch im ägyptischen Museum in Kairo aufbewahrt wird.
Nala betrachtete das Schriftstück, das zum Schutz vor dem Atem und Schweiß der Menschen hinter Glas lag, damit es nicht zu Staub zerfiel. Das Ägyptische Museum war voll von Touristen und Schulklassen.
Um Nalas Hals baumelte die Kette des Anubis. »Sie wissen noch immer nichts«, hauchte sie geheimnisvoll gegen die Scheibe und verschwand.
Sie spürte, wie die Prophezeiung wieder nach jemandem Ausschau hielt, der eines ägyptischen Pharaos würdig war, das Land zu beschützen.
***
Die Götter blickten auf die Sterblichen herab, vorne stand Nun. Plötzlich deutete sie auf jemanden.
»Sie. Sie ist es«, meinte sie mit funkelnden Augen. »Es wird Zeit für eine neue Prophezeiung.«
Der Blick der Urgöttin ging suchend über ihre Kinder. Lächelnd sah sie Anubis an.
Von: nympha_meliai
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