Die Flügel des Phönix (@Tintenzauberin)
Manchmal hatten die einfachsten Dinge die Macht, die Welt zu revolutionieren oder zu zerstören – das wusste Aaron ganz genau. Dennoch ahnte er nichts Böses, als er die schlichte Schriftrolle zum ersten Mal aus der ledernen Hülle zog. Hätte er nur auf die Warnung gehört, die der Schatten ihm zuflüsterte, dann wäre alles vielleicht ganz anders gekommen ...
Das Licht in den Hallen flackerte, als der Abend sich gen Ende neigte. Müde gähnend drehte Aaron die Schrauben fest, die sein Werk über Nacht fixieren würden, und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Feierabend!«, ertönte eine laute Stimme über den Gang. Sie schallte von den steinernen Wänden des Museums der Alten Kunst und Kreaturen wider, in welchem er seit nunmehr zwei Wochen tätig war, und verdoppelte sich wie ein zweifacher Ruf der Götter. Wenn das mal kein Zeichen war!
Motiviert und erschöpft zugleich schwang der junge Mann die Beine von der Plattform auf die Leiter und klemmte sich seinen Schraubenschlüssel unter den Arm, bevor er herabstieg. Seine Arme zitterten leicht, doch er wusste, dass es sich auszahlte. Denn bald würde über dem Plateau im Hauptsaal des Museums ein Altar des Altertums schweben – eine schillernde Plattform, auf der die wertvollsten Schätze des Sahator, eines altägyptischen Königs der 13. Dynastie, präsentiert werden würden. Der Pharao sollte etwa 1694 vor Christus für nur wenige Monate regiert haben, was den Fund seines Grabes und seiner Beigaben noch interessanter machte.
Viel faszinierender für ihn jedoch war, dass die gesamte Plattform vom glühenden Feuer des Sonnenreichs umgeben sein würde, welches man direkt aus den Repliken von einstigen Fackeln entzünden würde. So oder so ähnlich hatte es ihm jedenfalls die Museumsleiterin Dr. Elisabeth Njoud erklärt, als sie den jungen Ingenieur und Konstrukteur sowie seine Kollegen engagiert hatte, um alles für die neueste ägyptische Ausstellung vorzubereiten. Aaron hatte sich sehr darüber gefreut. Nicht nur, weil ihn Geschichte interessierte, sondern auch, weil es sein erster richtiger Auftrag nach dem Abschluss seines Studiums war. Endlich konnte er zeigen, was in ihm steckte und die Wunder der Welt mit seinen Konstruktionen zum Fliegen bringen. Natürlich war er ebenso neugierig auf die Fundstücke, welche heute Morgen zusammen mit den Forschern eingetroffen waren. Wenn möglich, hätte er am liebsten seinen Schraubenschlüssel kurz zweckentfremdet, um endlich eine der Kisten zu öffnen und die mystischen Schätze zu enthüllen.
Ein leises Räuspern holte ihn aus den Gedanken. »Du träumst mit offenen Augen«, stellte eine Stimme fest. Direkt neben ihm, als hätte er sich angeschlichen, stand sein bester Freund und Kollege Lukas Sadik. Lächelnd musterte er die Plattform, an der Aaron heute den ganzen Tag gewerkelt hatte, und legte die Stirn in Falten. »Das hält?«
Aaron schnaubte. »Klar. Siehst du die Winkel und den feinen Metallrahmen, den ich am Tragwerk habe befestigen lassen? Die Konstruktion wird mit durchsichtigen Seilen an der Decke angebracht. Dann will ich noch Kabel, Widerstände und einen Motor einbauen, um einen schwebenden und schwankenden Effekt zu erzeugen ... Es wird richtig cool.«
Lukas' Lachen hallte durch die Halle und füllte sie mit Wärme. Kurz war Aaron versucht, seine Vision weiter auszuschmücken, entschied sich jedoch dagegen. Die Vermittlung seiner Idee an die Baukonstrukteure war schon schwer genug gewesen. Dabei war Aaron sich sicher, dass es funktionieren würde. Darum packte er auch mit an. Außerdem war dies das Statement ihrer Firma: Sie planten nicht nur die Anlagen, sondern setzten die Ideen zusammen mit Arbeitern in die Realität um.
»Erst mal ist Schluss für heute.« Sein Kollege klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Räum auf, dann sage ich Phil Bescheid, dass er abschließen kann. Oder soll er dir den Schlüssel liegen lassen?«
Aaron ließ den Blick über seine Konstruktion und das darunter hinterlassene Chaos gleiten. »Ich schließe ab«, seufzte er, um Phil nicht warten zu lassen. Während er sich an die Arbeit und Lukas sich auf den Heimweg machte, schweifte sein Blick weiter über die geheimnisvollen Kisten und mysteriösen Artefakte. Welche Wunder dort wohl verborgen lagen?
***
Als Aaron schließlich das Büro verließ, in dem er seine Skizzen lagerte, war das Museum schon dunkel. Geheimnisvoll erfüllten die Schatten den Raum. Dabei hatte er nur zehn Minuten länger gebraucht, weil er nochmal über seine Idee nachgedacht hatte. Er wünschte sich, dass seine fliegende Plattform perfekt wurde.
Müde schlich er durch den Raum, um die heilige Stille nicht weiter zu durchbrechen. Fast war es sogar gruselig, wie nur das Schaben seiner Schritte das Nichts durchstieß. Dann mischte sich plötzlich ein weiteres Rascheln unter das Schleifen. Erst dachte Aaron, es wäre Phil, der doch mit dem Schlüssel auf ihn gewartet hätte, aber der Haupteingang war bereits abgeschlossen. Es blieb nur die offene Hintertür. Irritiert lauschte Aaron – nichts.
Kopfschüttelnd wandte er sich wieder ab und steuerte den Flur an, als abermals ein leises Rascheln durch das alte Museum tönte.
Schhh ...
Der junge Mann blieb stehen. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus, ebenso kratzig wie das Geräusch, und für einen Moment hielt er den Atem an.
Achhhhh ...
Schaudernd drehte Aaron sich wieder um. Vermutlich würden andere Leute derartige Geräusche ignorieren, aber die absurde Ungewissheit für das mystisch Düstere weckte seine Neugier. Außerdem fühlte er sich als Letzter für die Sicherheit des Museums verantwortlich. Was, wenn es ein Dieb war? Oder bloß eine Katze, die sich verirrt hatte? Die Gedanken durcheinander wie ein kreisendes Karussell, das aus dem Lot geriet, langte Aaron kurzentschlossen nach seinem Lieblingsschraubenschlüssel und nährte sich der mysteriösen Ecke.
»Hallo?«, flüsterte er lediglich, denn mehr Worte kamen ihm nicht über die Zunge. Sorge schnürte seine Brust zusammen und ihm wurde ganz flau. War das Museum schon immer so schaurig? Vorsichtig lugte er zu den Kisten, die leicht vibrierten. Vielleicht sollte er gehen, da bestimmt alles videoüberwacht war?
Doch das unruhige Gefühl hielt ihn zurück. Für das gute Gewissen ließ er daher den Blick mit angehaltenem Atem schweifen, konnte aber nichts Auffälliges feststellen. Da breitete sich ein Kribbeln in seinem Nacken aus. Als würde ihn jemand beobachten. Die Kiste vor ihm ruckelte. Ein zischender Windstoß fuhr an ihm vorbei. Aaron wirbelte herum – wieder nichts.
Ängstlich wich er zurück. Er wurde paranoid. Vielleicht hatte er den Tag mit zu vielen toten und verstaubten Sachen verbracht oder sich überarbeitet. Plötzlich waren ihm die Geräusche egal. Schnell machte er auf dem Absatz kehrt und sprintete zur Hintertür, um in die sichere Kühle der dunklen Nacht zu entfliehen und dem Grusel zu entkommen.
***
Als Aaron zuhause ankam, hatte sein Herzschlag sich beruhigt. Trotzdem waren seine Muskeln steif und verkrampft. Dies könnte jedoch auch von der gebeugten Arbeit kommen, daher beschloss er, dem Vorfall nicht zu viel Bedeutung beizumessen. Auch in der Wohnung war es still. Es war also alles normal.
Erschöpft ließ er seinen Rucksack in die Ecke fallen und wollte in die Küche gehen, als erneut ein fremdartiges Geräusch ertönte. Erschrocken hielt der Ingenieur inne. Aus der Seitentasche, reingesteckt wie eine Wasserflasche, ragte eine dunkle Lederrolle – diese hatte er noch nie zuvor gesehen. Ein eisiger Schauer kroch über seinen Nacken, wie vorhin im Museum, aber diesmal sank der junge Mann in die Hocke. Die Bewegung seiner Finger stockte kurz vor der Rolle. Er hielt den Atem an. Dann schnappte er sich das mysteriöse Stück und betrachtete es erstaunt.
Die Rolle lag weich in seinen Händen – sanft und rau zugleich, wegen des abgenutzten Leders. Gebannt strich er darüber. Fast war es, als würde noch Wüstensand daran kleben. Eine ägyptische Borte zierte den unteren Rand.
Und oben ... Aaron entdeckte eine Art Deckel.
Nachdenklich musterte er das Museumsstück. Vielleicht hatte sich einer seiner Kollegen einen Scherz erlaubt und sie ihm eingesteckt? Oder sie war irgendwo runtergefallen und in seinem Rucksack gelandet? Oder ... Die Kälte auf seiner Haut vermischte sich plötzlich mit glühender Hitze, als er daran dachte, wie man ihn des Diebstahls beschuldigen würde. Doch er hatte das Artefakt auf keinen Fall eingepackt!
Verzweifelt fuhr er sich durch die Haare. Am liebsten wollte er die Lederrolle ganz weit wegpacken, gleichzeitig trieb ihn seine absurde Neugier an, sie zu öffnen. Wann ergäbe sich sonst jemals die Chance, alte Mysterien aus nächster Nähe zu betrachten; sie zu berühren? Vielleicht könnte er auch etwas Neues über die Ägypter lernen. Seine erste Kreation von der fliegenden Plattform würde nicht nur ein echtes Highlight im Museum, sondern in der gesamten Presse werden, und er würde als aufstrebender Ingenieur an Bekanntheit gewinnen ...
Bei dem Gedanken machte sich schlechtes Gewissen in ihm breit, gepaart mit Furcht, etwas zu beschädigen, doch das Interesse war größer. Ehe er sich versah, hatte er die Hülle vor sich auf den Küchentisch gelegt. Aufregung kribbelte in seinen Fingern. Wie von selbst drehten sie am Deckel und lösten ihn. Dunkler Rauch stieg aus dem Inneren hervor.
Ganz vorsichtig, wie etwas Heiliges, zog Aaron die Schriftrolle heraus. Sie fühlte sich gut erhalten an. Vielleicht würde ihm der Einblick tatsächlich ein neues Verständnis für die ägyptische Kultur und Zeit des Pharaos Sahator schenken. Das redete er sich jedenfalls ein, während er mit pochendem Herzen den Papyrus aufrollte. Den Schrecken aus dem Museum hatte er längst vergessen. Stattdessen erfüllte ihn eine faszinierte Begeisterung und Euphorie durchströmte seine Adern.
Während Aaron auf das Papier starrte, vergaß er, wie man atmete. Er konnte kein Wort der alten Schriften lesen – aber die Zeichnungen, ja, diese Skizzen, sie zogen ihn in ihren vollendeten Bann. Mit einem Mal wusste er, dass er auf etwas ganz Großes gestoßen war.
Und vielleicht würde es die Welt verändern.
***
»Kommen Sie gut voran?«
Aaron schaute auf. Zwar hielt er einen Schraubenschlüssel in der Hand und hockte auf seiner schwebenden Konstruktion, doch konzentrieren konnte er sich nicht. Stattdessen kreisten seine Gedanken noch immer um die Bilder, die er gestern auf der Schriftrolle entdeckt hatte. Sie hatten sich in sein Gehirn eingebrannt. Selbst die Monteure, die vorhin versucht hatten, ihm zu helfen, hatten irgendwann aufgegeben und waren in einen anderen Saal des Museums weitergezogen, um dort ihrer Arbeit nachzugehen. Aaron war heute nicht bei der Sache. Und das wusste er.
Nun blickte ihn auch noch Dr. Njoud über ihre schmale rote Brille hinweg abwartend an und bei Aaron meldete sich das schlechte Gewissen, weil er die Schriftrolle nicht zurückgebracht hatte. Stattdessen lag sie gut versteckt in seiner Wohnung, wo er sie gestern stundenlang betrachtet hatte. Die Frontansicht, Draufsicht, Seitenansicht und sogar der Querschnitt waren auf dem Papyrus mit feinen Strichen gezeichnet. Aaron konnte nicht glauben, dass jemand solch eine Maschine bereits vor Tausenden von Jahren entworfen hatte. Aber der Papyrus enthüllte das Geheimnis. Und wenn er die Skizzen noch weiter studierte ... Vielleicht könnte er dem Geheimnis tatsächlich Flügel wachsen lassen.
»Herr Fervency?« Dr. Njoud neigte den Kopf und ließ ihren grauen Zopf über ihre Schulter fallen. Aaron zuckte zusammen. Warum wusste die Museumsleiterin seinen Namen? Er sollte sich zusammenreißen.
»Ja, ja, natürlich«, stammelte er, wie auf frischer Tat ertappt. Beschämt, was er gar nicht wollte, denn seine Arbeit verrichtete er gut und die Rolle würde er auf jeden Fall zurückbringen! Nur noch ein paar Abende in Ruhe studieren, um die Dynamik und Konstruktion zu verstehen – so war sein Plan. Vielleicht würde er sogar versuchen, die Maschine nachzubauen. Das Ergebnis würde er am Ende selbstverständlich dem Museum überlassen.
»Dann ist gut.« Zufrieden fuhr die Dame sich über den sandfarbenen Overall, der mit allerlei Flicken und Flecken verziert war. Sie wirkte jung für ihr fortgeschrittenes Alter. Unweigerlich fragte sich Aaron, wie oft sie das Land der Götter bereits besucht und welche Abenteuer sie dort erlebt hatte. Die ehemalige Archäologin war scheinbar noch nicht fertig: »Sie experimentieren doch nicht mit Sachen, die Sie nicht verstehen?«
Ihr Blick war auf die schaukelnde Konstruktion gerichtet, bohrend wie ein Pfeil. Als würde sie etwas anderes meinen ... was unmöglich war.
»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Aaron langsam. »Die fliegende Plattform wird ganz nach Ihrer Vorstellung oder sie sogar übertreffen. Darauf können Sie sich verlassen.«
»Sehr gut.« Die Dame nickte lächelnd. »Dann will ich Sie nicht weiter ablenken. Wenn das Konstrukt fertig ist, lassen Sie mich bitte rufen, denn ich würde mich gerne mit eigenen Augen von diesem Prachtstück überzeugen.«
Damit drehte sie sich um und ging. Das Klackern ihrer Absätze hallte durch die Halle. Ratsuchend blickte Aaron zu seinem Kumpel Lukas, der das Gespräch aus einiger Entfernung mitgehört hatte, doch dieser zeigte ihm nur einen Daumen hoch. Dass die renommierte Leiterin seinen Namen kannte, war ein gutes Zeichen. Leider fühlte es sich für Aaron nicht so an.
***
Am Abend betrachtete Aaron erneut die Skizze – sie war genial. Der junge Ingenieur erkannte ganz genau, wie die verschiedenen Stäbe und Leisten sich in solcher Harmonie zu einem stabilen Konstrukt verbanden, dass selbst die stärksten Umwelteinflüsse ihm nichts anhaben konnten. Die technischen Feinheiten wirkten trotz altertümlicher Bestandteile wie aus der Zukunft. Eine Kombination aus Leinen und Leder schmückte die Seiten, um Stabilität und Sicherheit zu gewährleisten, während im Zentrum der Maschine ein raffinierter Motor, betrieben von kanalisierter Luft und natürlich erzeugtem Druck, die Radwerke ankurbelte. Die Statik des Gerätes war so abgestimmt, dass es noch idealer durch die Luft gleiten musste als jedes Flugzeug.
Aaron konnte kaum glauben, was er da vor sich hatte. Es war eine Revolution! Ein Meisterwerk! Dieses Gerät hatte das Potenzial, die Luftfahrt für immer zu verändern – und Fliegen für jeden einzelnen Menschen ohne weiteres möglich zu machen.
Zwar war er kein Genie, was Aerodynamik anging, doch grundlegend kannte er sich aus. Und Aaron war klug genug, um zu wissen, dass das, was er vor sich hatte, eine der wertvollsten Erfindungen des Jahrhunderts war.
»Danke, wem auch immer«, murmelte er, als er abermals über den Papyrus strich. Er hatte der abgebildeten Maschine sogar schon einen Namen gegeben: Der Phönix.
Er wirkte so anmutig wie ein magischer Vogel – und so innovativ, als würde sie aus der Asche des Altertums aufsteigen und die Menschheit in ein neues Zeitalter des Fliegens führen.
Er war wie ein fliegendes Auto, nur cooler. Wie ein Flugzeug, nur flexibler. Und wie ein Heißluftballon, nur sicherer. Der Phönix war simpel und vereinte alles, was ein Mensch sich für das selbstständige Fliegen wünschen konnte: leicht zu steuern, nicht schwer zu bauen und kaum zu zerstören. Der Ingenieur wusste nicht, wer den Phönix erfunden hatte – er wusste nur, dass er den Prototypen nachbauen würde.
»Ich brauche Holz und Nägel ...« Gedankenverloren tippte er mit den Fingern auf den Tisch, da es sich unsicher anfühlte, auf so zerstörte Materialien zu setzen. Andererseits vertraute Aaron auf das Projekt. Denn wer sich so was ausgedacht hatte, der war ein Genie. Außerdem waren Holzleisten leicht ... Vielleicht würde er sie in der zweiten Runde durch Blech ersetzen können.
Die Ideen begannen bereits in seinem Kopf zu sprudeln. Aaron rückte den wackeligen Stuhl zurecht, der im Keller des Mehrfamilienhauses stand, und richtete seine Lampe. Ein Blick auf seine Handyuhr verriet ihm, dass es noch nicht spät war. Gut. Er wollte alles daran setzen, heute den unteren Teil der Grundkonstruktion zu vollenden.
Die Zeit und Welt verschwammen vor seinen Augen. Aaron skizzierte, sägte, schraubte, schüttelte den Kopf und sortierte Teile wieder auseinander. Bald stand der Plan für die Realisierung. Er wünschte, er könnte die Hieroglyphen lesen, die daneben geschrieben standen, doch die Worte des Erfinders würden wohl immer ein Geheimnis bleiben. Bestimmt hatte dieser es damals nicht geschafft, die Maschine zu bauen. Aaron würde seinen Traum vom Fliegen erfüllen.
Schweiß lief von seiner Stirn. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal etwas mit so viel Herzblut und Leidenschaft gebaut hatte – am Anfang des Studiums vielleicht, als es nicht ernst gewesen war. Damals hatte man ihn noch nicht von außen unter Druck gesetzt. Aaron stellte sich vor, wie seine Kollegen sich wundern würden, wenn er den Phönix – diese innovative Flugmaschine für jedermann – präsentieren würde, und wie die Presse und Unternehmen staunen würden ... Seinen Träumen wuchsen Flügel. Seine Visionen hoben in neue Sphären ab. Und vielleicht ...
»Au!«
Aaron zuckte zurück. Er hatte sich soeben an seiner Maschine verbrannt, obwohl diese bisher nur aus Holz und Nägeln bestand. Fassungslos blickte er auf seine Fingerkuppen, die gerötet von der Hitze zeugten. Sein Verstand weigerte sich, das zu glauben. Wo sollte denn die Wärme herkommen? Gegebenenfalls von der Reibung? Einem Splitter? Oder hatte er sich bloß an einem Nagel verletzt?
Blinzelnd blickte Aaron auf sein Handy. Es war 01:14 Uhr – er hatte komplett die Zeit vergessen. Sein Körper schmerzte von der gebückten Haltung, seine Augen tränten. Schweiß stand auf seiner Stirn. Fahrig wischte er ihn weg. Er sollte schlafen gehen. Doch ein Teil von ihm wollte nicht.
Ein kalter Windhauch zog an ihm vorbei. Aaron schauderte und blickte zur Schriftrolle, die ihn so sehr in den Bann gezogen hatte. Konnte ein einziges Projekt einen Menschen derart einnehmen? Für einen Moment bekam er Angst vor sich selbst. Der Papyrus zitterte im Wind, als würde er über ihn lachen. Ein Achhh ... und Schhh ... dröhnten durch den Raum. Phönix ... Feuer ...
Aaron blinzelte zum wiederholten Male. Erschöpft rieb er sich über die Augen. Er sollte ins Bett. Daher rollte er das Schriftstück zusammen, schloss hinter sich ab und taumelte nach oben. Er hatte heute viel erreicht.
***
Die nächsten Tage werkelte Aaron weiter an seinem Phönix. Dabei kam er erstaunlich gut voran. Nur der Motor bereitete ihm Schwierigkeiten. Zwar hatte der Erfinder diesen aus mehreren Ansichten gezeichnet, doch es war gar nicht leicht, die feinen Radwerke zu verbinden. Ständig rutschte er ab, zerbrach die Verbinder, und bald hatte er das Gefühl, der Phönix wollte sich über ihn lustig machen.
Allerdings litt die Arbeit im Museum unter dem Projekt. Wenn er arbeitete, waren seine Gedanken ständig woanders, und erst heute hatte er die Kabel der Plattform falsch angeschlossen, sodass es zu einem Kurzschluss gekommen war. Frustriert war er aus der Halle ins Büro gestürmt, um die Elektrik neu zu planen. Lukas hatte ihn zwar gefragt, ob alles in Ordnung wäre, aber er hatte abgewinkt. Sein Freund konnte bei dieser Sache absolut nichts beisteuern.
Hinzu kam, dass Aarons schlechtes Gewissen jedes Mal wuchs, wenn er Dr. Njoud sah. Er fühlte sich von ihr beobachtet – als wüsste sie ganz genau, dass er eine Schriftrolle entwendet hatte und für seine Interessen nutzte. Doch sie sprach ihn nie darauf an. Lediglich mysteriöse Worte wie »Spielen Sie nicht mit dem Feuer«, als er den elektrischen Funken nach seinem Kurzschluss auswich, oder »Manche Kunst hat die Kraft, magisch zu erscheinen«, als sie seine Plattform mit traurigem Blick betrachtete, erntete er von ihr.
Der Keller wurde zunehmend voller – und der Phönix nahm Form an. Aaron recherchierte die Hieroglyphen, fand aber nichts Nennenswertes und bereitete stattdessen mental schon einen Entwurf der Rede zur Präsentation der Flugmaschine vor.
Je weiter das Projekt voranschritt, desto euphorischer fühlte er sich. Es wurde immer mehr zu seinem Projekt. Der Phönix hatte ein Feuer der Leidenschaft in ihm entfacht. Und manchmal kam es Aaron so vor, als würde er selbst für den Phönix brennen.
***
Es war Sonntagabend als Aaron das nächste Mal das gruselige Schhh ... vernahm. Zunächst hielt er es für eine Einbildung, doch als kurz darauf erneut ein Achhh ... Ehhhlichhh ... ertönte, sprang der Ingenieur auf die Beine.
»Hallo?«, dröhnte er durch den Keller, seinen Lieblingsschraubenschlüssel in der Hand. Er hatte gerade den Körper des Phönix' vollendet, sodass dieser wie ein echter Vogel aussah, und Stolz pulsierte glühend heiß in seiner Brust. Nur noch der Antrieb fehlte. Das Hochgefühl wich jedoch sofort eisiger Kälte, als das Knacken und Stöhnen hinter ihm einen sehr realen Ton annahm. »Dies ist meine Maschine ...«
Aaron wirbelte herum. Direkt neben der Schriftrolle, wie ein schwarzer Wächter, ragte ein Schatten auf, der gnadenlos auf ihn herabstarrte. Obwohl das schwer zu deuten war, weil er keine Augen besaß. Lediglich die menschengroße Form, die von einer finsteren Robe mit Kapuze umhüllt war, konnte Aaron erkennen. Da stolperte er vor Schreck rückwärts und fiel schreiend über seinen Werkzeugkasten. Es schepperte ohrenbetäubend. In seinem Kopf klingelte es. Panisch rappelte er sich auf und robbte zurück, um der Kreatur zu entkommen – doch kein Schatten war mehr in Sicht.
Verwirrt und mit pochendem Herzen verharrte er auf dem Boden. Sein Atem ging stoßweise, seine Muskeln zitterten. Aaron fühlte, wie das verstreute Werkzeug sich hart in seinen Rücken bohrte, aber er konnte sich kaum bewegen.
Die Lampe im Keller schaukelte. Es war totenstill. Im nächsten Moment zog ein Windstoß an ihm vorbei und Aaron spürte den Atem des Schattens bedrohlich nah in seinem Nacken. »Meine Idee«, raunte die Stimme hinter ihm. »Nimm dich in Acht.«
Dann war der Wind weg und der Papyrus rollte sich von selbst zusammen. Aaron saß noch weitere Minuten regungslos auf dem Boden und starrte auf die Rolle, unfähig, nur einen klaren Gedanken zu fassen. War das real gewesen? Das konnte unmöglich sein. So was ließ sich nicht mit Wissenschaft erklären. Ein Schatten, die Stimme, der Wind...
Zitternd kam er auf die Beine und rüttelte an der Tür, aber er hatte sie gut verschlossen. Niemand hätte den Raum betreten können. Trotzdem schauderte er bei der Erinnerung an die Kreatur. Sein Blick fiel auf das Schriftstück. Er zögerte. Dann rollte er sie wieder auseinander.
Aarons Herzschlag stockte erneut. Glühende Hitze und eisige Kälte wallten durch seinen Körper. Denn auf dem Papyrus waren neue Buchstaben erschienen. Blutrote Zeichen, in einer Schrift so alt wie die Rolle selbst, formten sich zu einer neuen Botschaft, die er nicht zu entziffern vermochte und die beinahe sofort wieder verblassten. Trotzdem hatte er das Gefühl, genau zu ahnen, was dort geschrieben stand – und das war gewiss nichts Gutes.
***
»Alles in Ordnung?« Mit einem fragenden Blick und zwei dampfenden Kaffeebechern ließ Lukas sich neben ihm auf die Treppe sinken, wo Aaron gedankenverloren den Verkehr beobachtete. Es war Montag nach einem langen Tag der Arbeit, an dem er sich ausnahmsweise ausschließlich auf die schwebende Plattform konzentriert hatte. Alle anderen Gedanken hatte er sich verboten. Daher war er tatsächlich gut vorangekommen.
Dennoch entfloh ein Seufzen seinen Lippen. Der junge Mann fuhr sich durch die Haare und stützte das Kinn ab, weil seine Gedanken für einen Moment zum Phönix und der mysteriösen Schriftrolle wanderten. Es fiel ihm schwer, die richtigen Worte zu finden.
»Hast du jemals eine Sache begonnen, die du unbedingt erfolgreich vollenden wolltest, aber unterwegs bemerkt, dass sie dir über den Kopf wächst und dich verrückt macht?«, fragte er.
Sein Kumpel schwieg. Einige Atemzüge lang war nur der hupende Verkehr zu hören und Aaron zog den Duft nach frischem Kaffee ein.
»Geht es um deine Plattform?«, hakte Lukas nach.
Er war zwar intelligent, aber Aaron würde ihm nicht die Wahrheit sagen können. Darum schüttelte er bloß den Kopf und ließ die Schultern sinken. Ein Teil von ihm wollte den Phönix noch immer unbedingt bauen – nur um mit eigenen Augen zu sehen, dass diese Maschine existieren konnte. Die Idee war zu fantastisch, um sie nicht mit der Welt zu teilen. Gleichzeitig hatte er wahnsinnige Angst. Vielleicht hatte er sich den Schatten nur eingebildet, aber er hatte Bedenken, mit solch alten Mächten zu spielen. Aaron erinnerte sich an Dr. Njouds strengen Blick und das Grauen in jener Nacht im Museum, als die Rolle auf mysteriöse Weise in seiner Tasche gelandet war. Es konnte kein Zufall gewesen sein. Er fühlte sich dazu berufen, die Maschine zu bauen. Und das Schlimmste: Er fühlte sich sogar fähig. Nicht jeder Ingenieur oder Konstrukteur würde dieses Gerät realisieren können, darum war es auf seltsame Art eine befriedigende Bestätigung, das Unmögliche zu vollbringen. Ja, er verlor sich bei der Arbeit selbst – jedoch fand er sich auch neu.
»Hmm ...« Lukas hob die Augenbrauen und musterte ihn nachdenklich. »Ich weiß zwar nicht, worüber du redest, aber ich weiß, dass viele Sachen sich erstmal schwer anfühlen, bevor sie endlich leicht werden. Erinnere dich zum Beispiel an den Beginn unseres Studiums ... Oder deine ersten Präsentationen. Mann, warst du aufgeregt! Sobald du die Schwelle allerdings überwunden hattest, wurde es besser. Manchmal lohnt es sich eben, nicht aufzugeben. Und für bestimmte Sachen einzustehen, weil sich nur dadurch deine Wünsche erfüllen.«
Aaron schluckte schwer. Sein Freund hatte recht. Ohne viel zu wissen, hatte er ihm genau das gesagt, was er hören musste: dass er nicht aufgeben sollte. Sehr oft im Leben hatten sich der Aufwand und die Opfer am Ende ausgezahlt. Und dafür war er schließlich angetreten – um den Phönix zu erschaffen und einer der besten Ingenieure zu werden, die es gab.
Er glaubte nicht an Zufälle. Wenn diese Schriftrolle zu ihm gelangt war, dann würde er sich nicht aufhalten lassen – schon gar nicht von Übermüdung, Wahnvorstellungen oder lächerlichen, sprechenden Phantomen.
Der junge Mann lächelte seinem Kumpel zu. »Danke.« Er straffte die Schultern und trank eilig den Kaffee aus.
Heute Nacht hatte er eine Mission: Er würde sich seinem Schatten stellen und den Phönix vollenden.
***
Aaron atmete schwer. Schweiß stand auf seiner Stirn, aber er legte keine Pause ein. Die Räder des Motors kamen langsam zum Rollen. Bänder schliffen über die Spulen, trieben das Gerät immer stärker an. Dampf stieg auf, als er mit einem Lötkolben die letzten Teile fixierte. Es roch nach heißem Holz, Metall und Leder. Dann begannen sich die Kolben zu bewegen. Rein – und wieder raus. Der Druck baute sich mit natürlicher Leichtigkeit auf. Er erweckte die Maschine zu Leben – das erste Gefährt der Geschichte, die ohne Strom, Benzin, Feuer oder sonstigen Treibstoff fliegen würde.
Mit einem breiten Grinsen wich Aaron zurück, um sein Werk zu betrachten. Der Phönix glänzte in absoluter Pracht. Er hatte noch nie ein schöneres Gefährt gesehen. Sogar gegenüber der Skizze hatte er es verbessert. Goldene Metallstreben stabilisierten nun die Flügel, die aus hellbraunem Leder geschwungen waren. Bronzefarbene Vorrichtungen ergänzten Gepäck- und Getränkehalter. Auch Gurte hatte er eingebaut, für die Sicherheit.
Die Flügel begannen zart zu vibrieren. Je länger er schaute, desto geschmeidiger wurde es und desto stolzer fühlte sich Aaron. Er hatte es geschafft! Der Phönix lebte!
Dieses Gefährt würde ihr Fortbewegungssystem für immer revolutionieren – denn heute Nacht erwachte seine meisterhafte Maschine zum Leben.
Die Augen des Phönix' begannen rot zu glühen. Aaron lachte. Er fühlte sich wie ein kleines Kind an Weihnachten und seinem Geburtstag, dem alle Wünsche gleichzeitig erfüllt wurden. Er war ein Genie! Glühende Vorfreude gepaart mit brennendem Stolz erfasste ihn, während er grinsend und strahlend um sein Wunderwerk eilte.
»Fliege um die ganze Welt!«, jubelte er begeistert. Er riss die Hände hoch und schnappte sich seinen Schraubenschlüssel. Die Flugprobe stand zwar noch aus, aber Aaron wusste bereits, dass es funktionieren würde. Er sah es. Er spürte es. Nichts würde ihn aufhalten. Keine Schriftrolle und auch nicht der Schatten, der nun erneut in der Ecke stand und ihn mit starrem Blick beobachtete.
»Ha, das hast du nun davon!« Aaron fixierte die Gestalt mit zusammengekniffen Augen und richtete das Werkzeug auf sie. »Ich weiß genau, wer du bist. Du bist nur meine Angst, die sich meinem völlig übermüdeten und erschöpften Verstand zeigt, um mich davon abzuhalten, mein Potenzial zu entfalten. Aber du bist nicht real!«
Er taumelte nach vorne und fragte sich einen Moment lang tatsächlich, wie spät es war. Ein Blick auf die Uhr genügte. War er jetzt wirklich seit über vierzig Stunden wach? Dabei fühlte er sich so lebendig. Nur leicht erschöpft ... Doch das hinderte ihn nicht daran, sein Arbeitsmittel ungelenk nach dem lästigen Gast zu werfen.
Das Werkzeug flog durch das Phantom hindurch – der Beweis, dass er irreal war. Trotzdem wirkte der Schatten mehr als echt, als ein eisiger Windzug durch den Keller rauschte, Späne und Staub aufwirbelte und das schwarze Gesicht plötzlich Millimeter vor ihm schwebte.
»Nimm. Dich. In. Acht«, knurrte die Gestalt, die ein Mann sein musste. Aaron war viel zu entkräftet und übermüdet, um echte Angst zu empfinden. Fühlte sich Wahnsinn so an? Aber es war ihm egal, denn er hatte seinen Phönix heute vollendet.
»Wovor?«, japste er deshalb und schwankte zu seiner Maschine, die im Licht der Lampe glühte. Sie war angenehm warm in der eisigen Kälte, die den Raum erfüllte. Auch der Schatten rauschte um das Gefährt, das immer schneller arbeitete, und grollte. Dann zischte er plötzlich und zog sich zurück, als hätte er sich verbrannt.
»Meine Erfindung ...«, raunte er in einem Tonfall, der
Aaron das Blut in den Adern gefrieren ließ. »Gefährlich.«
Er verschwand einen Augenblick, im nächsten war er wieder da, Mal rechts, mal links, direkt vor ihm ... Aaron begann, der Kopf zu schwirren. Er taumelte zurück und stolperte beinahe über seine Füße, da begann die Maschine ebenfalls laut zu brummen und zu stottern. Dampf zischte aus dem Motor, an dem er mit feinen Anpassungen das System optimiert hatte. Der Ingenieur schlug die Hände zusammen.
»Aufhören!«, rief er verzweifelt. Der Schatten schüttelte bloß das Haupt. Eine einzelne Schraube schoss mit einem Plopp durch den Raum, dann folgte eine zweite. Sekunden später quoll Rauch aus dem Phönix. So als würde er nicht aus der Asche aufsteigen, sondern selbst verbrennen.
»Meine Idee ...«, murmelte der Schatten. »Doch dein Werk und dein Schaden. Brenne.« Er verschwand. Flammen züngelten aus dem Phönix empor und erfüllten den Raum mit glühender Hitze. Aaron stürzte panisch zur geschlossenen Tür. Das Feuer im Keller trieb ihn an, mit aller Kraft am Knauf zu rütteln, aber sie klemmte. Erschrocken wirbelte er herum. Sein Meisterwerk zerstörte sich von selbst. Dabei hätte er der Größte sein können.
»NEIN!« Aaron rannte zum Phönix, um wenigstens die Schriftrolle zu retten. Vor seinen Augen verschwamm alles. Seine Lunge brannte. Der Phönix kreischte wild auf und drehte das Haupt. Dann stand der Schatten wieder vor ihm – mit einem Blick, der von ihm selbst stammte. Aaron hatte das Gefühl, er blickte in seine eigene Seele. Und er verstand, dass er sich mit diesem Projekt bei Weitem übernommen hatte.
»Nein«, flüsterte er erneut, als der Schatten die Augen schloss. Da wurde auch vor seinen alles schwarz und er versank zwischen den brennenden Überresten seiner wahnsinnigen Träume.
***
»Aaron! Aaron!«
Der junge Mann riss die Augen auf. Staub brannte in seiner Nase und Schweiß stand auf seiner Stirn. Er fühlte sich, als wäre er von einem Flugzeug und einer Feuerwalze gleichzeitig überrollt worden. Stöhnend richtete er sich auf und blinzelte gegen das gedimmte Licht, das den Keller erfüllte. Keine Flammen waren mehr zu sehen. Kein Rauch und kein Ruß – als ob es nie gebrannt hätte. Selbst der Papyrus lag unberührt neben seiner fast fertigen Maschine. Dann blieb sein Blick an der Gestalt vor ihm hängen und sein Verstand klärte sich.
»Lukas?«
»Du warst ohnmächtig.« Sein Freund musterte ihn besorgt. Neben seinen Alltagsklamotten trug er sein Handy bei sich, auf dessen Bildschirm er die Uhrzeit sehen konnte. Der Morgen war längst angebrochen. Kein Wunder, dass er sich wie erschlagen fühlte.
Aaron rieb sich über die Stirn. »Was ist passiert?«, murmelte er. Der Phönix musterte ihn aus leblosen Augen. Doch er war nicht tot, ebenso wenig wie er lebendig oder verbrannt war, wie in seinem Fiebertraum.
Lukas betrachtete ihn lange. »Ich weiß es nicht. Nach unserem Gespräch gestern habe ich mir Gedanken gemacht. Doch du hast auf keinen meiner Anrufe reagiert. Also bin ich heute früh los und wollte nach dem Rechten sehen. Ich vermute, du bist gestürzt«, erklärte er. »Was hast du hier gebaut?«
Aaron seufzte. Ihre Blicke wanderten beide zur fast fertigen Maschine, die mit ihrer einzigartigen Konstruktion aussah, als wäre sie dem Altertum und der Zukunft zugleich entsprungen.
»Gearbeitet.«
»Ein weiteres Projekt für das Museum?«
»So ähnlich.« Er senkte den Kopf. »Was ist mit dem Feuer?«
Er konnte keine Brandspuren erkennen. Auch sein Körper wirkte unversehrt, bis auf den Schreck und die Erschöpfungssymptome, die sich nun immer deutlicher zeigten, je mehr er realisierte, dass er versagt hatte.
Oder – vielleicht hatte er nicht versagt. Kurz vor seinem Blackout hatte er erkannt, dass ein Teil von ihm danach strebte, der Beste zu sein und dass er sehr talentiert war. Vielleicht konnte er dieses Talent stattdessen lieber in anderen Projekten verwirklichen.
»Feuer?« Lukas runzelte die Stirn. »Hier war nichts. Aber Aaron, ich denke, du solltest dich ausruhen. Du wirktest schon seit letzter Woche viel zu angespannt. Kein Projekt der Welt ist mehr wert als deine Gesundheit.«
Vorsichtig half er ihm auf. Aaron sah ihm an, dass er mehr über das glänzende Gefährt im Raum wissen wollte, doch seine Sorge ging in diesem Moment für ihn vor. Die Erklärung hatte Zeit. Dennoch blickte der Ingenieur zur Schriftrolle.
»Ich ruhe mich aus«, versprach er leise. »Nur eines muss ich vorher noch erledigen.«
***
Dr. Njoud schlürfte genüsslich ihren Tee, als Aaron ihr Büro im Museum betrat. Es war 6:00 Uhr und die alten Hallen schienen völlig verlassen – was gut für das Geständnis war, das er vorhatte.
»Guten Morgen«, meinte sie und stellte ihre Tasse klirrend ab. »Sie sind früh. Geht es schon mit der fliegenden
Plattform weiter?«
Aaron schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe etwas anderes für Sie.« Nervös zog er die Lederrolle hervor und platzierte sie zwischen ihnen. »Ich habe sie versehentlich mitgenommen und das tut mir außerordentlich leid. Ihr Platz ist hier.«
Die Dame betrachtete das Relikt über ihre Brille hinweg. »Ah, eine Schrift der alten Zeit. Wie interessant. Haben Sie mal einen Blick hinein geworfen? Solche Macht kann sehr verführerisch sein.«
Aaron nickte. »Ja. Leider zu verführerisch. Aber Sie kennen sich damit aus, oder?«
Dr. Njoud schmunzelte. »Vielleicht. Ich habe viele Geschichten gehört. Und manchmal ist es besser, den Dingen ihren Lauf zu lassen, bis sich ihr Erfolg oder Misserfolg von selbst entfaltet. Anstatt sich einzumischen und das Weben des Schicksals zu zerstören. So ist es von den Göttern gewollt.« Sie rollte den Papyrus auf und betrachtete fasziniert die Skizzen. »Haben Sie denn Erfolg gehabt?« Aaron zögerte. Er dachte an den halbfertigen Phönix, den er nun wohl nie vollenden würde, und fragte sich, ob er wirklich gescheitert war.
»Ich hatte Erfolg auf eine andere Weise als gedacht«, stellte er fest und beschloss in diesem Augenblick, seine Erfindungen und Konstruktionen immer für die Welt, niemals aber nur für den eigenen Ruhm zu bauen. Denn das machte wahrlich erfolgreiche Ingenieure aus.
Die Leiterin lächelte. »Dann hatte es doch einen Zweck. Was halten Sie davon, wenn wir die Schriftrolle aufarbeiten und eine Ecke entfernen – und sie anschließend unter der schwebenden Amphore ausstellen? Da fällt mir ein ... Ein Modell von diesem fantastischen Phönix wäre fabelhaft. Sie hätten nicht zufällig Interesse, eines für mich zu bauen?«
Bei ihrem Zwinkern schlich sich ebenfalls ein Lächeln auf Aarons Gesicht. »Liebend gern«, versprach er. »Aber es wird eben nur ein Modell.«
»Das will ich hoffen. Manche Erfindungen revolutionieren nämlich erst die Welt, wenn sie dafür bereit ist.«
Mit diesen Worten stand Dr. Njoud auf, riss eine Ecke des Papyrus ab, sodass niemand jemals den Motor nachbauen könnte, und verschwand im Museum. Aaron lehnte sich zurück und betrachtete seine schwebende Plattform von Weitem.
Ab jetzt würde er ein guter Ingenieur sein. Er war froh, die Schriftrolle los zu sein. Denn nun würde er Dinge für Menschen konstruieren, die sie noch nie gesehen hatten – und sich auf ewig von altertümlichen Mächten fernhalten.
Von: Tintenzauberin
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