Das große graue Monster (@stilusstory)

Pennsylvania, 1927

Zwei sonnengebräunte Hände griffen sich dickbäuchige Glasflaschen an den schlanken Hälsen. Sie standen sauber aufgereiht an der Wand aus Ziegelsteinen, direkt unter dem länglichen Fenster, das mit einem Stück dunkel geblümten Stoff zugehängt war. Als oben im Haus eine Diele knarzte, spannten sich die kräftigen Unterarme einen Moment lang an, warteten die Stille ab und machten weiter. Es war eine inzwischen alte, fast lieb gewonnene Routine geworden, Nacht für Nacht. Wenn der Mond am Himmel erschien und die Kinder den Schlaf der Gerechten schliefen, dann lief die Schnapsbrennerei auf Hochtouren.

Seit 1919 war der Handel mit Alkohol so verboten wie folglich sein Konsum. Im Grunde schierer Irrsinn, wenn man betrachtete, was das flüssige Feuer für viele bedeutete. Für die Geschundenen war es ein Kuss für die Seele, obwohl am Tag danach an der Stelle ein Brandmal prangte. Vielleicht doch eher ein Geschenk des Teufels, wenn man andere Leute fragte. Der Sheriff kam schon lange nicht mehr damit hinterher, den Handel zu verfolgen und die illegalen Destillen stillzulegen, geschweige denn die ganzen sündigen Schwarzbrenner vor Gericht zu stellen. Gut für die, die den Moonshine, den nächtlich gebrannten Schnaps, herstellten und verkauften.

Sinn dieses landesweiten Alkoholverbots, der Prohibition, war es gewesen, den Konsum einzuschränken. Und sicher, ja, die Idee mochte gut gewesen sein. Das hätte wahrscheinlich auch Ambers Vater abgesegnet, der im Dachstock seines Elternhauses dank einer Leberzirrhose von innen heraus aufgefressen wurde. Oder ihr eigener Ehemann, der zwei Meter unter der Erde lag, weil er durch eine Methanolvergiftung von billigem Fusel erst seine Sehkraft und kurz danach sein Leben verloren hatte. Ja, sicher doch, der Grundgedanke war gar nicht so falsch gewesen. Aber wenn eines noch sicherer war, dann das: Wenn man den Menschen etwas verbot, dann machte es das nur noch interessanter. Und seit die Herstellung und der Verkauf von Alkohol unter Strafe standen, hatte Amber das Gefühl, dass eher mehr getrunken wurde. Deutlich mehr.

Sie band sich die hellen Haare zusammen, denn jetzt wurde gebrannt. Sie zog den Eimer mit der vorbereiteten Maische heran, ein Sumpf aus gärendem Mais. Das alte Hemd von ihrem lieben Dad zog sie immer an, sobald sie den Keller betrat, danach streifte sie es sich ab und stopfte es unter die lose Holzstufe, die zweite von oben. Zwei von zwölf Treppen, sie war sie oft genug rauf und runter gelaufen, sie könnte sie sogar im Dunkeln rückwärts im Vollrausch hinabsteigen. Wenn sie trinken würde. Mancher würde sagen, sie hätte doch allen Grund dazu. Aber nein. Sobald sie die weiß gestrichene Holztür zum Keller öffnete und ans Tageslicht trat, sollte jede Spur von Alkohol von ihr weichen.

Die Angst saß der jungen Frau ständig im Nacken. Niemand führte Kontrollen durch, denn der Sheriff hatte einfach nicht die Kapazitäten, um das ganze County zu durchleuchten. Auf seinen Hilfssheriff Deputy Brown war auch nicht mehr Verlass; wenn man den Gerüchten glauben wollte, hatte der sich einer der beschlagnahmten Destillen zum Eigengebrauch angenommen. Was allerdings nicht heißen sollte, dass gar nichts passierte. Wenn jemand hochgenommen wurde, dann deswegen, weil ein Vögelchen gesungen hatte. Man hielt sich besser bedeckt. Und eine Amber Knox war clever genug, genau das zu tun. Die kluge Lady verkaufte nur an vertrauenswürdige Kunden. Aber was, wenn ein kleiner Spatz doch auf der Hand von Sheriff Wilson landete und ihm ein Liedchen sang? Was dann? Amber dachte an ihre Kinder und wollte am liebsten heulen.

Wenn sie ehrlich war, saß sie wie ein Fuchs in der Falle. Und sie tat das Beste, das sie tun konnte. Ihr Vater war ein eifriger Trinker gewesen, eine Schnapsdrossel, die sich mehrmals in der Kneipe am Stadtrand verzockt hatte, öfters fast im Vogelbecken des Lebens ertrunken wäre. Sie hatte nichts von ihm. Falls sie über ein Vermächtnis ihres Dads froh war, dann war es der große kupferne Brennkessel unter ihrem Elternhaus. Rotgold schimmernd hieß er sie jede Nacht willkommen, in der sie ihn aufs Neue anheizte und ihre Seele ein weiteres Mal mit Kieselsteinen belud. Schuld. Sie hatte Schuld, wenn wieder jemand in Pennsylvania den inneren Kampf gegen den Alkohol verlor. So wie ihr Vater. Sie hätte es sich anders gewünscht, doch das war, was sie bekommen hatte. Und nun ließ sie andere Familien ins offene Messer rennen. Andere Kinder von anderen Dads würden dasselbe erleben wie sie.

»Mom?« Es kam von oben, leise und gedämpft durch die Holztür, eine kleine Jungenstimme. Henry Junior, ihr Ältester, ein Spiegelbild ihrer selbst, obwohl er den Namen seines Vaters trug. Amber legte die Flaschen vorsichtig zurück. Sie musste wie eine Katze schnell und leise zugleich sein, das war schwer, aber sie hatte Übung darin. Mit fliegenden Schritten war sie am oberen Ende der Treppe und streifte sich das Hemd ab. Darunter trug sie ein weißes Baumwollkleid, ihr Nachthemd.

***

»Was machst du hier unten?«, fragte Mom etwas schroffer als nötig. Henry machte ein schuldbewusstes Gesicht und strafte sie für die rauen Töne ab. Und sie schmolz.

»Ich wollte nur ... ich ... ich kann nicht einschlafen ...«, murmelte er verlegen. Ja, er war neun Jahre alt, also eigentlich schon ein großer Junge ... ein relativ großer Junge ... naja, zumindest größer als James und Daisy. Manchmal hatte Henry das Gefühl, als würde er in einem anderen Jetzt leben als seine beiden jüngeren Geschwister. Sie schliefen oben ruhig und friedlich in ihren Betten. Ihre einzige Sorge war, wer den größeren Nachtisch bekam. Währenddessen war der älteste der Knox-Kinder bereits in dem Stadium angekommen, in dem man nachts auch mal wach lag und die Gedanken über ein Thema kreisten, das einem ein Gefühl verursachte, das dunkler war als Nachtisch-Sorgen. Die waren etwas für Kinder. Das, was Henry da spürte, war fast ein bisschen so etwas wie Erwachsenen-Sorgen.

»Hör mal, du weißt doch, dass Mom dich lieb hat. Dich und James und Daisy. Und auch Grandpa. Okay?«

Henry hatte den Mund leicht geöffnet, wollte Ja sagen, nickte aber nur. Er hatte sich auf dieses Gespräch vorbereitet, denn da war etwas, das er ansprechen wollte. In seinem Kopf hatte er es sich schon zurechtgelegt, ... und auch, was Mom antworten könnte. Doch dann räusperte er sich und sagte mit seiner leisen Stimme: »Ich weiß, was dich so belastet. Grandpa geht es nicht gut. Ich habe mitgehört, als Doktor Harold hier war.«

Einen Moment lang hatte Henry das Gefühl, als ob seine Mutter ihn durchschaut hätte. Aber als er ihr in die Augen sah, erkannte er, dass sie einfach viel zu müde war, um das zu hinterfragen, was ihr Sohn ihr aufgetischt hatte. Ganz weit weg von der Realität war es nicht, aber einige Meilen von der Wahrheit entfernt. Irgendwie fühlte es sich nicht richtig an, das Gespräch jetzt, hier, heute zu führen. Vor der Kellertür, mitten in der Nacht. Henry hatte etwas gesehen, was ihm nicht mehr aus dem Kopf ging, doch es schien, als müsste er noch ein Weilchen damit leben. Zumindest so lange, bis der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war, es anzusprechen.

»Ist das der Grund, warum du nicht schlafen kannst? Du sorgst dich um Grandpa?«, hakte Mom nach und rieb sich die Augen.

»Ja ...«

»Geh ins Bett, Henry. Morgen ist ein neuer Tag«, sagte sie und bemühte sich um ein Lächeln.

»Heute. Heute ist ein neuer Tag. Es ist bald eins, Mom.«

»Gut, ja, heute. Und jetzt ab nach oben.«

***

Als Henrys Zimmertür sich mit einem leisen Quietschen schloss, wartete Amber einen Moment lang in der glänzenden Dunkelheit, durch die der Mondschein floss wie Quecksilber. Dann öffnete sie die Kellertür und huschte hinunter. Sie war noch nicht fertig. Hoffentlich würde Henry schlafen und sie nicht suchen. Nicht hier unten. Die Kinder durften nicht in den Keller. Besser gesagt: sie wollten gar nicht. Amber hatte ihnen von dem Monster erzählt, das hier unten wohnte. Erwachsenen tat es nichts, weil die zu zäh zum Kauen waren, aber wenn ein Kind auch nur einen Fuß auf die oberste Treppenstufe setzen würde, käme es angestürzt – groß, grau und voll verfilztem Fell. Das Märchen mochte gemein sein, allerdings es war auf alle Fälle wirkungsvoll. Keiner der drei Kleinen hatte die Hand auf den Türgriff gelegt.

Als Amber die erste Stufe herunter schritt, überkam sie auf einmal ein dunkles Gefühl. Für eine Sekunde hatte sie die irrationale Befürchtung, das graue Monster würde tatsächlich da unten warten, im Schatten der Treppe, hungrig und wütend. Was für ein Unsinn. Der Brennkessel blubberte vor sich hin und verströmte eine wohlige Wärme. Doch je näher sie ihm kam, desto mehr fühlte es sich an wie die teuflische Hitze der Hölle. Die Müdigkeit schürfte den Wahnsinn in Ambers Verstand, warum sonst wäre ihr dieser absurde Gedanke gekommen?

Was sie tat, war nicht gut, klar. Aber sie konnte nicht behaupten, dass es durch und durch falsch war. Ihr Moonshine hatte eine gute Qualität und raubte niemandem das Augenlicht. Wenn die Leute schon tranken, dann etwas, das sie nicht unter die Erde brachte. Bis der Moonshine fertig war, würde Amber die Zeit nutzen und ein wenig aufräumen. Die benutzten Flaschen wollten noch ausgekocht werden. Eine klemmte sie sich mit dem Unterarm an den Körper, zwei nahm sie in eine Hand. Das funktionierte sonst immer, aber heute nicht. Heute war der Wurm drin. Sie zerplatzte am Boden und die glitzernden Splitter flogen überall hin.

»Auch das noch ...«, seufzte sie und suchte den zerzausten Besen. Unter der Treppenstufe stand er, genau da, wo das graue Monster lauerte. Direkt neben dem alten Gewehr ihres Vaters, das möglicherweise noch geladen war. Amber hatte es nie nachgeprüft, denn sie war die einzige Person, die überhaupt den Keller betrat. Das Monster hielt alle von hier fern. Heute war es nicht da. Vielleicht befand es sich im Außendienst, zusammen mit Sheriff Wilson und Deputy Brown. Oder es fraß ungehorsame Moonshiner, wer wusste das schon ...

Als sie mit einem zynischen Lächeln auf den Lippen die Splitter zusammenfegte, fiel ihr auf, dass einer der rötlichen Backsteine, aus dem das Fundament des Hauses gepuzzelt war, locker saß. Sie wollte ihn zurückschieben, doch dahinter leistete etwas Widerstand. Das konnte nicht sein. Der Stein gehörte dorthin, genau an diese Stelle. Dort hatte er immer gesteckt, zwischen seinen Brüdern, und hatte die Stabilität des Hauses gewährleistet, das ihr Urgroßvater mit seinen eigenen Händen gebaut hatte. Irgendetwas musste sich dort versteckt haben und vielleicht sogar verendet sein, anders konnte sie es sich nicht erklären.

Wenn jetzt auch noch eine tote Ratte dahinter lag ... Amber fegte die Glassplitter zusammen und ging auf die Knie. Sie zog den Stein heraus, wobei etwas alter Mörtel bröckelte. Es war zu dunkel, als dass sie sehen konnte, was sich in der Wand befand. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Sie verzog das Gesicht und streckte widerwillig ihre Hand aus. Sie tastete vorsichtig nach links und rechts und merkte, dass der Hohlraum viel größer war als angenommen. Als ihre Finger etwas Weiches erfühlten, wollte sie reflexartig die Hand zurückziehen, widerstand dem Drang jedoch, denn das Etwas da in der Dunkelheit hatte wenigstens kein Fell. Also schon einmal keine Ratte ... und kein graues Monster. Ein Glück.

Sie umfasste den Gegenstand und er wehrte sich nicht dagegen. Etwas Lebloses. Es war schlank und rau, aber doch irgendwie weich in seiner Beschaffenheit und es gab ein wenig nach. Als die junge Mutter es herauszog, staunte sie nicht schlecht. Es handelte sich um eine Rolle aus einer Art dickem Papier. Amber streifte den Faden ab, der sie zusammenhielt und rollte sie auf. Es waren Zeichnungen darauf, Tiere und Pflanzen, dazwischen Schriftzeichen aus Linien, Wellen und Kreisen, alle sauber geordnet wie in Zeilen in einem Buch. So eine Schrift hatte sie noch nie gesehen. Mit ihren paar Klassen in der Dorfschule, wo Kinder jeden Alters zusammen in einem Raum unterrichtet worden waren, hatte sie auch keine überragende Kompetenz, was das Lesen und Schreiben anging. Es reichte für den Alltag, nicht mehr und nicht weniger. Aber das hier? Das waren keine normalen Buchstaben. Das war ... unlesbar. Vielleicht eine Art geheimer Code? Wie sollte sie ihn entziffern? Oder spielte ihr nur ihre Wahrnehmung einen fiesen Streich und machte sich über ihr müdes Hirn lustig?

Verdammt, es war doch schon weit nach Mitternacht ...

Sachte strich sie mit den Fingern über die gemalten Zeichen, wobei ihr auffiel, dass das Material durch die Schriftzeichen eine reliefartige Struktur hatte. An manchen Stellen erhob es sich, an anderen war es eingedrückt, wie bei einem Papier, wenn man mit dem Stift zu fest gedrückt hatte und die Buchstaben sich auf das darunter liegende Blatt abstempelten. Sie schloss die Augen und auf einmal konnte sie die Informationen sehen. Oder mehr fühlen? Sie sah gar keine Buchstaben, aber hatte das Gefühl, wirklich zu verstehen, was auf dieser Rolle geschrieben stand. Neben diese wunderschöne, klare Eingebung gesellte sich jedoch schleichend etwas anderes. Dunkel und von ganz tief unten, noch tiefer als der Kellerboden, auf dem Amber stand. Als würde ein schwarzer Feuerstrahl durch den Erdkern in ihr Herz dringen. Eines der pursten Gefühle, die ein Mensch spüren konnte, unverfälscht, unverwässert, giftig wie pures Methanol. Hass in Reinform. Hass in seinem prächtigsten nachtschwarzen Gewand.

Hass auf wen und warum? Amber begriff von Sekunde zu Sekunde immer mehr, als würde sie aus einem Alkoholrausch aufwachen. Und ihr Kopf tat weh, ein übler Kater. Also: Hass auf wen? Als würde eine in schwarze Tinte getränkte Feder über eine Leinwand kratzen, zeichnete sich das Gesicht eines Verräters in ihren Verstand. Ein runder Kreis mit einem Knoten in der Mitte. Zwei weit auseinanderliegende Punkte zu beiden Seiten davon. Hier kannte man seine Nachbarn, ein langes Nachdenken blieb ihr erspart. Angus Butler züchtete Rinder, die so mager waren, dass eine heranrauschende Windhexe sie umstoßen könnte. Sie wunderte sich immer, dass sie vom Wind nicht von der Weide geblasen wurden. Er war eine arme Seele, die von seiner Frau verlassen worden war. Gewissermaßen teilten er und Amber sich dasselbe Schicksal. Das machte ihn aber noch lange nicht sympathisch, denn schließlich hatte Angus geglaubt, in seinem Vorgarten nach Ersatz für seine Verflossene zu suchen.

Kurz gesagt: Der Bär von einem Mann hatte seine Hände nicht bei sich behalten können, sodass Amber ihm selbige beinahe gebrochen hatte. Wobei das schon grob untertrieben war. Er hatte die junge Mutter von drei kleinen Kindern unter einem Vorwand in seine Scheune locken wollen, in eine ruhige, von Spinnweben benetzte Ecke. Als es mit Worten nicht funktioniert hatte, waren es Taten gewesen, die er hatte sprechen lassen. Dabei hatte er die Kraft einer Frau unterschätzt, die den lieben langen Tag nichts tat als zu arbeiten, in der Fabrik und auf dem Feld. Bei dem Gedanken an ihren Nachbarn grauste es Amber. War das also der Grund? Würde er sie deshalb an den Sheriff verraten, weil er sich in seinem Stolz verletzt fühlte?

Morgen würde es so weit sein. Am frühen Dienstagmorgen würde der Sheriff unten an ihrer Tür stehen. Er würde nett grüßen, dabei würden seine kristallklaren Augen in ihr Hirn dringen und ihre Hände würden zittern, denn oben lag doch Daisy in ihrem Bettchen. Henry Junior und James würden in der Schule sein. Dann würde Wilson einen kleinen Blick in den Keller werfen wollen. Ganz unverbindlich natürlich und wer würde es ihm verwehren können? Wer, der nicht eine blütenweiße Weste und absolut nichts zu verbergen hatte, würde das tun? O ja, dann würde das Beste kommen, denn das kam immer erst zum Schluss. Der formschöne rotgoldene Brennkessel mit munter blubberndem Moonshine. Hach! Sheriff Wilson würde die Hände über dem kahlen Schädel zusammenschlagen! Was für ein schöner Fund ... Kaltes Grauen erfasste Amber von innen heraus, doch über ihren Mund zog sich ein gelassenes, entrücktes Lächeln. Ein Fund ... den der Sheriff nicht machen würde. Weil Angus ihm nichts verraten würde. Weil Angus nicht mehr dazu in der Lage sein würde ...

Der Vorlauf von Ambers Moonshine, der in einen metallenen Fingergut rann, zog sie auf einmal magisch an. Es war das Zeug, das als Erstes herauskam, sobald man die Destille betätigte, um aus der gärenden Maische etwas Trinkbares zu zaubern. Der Teil des Brennproduktes, den man eben nicht trinken sollte, wenn einem sein Leben lieb war. Hoch konzentriert, sodass es giftig war. Doch das sah man ihm nicht an. Es war durchsichtiger Schnaps, auf den ersten Blick. Sie hielt sich den Fingerhut mit dem Vorlauf unter die Nase und sog den starken Duft ein. Es fühlte sich an, als würde eine Stichflamme durch ihre Schädeldecke brechen. Sie wusste, was zu tun war.

Am nächsten Tag weckte nicht das Licht der Sonne Amber auf, sondern das Gegenteil, die Dunkelheit. Es war vier Uhr, das bedeutete, sie hatte nur knappe drei Stunden geschlafen. Es war Sommer und wenn sie wie immer um kurz nach fünf Uhr aufstand, krochen die ersten scheuen Sonnenstrahlen durch das Fenster in ihr Zimmer und wälzten sich auf ihr Ehebett. Heute nicht, denn Amber war vor der Sonne wach. Was sie viel mehr wunderte, war die Tatsache, dass sie in ihrem Bett lag. Sie konnte sich nicht daran erinnern, wie sie hierher gekommen war. Sie trug ihr Schlafhemd und hatte sogar ihre Haare zu einem Zopf geflochten. Ihre letzte Erinnerung brachte sie in den Keller zurück, wo sie eine Schriftrolle entdeckt hatte, und sie erinnerte sich auch verschwommen an ein tiefes, dunkles Gefühl.

Sie warf sich auf die andere Seite und dabei stieß sie mit der Hand auf etwas, das zugleich weich und nachgiebig und doch irgendwie rau und fest war. Mit einem Sprung war sie aus dem Bett, ihr Herz pumpte. Sorgsam eingerollt lag die Rolle auf dem seit Jahren leeren Kissen neben ihr. Als hätte es Henrys Platz eingenommen ... Plötzlich war da wieder diese Wut, dieses Mal war sie gegen die Schriftrolle gerichtet. Zornig griff sie nach ihr, um sie vom Platz ihres Mannes zu entfernen und von sich zu schleudern. Kaum hatte ihre Hand das Material berührt, war es, als würde es an ihren Fingern kleben. Als würde es sich an ihr festsaugen wie ein Blutegel. Was aber schlimmer war: Amber kam es so vor, als würde die Rolle leben, warm und pulsierend. Und irgendwie widerstrebte es ihr, sie auch nur zu fest anzupacken. Stattdessen überfiel sie der Drang, noch einmal nachzulesen, was darin stand. Die überwältigende Gewissheit, dass die wunderschönen und formvollendeten Symbole auf dem Papier sie heilen würden, erfüllten ihren Verstand. Sie konnte nicht anders und sie wollte sich auch nicht mehr dagegen wehren.

Vorsichtig öffnete sie die Schrift und fuhr mit dem Finger über die Zeichen. Sie schienen noch tiefer in das Material gedrückt zu sein, als es gestern der Fall gewesen war. Fast so, als seien sie eingeprägt worden. Sie schloss die Augen und fuhr eine sanfte Rundung wie ein umgedrehtes U nach, die sich in das dicke Papier gegraben hatte. Der Keller, so lautete die Bedeutung dieses Zeichens und es war gleichzeitig eine Anweisung. Eine Anleitung, der sie folgen musste. Leise öffnete sie die Tür ihres Schlafzimmers und schlich an dem Raum vorbei, in dem ihre Kinder noch schliefen. Für gewöhnlich gab sie immer ein klagendes Quietschen von sich, aber heute schwang sie auf, als sei sie frisch geölt worden. Auch sonst war es still im ganzen Haus. Die Treppe schwebte Amber beinahe schwerelos hinab. Sie warf einen kurzen Blick in die Küche und wandte sich dann zu der Tür in den Keller. Die leichte Holztür kam ihr dunkler vor als sonst, aber nicht etwa, weil der neue Tag noch gar nicht angebrochen war. Sie fühlte es mehr, als dass sie es mit den Augen wahrnehmen konnte.

Plötzlich war es, als würde etwas in ihr aufbrechen wie eine Flasche, die unter zu hohem Druck gestanden hatte. Was, wenn sie das große graue Monster war? Das Ungetüm, das im Schatten unter der Treppe lebte und sich von der Dunkelheit ernährte? Sie fühlte sich schlecht, weil sie dabei war, etwas Schlechtes zu tun. Auf einmal wurde die Rolle in ihrer Hand wärmer, geradezu heiß, und Amber verstand den Wink. Sie stieg die Stufen hinab in die Finsternis. Heute brauchte sie kein Licht, denn sie konnte alles genau erkennen. Mit jeder Stufe, die sie runter ging, wurde sie sich ihrer Sache noch sicherer. Doch als sie ganz unten war, traf sie eine Erkenntnis: Wenn das graue Monster sie bis jetzt nicht gefressen hatte, dann war sie es wohl selbst.

***

Henry Junior dachte nach. Das tat er gerne und oft, denn es gab vieles, worüber man nachdenken konnte. Ganz besonders gut zum Nachdenken eignete sich sein zwei Meilen langer Schulweg. Wenn der kleine Mann nachdachte, dann vergaß er dabei manchmal sogar die schwere Tasche auf seinem Rücken, die ihn mit ihrem Gewicht in den trockenen Boden drücken wollte. Es war noch früh am Morgen, zu früh, um aufzustehen, und so hing Henry seinen Kleiner-Junge-Problemen nach. Normalerweise waren die Themen, die ihn beschäftigten, solche wie Grandpa und dessen Gesundheitszustand oder auch Davie Morris, der ihm vor der Schule immer den letzten Penny abzog. Heute war es Mom. Sie war komisch gewesen, schon in der Nacht, als Henry zu ihr gekommen war, weil er nicht hatte schlafen können. Sie war im Keller gewesen, wie so oft.

Obwohl Henry Junior noch so jung war, hatte er sehr wohl eine Vorstellung davon, was Mom dort unten machte. Und nein, sie lieferte sich dort sicher keine Ringkämpfe mit dem grauen Monster. Es gab kein graues Monster. Nur einen kupfernen Brennkessel, der tagsüber nie in Betrieb genommen wurde, der aber trotzdem nicht so aussah, als hätte man ihn ewig nicht mehr angerührt. Henry Junior war kein Dummerchen und ein Angsthase war er auch nicht. Natürlich hatte er sich in den Keller getraut und natürlich hatte er gesehen, was sich dort unten befand. Er hatte sich selbst beweisen wollen, dass er kein ängstliches Häschen war. Zugegeben: Er hatte sich damals fast in die Hose gemacht, als er den Fuß auf die erste Stufe von oben gesetzt hatte. Mann, Mann, er hatte beinahe einen Rückzieher machen wollen. Aber nix da, wenn Mom schon nicht im Haus gewesen war, hatte er das ausnutzen müssen.

Diese Erfahrung hatte ihn eines gelehrt: Manchmal war das, was man fürchtete, gar nicht so schlimm. Manchmal stellte sich heraus, dass das, was andere Leute einem als furchterregend ausmalten, nichts war als ein alter, muffiger Keller, in dem ein Kupferkessel stand und eine ausgediente Flinte ihren Ruhestand fristete. Und manchmal zeigte sich, dass es gar kein großes graues Monster mit verfilztem Fell gab. Aber andersherum musste man manchmal erkennen, dass das, was so harmlos aussehen mochte, in Wahrheit Stacheln haben konnte. In seinem kleinen Kinderleben hatte Henry noch nicht genug gesehen, um zuverlässig Gut von Böse unterscheiden zu können. Seine Mom war gut, weil sie seine Mom war. Im Umkehrschluss war alles böse, was seiner Mom schaden wollte.

Der Gedanke überfiel den Jungen und auf einmal war da ein ganz, ganz schlechtes Gefühl in ihm. Es war gar nicht so lange her, da hatte Henry in seinem Zimmer gesessen und versucht, seinen Aufsatz für die Schule zu schreiben. Dieselbe ungute Vorahnung wie jetzt gerade hatte ihn aber ans Fenster getrieben, das zur Straße gerichtet war. Seine Mom war in seinem Sichtfeld aufgetaucht, mit schnellen Schritten in Richtung Haus eilend, ihr langer Rock mit dunklem Blumenmuster hatte sich ihr beim Laufen um die Beine geschlungen. Wie ein Felsbrocken hatte sich Mister Butler, der Rinderzüchter aus der Nachbarschaft, hinter sie geschoben, hatte mit seinen dicken Fingern nach ihrem Rock gegrapscht. Hatte seine Mom nicht zu fassen bekommen, hatte geschnauft und mit rotem Gesicht hinter ihr her gebrüllt. Vieles hatte Henry nicht verstanden. Nicht, weil er es nicht hatte hören können, sondern, weil er noch zu jung war. Aber die Bedeutung von einem ganz bestimmten Satz war ihm direkt klar gewesen: »Das wirst du bereuen!«

***

Heute würde der Tag sein, an dem ein gewisser Angus Butler die junge Miss Amber Knox verraten würde. Wenn sie es nicht verhinderte. Wenn sie nicht zu ihm ging, an seine Tür klopfte und ihm den besten Drink seines Lebens geben würde, gut getarnt als harmloser Apfelsaft. Ihre Hände bebten vor Aufregung, als sie den kleinen Behälter mit dem giftigen Vorlauf greifen wollte. Der Fingerhut fiel zu Boden und die durchsichtige Flüssigkeit versickerte. Die junge Frau fuhr sich mit beiden Händen durch die langen weizenblonden Haare. Eine Chance vertan. Jetzt müsste sie die Destille wieder aktivieren und würde Zeit verlieren. Wertvolle Zeit, in der Angus Butler sie mit größter Sicherheit bei Sheriff Wilson anschwärzen würde. Doch die Schriftrolle wusste eine Lösung. Die Symbole erinnerten Amber an eine Sache, auf die sie auch selbst hätte kommen können: das Gewehr. Lässig lehnte es an der Kellerwand und es war sogar noch eine Patrone darin. So, als hätte jemand alles perfekt vorbereitet. Jemand oder etwas. Es funktionierte alles so einfach wie in einem Traum und die junge Mutter ließ sich leiten. Die geheimen Schriftzeichen hatten alle Informationen, alle Antworten auf Fragen, selbst auf die, die Amber nie gestellt hatte. Sie war so unvorstellbar froh, diese Rolle gefunden zu haben.

Wenig später traten zwei staubige schwarze Lederstiefel mit abgetretenen Absätzen auf den Boden, der nun schon länger nicht mehr vom Regen geküsst worden war. Das weiße Nachthemd, das Amber immer noch trug, flatterte um ihre Beine, als sie mit festen Schritten auf die Straße trat, auf der vielleicht hin und wieder Sheriff Wilson mit seinem nachtschwarzen Wagen seine müden Runden drehte. Aus ihrem geflochtenen Zopf hatten sich ein paar lange Strähnen gelöst. Die Luft war schon aufgeheizt und sie konnte die Farm von Angus in einigen hundert Metern Entfernung vor dem blauen Himmel flimmern sehen. In der linken Hand hielt sie die Anleitung für das, was sie gerade tat, in der rechten die alte Flinte, mit der sie die Befehle ausführen würde. Die junge Lady fühlte, wie sie von hinten angeschoben wurde. Als würde etwas sie die Straße hinabschicken, immer weiter Richtung Farm. Sie wusste ganz genau, dass Angus dort an seinem Küchentisch saß und sein weich gekochtes Ei auslöffelte. Das Klopfen an der Tür, das gleich folgen würde, sah er im Moment noch nicht kommen. Ebenso wenig den Lauf, in den er schauen würde. Es stand alles auf der geheimnisvollen Schriftrolle geschrieben, jeder einzelne Schritt. Das Schicksal von Angus und Amber war ein Muster aus Kurven und Kreisen, aus Wellen und Linien.

***

Als die Tür unten ins Schloss fiel, setzte Henry Junior sich kerzengerade im Bett auf. Normalerweise hätte er das nie getan, denn keiner kam morgens schlechter aus den Federn als er. Mom war nicht auf dem Weg zur Arbeit, da war er sich aus irgendeinem Grund absolut sicher. Er war zwar nur ein kleiner Knirps, der zum Zählen im Zweifelsfall noch heimlich seine zehn Finger benutzte, aber Henry Knox Junior war nicht von gestern. Da war diese komische Ahnung, dass alles irgendwie mit dem Keller zu tun hatte, denn dort unten war seine Mutter schließlich jeden Abend. Alarmiert tappte er die Treppen hinab und warf einen eiligen Blick in die Küche. Wie erwartet war niemand mehr da. Ohne zu zögern, streckte Henry die Hand nach der Türklinke aus, die mit dem weiß gestrichenen Türblatt das Haus vom Keller schied; zwei verschiedene Welten. Eine erlaubte und eine verbotene.

Es war hell genug, um alles zu sehen, was er sehen musste. Der Kupferkessel stand unschuldig an seinem Platz an der Wand. Unter der Treppe lehnte wie üblich ein alter Besen, aber ein Gegenstand fehlte. Es war das alte Gewehr, von dem Henry immer gedacht hatte, dass es zu nichts mehr zu gebrauchen wäre, weil es so alt aussah. Doch nun war es weg. Und Mom auch. Sie musste es mitgenommen haben. Sein kleines Jungenherz rutschte ihm in die Hose. Mom hatte es mitgenommen und das hätte sie nicht getan, wenn es nicht funktionieren würde. Und wenn jemand ein Gewehr mitnahm, das funktionierte, dann ... also dann ...

Henry brauchte nicht einmal seine zehn Finger, um sich auszurechnen, was das bedeutete. Eine dumpfe Stimme rauschte durch seinen Kopf: »Das wirst du bereuen!« Und er sah Angus Butler, den Nachbarn mit den Rindern auf der abgegrasten Weide, ganz klar vor sich. Ihn und sein knallrotes, wütendes Gesicht. Er sah Moms dunkel geblümten Rock, aus dem sie nach der Geschichte mit Mister Butler eine Gardine für das Kellerfenster geschneidert hatte. Dann fiel sein Blick wieder auf den leeren Platz an der Wand direkt neben dem Besen und er dachte wieder an Mom, die die gefährliche Waffe gerade bei sich trug. Ja, Henry ahnte – nein, er wusste – dass jemand etwas bereuen würde, aber das würde wohl nicht seine Mutter sein, sondern Angus Butler.

***

Man machte es ihr wirklich einfach. Groß und beleibt wie er war, trat Angus Butler auf die Veranda vor seiner Haustür und streckte seinen mächtigen Bauch der Sonne entgegen. Wie auf dem Silbertablett serviert. Doch er schien die Frau in Weiß gar nicht bemerkt zu haben, die sich da mit zwei nicht zueinander passenden Gegenständen in der rechten und der linken Hand seinem Haus näherte. Aus der Entfernung konnte Amber nicht erkennen, ob er die Augen wegen der Sonne halb geschlossen hatte, aber es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie kommen sah. Und bis er erkannte, was sie da bei sich trug. Sie musste näher heran, wenn sie zu weit entfernt stand, konnte sie nicht präzise genug zielen. Noch nie in ihrem fünfunddreißigjährigen Leben hatte sie ein Gewehr benutzt, doch dieses Problem löste die wunderbare Rolle, denn sie enthielt eine Anleitung für alles, was Amber nicht wusste oder konnte. So auch dafür.

Sie hatte einen klaren Plan, was zu tun war. Und sie würde es tun. Angus Butler würde gleich Sheriff Wilson aufsuchen, das war eindeutig. Und er würde singen, und zwar ein Liedchen über die gerissene Miss Amber Knox, die etwas ganz Geheimes in ihrem Keller stehen hatte. Im Reich des großen grauen Monsters, da stand etwas in der Ecke, das den Sheriff sicherlich interessieren würde. Nicht, wenn Amber es verhindern konnte. Und sie konnte. Gute hundert Meter trennten sie noch von der ersten Treppe zur Veranda des Hauses, das zur Butler-Ranch gehörte. Der runde Kopf auf dem ebenso runden Körper bewegte sich in ihre Richtung wie ein Wetterhahn auf einem Dach. Sicher sah er sie, doch er verharrte starr an Ort und Stelle, als wäre er an den Holzdielen festgewachsen. Ob er die Gefahr nicht schon witterte? Ob er nicht erkannte, was die Frau im Nachthemd da bei sich trug? Offenbar nicht, denn ganz unerwartet rumpelte er die paar Treppen von der Veranda hinab und kam Amber entgegen.

Keine Zeit für viele Worte, dachte sie und wollte das Gewehr anlegen, da blieb Angus stehen und plötzlich wurde sie von den Füßen gerissen. Die Welt drehte sich und auf einmal war der Himmel nicht über ihrem Kopf, sondern direkt vor ihrer Nase. Die Flinte hielt sie immer noch in der Hand, aber die Rolle war weg. Suchend tastete sie im trockenen Gras neben sich, doch die Schrift war weg. Desorientiert richtete Amber sich auf und sah um sich. Angus hatte die kleinen Augen zusammengekniffen und kam näher, offenbar sah er schlecht. Was gut war, denn auf einmal wollte sie ihren Nachbarn nicht mehr wegpusten. Ganz plötzlich, sie wusste nicht, was passiert war. Als sie hinter sich sah, erkannte sie, was der Grund für ihren Sturz war. Da stand ihr Sohn, Henry Junior, und er hatte die Schriftrolle an sich genommen.

»Mom ...?«, murmelte er und schaute auf den fremden Gegenstand, den er von sich entfernt hielt, als sei er wie durch Magie in seiner Hand erschienen. Es war zu viel zu schnell geschehen, als dass Amber eins und eins zusammenzählen konnte. Doch sie hatte plötzlich eine Ahnung, wenn auch nur ganz düster. Irgendwie gefiel ihr das Bild von Henry mit der Rolle in der Hand überhaupt gar nicht. Sie musste ihm das Ding wegnehmen und am besten wieder dorthin zurückbringen, wo sie es gefunden hatte. Hinter den Steinen in der Wand. Die seltsamen Zeichen hatten sie schließlich gerade erst in diese Situation gebracht. Sie hatten ihr befohlen, all das zu tun, was schlussendlich dazu geführt hatte, dass sie einem Kerl den Lauf eines Gewehrs vor die Nase hatte halten wollen. Und dann? Amber war keine Mörderin. Sie rappelte sich auf, wobei sie ins kurz Wanken kam. Dann legte sie die Waffe beiseite, um sich den Staub von ihrem Nachthemd zu klopfen. Nur schnell weg, schnell wieder nach Hause, bevor Angus Butler erkannte, was sie in Wahrheit vorgehabt hatte. Denn dann würde er tatsächlich zu Sheriff Wilson laufen und dazu wollte sie dem Mistkerl keinen Anlass geben.

»Was ist los, Miss?«, rief er und schirmte mit der Hand die Sonne ab, die ihm in die Augen schien. Er musste wirklich nichts gesehen haben mit seinen kleinen Maulwurfsaugen. Seine Stimme klang hohl und gefühllos. Seit dem jüngsten Vorfall hatte Amber mit ihm kein Wort mehr gewechselt und hatte nicht vorgehabt, es jemals wieder zu tun. Auch jetzt wollte sie nichts lieber, als schnell weg von ihm zu kommen.

»Nichts, es ist ... alles in Ordnung ...«, tastete sie sich voran, da sie ihm an seinem runden Gesicht nicht ansehen konnte, was er gesehen hatte und was er daraus schloss. Seine kleinen Augen, die weit auseinander in seinem Gesicht saßen, musterten sie skeptisch, dann wanderte sein Blick an ihr vorbei und seine Augen wurden so groß, dass sie ihm aus dem Kopf zu fallen schienen. Amber fuhr herum und da stand Henry, die Rolle in der einen Hand, das Gewehr in der anderen. Er schulterte die Waffe, wobei er so selbstsicher handelte, als wäre er ein viel zu kleiner Jäger. Als würde er genau wissen, was er tat.

»Henry, nicht!«, rief Amber. In ihren Ohren klang ihre eigene Stimme fremd und fern. Ohne nachzudenken, machte sie einen Satz auf ihn zu, da hallte ein Schuss durch die Luft. Die Rolle fiel mit einem dumpfen Geräusch auf den trockenen Boden. Das Sonnenlicht des beginnenden Tages wälzte sich über die Oberfläche, die zugleich rau und doch irgendwie geschmeidig aussah. Für einen Moment sah es so aus, als würde sich das Papier leicht heben und senken. Ein leichter Wind wehte etwas Sand darüber.

Es würde ein heißer Tag werden.

Von: stilusstory


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