Aus der Erde Ägyptens (@Waldtauchende)

Nikos rannte. So schnell, dass er den leichten Seewind, der um seine Nase wehte, nicht mehr wahrnahm und seine Freunde hinter sich ließ. Sein ganzer Körper war voller Adrenalin und er fühlte sich wie in einem Rausch, während er etwas tat, was er vorher noch nie getan hatte: er brach die Regeln. Es war eine Tat, die er später gewiss bereuen würde, die er insgeheim jetzt schon bereute. Doch das war nebensächlich, während er sich von seinen Schulkameraden entfernte, lediglich begleitet von vier seiner Mitschüler.

Der Junge lief durch eine Ansammlung von kleineren Hütten und bog um eine Ecke, blieb dann jedoch wie angewurzelt stehen. Der Boden vor ihm war aufgewühlt und dunkler als jener darum herum. Man erkannte deutlich, dass dort vor kurzer Zeit jemand gegraben hatte. Die meisten Leute wären einfach daran vorbeigelaufen, nicht so jedoch Nikos, denn etwas an diesem Fleck Erde schien eine magische Anziehung auf ihn auszuüben, weswegen er sich hinkniete und begann, mit seinen Händen den Boden aufzureißen. Da es ein wenig dauerte, bis er die richtige Technik raushatte, kamen seine Freunde an, während er noch am Graben war.

»Was machst du denn da?«

»Ich dachte, wir wollten noch irgendwas Aufregendes machen, bevor wir Ägypten wieder verlassen.«

Wäre der braunhaarige Junge nicht so abgelenkt gewesen, hätte er gewiss geantwortet, dass es doch schon aufregend genug war, vor ihren Schulkameraden davonzulaufen. So sagte er jedoch nichts, was vermutlich gut war, denn ansonsten hätten seine Freunde nur über ihn gelacht.

»Lasst uns gehen, dann können wir auf dieser Aktion vielleicht wenigstens noch ein bisschen Spaß haben.« Da die anderen drei Jungs nickten, griff der große, hellhäutige Junge namens Alexios, welcher den Vorschlag gemacht hatte, nach Nikos, um ihn hochzuschieben.

»Nein!« So entschlossen war seine Stimme noch nie gewesen und es fühlte sich überraschend gut an, seine Meinung laut auszusprechen. In diesem Moment fasste er den Entschluss, dies öfters zu tun, obwohl er genau wusste, wie schwer es ihm fallen würde, da er anders erzogen worden war. Dann hatte der Junge das versteckte Objekt erreicht. Seine Finger stießen auf etwas, dass er erst identifizieren konnte, als er es heraushob. Ein wenig Erde haftete daran, dennoch konnte man erkennen, dass es eine Schriftrolle war, die aus einem festen Stoff bestand. Nikos wusste erst nicht, was genau es war, doch dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Es war Papyrus, ein Material, von dem ihr Lehrer ihnen vor einigen Tagen etwas erzählt hatte. Doch warum wollte jemand dieses Schriftstück verstecken? Es musste am Inhalt liegen, weswegen der Schüler die Rolle aufrollte. Als er die Zeichen darauf sah, konnte er kein Wort lesen, denn es waren alte Hieroglyphen und der Junge verstand nur die griechischen Buchstaben.

Plötzlich riss Christos ihm das Stück Papyrus aus der Hand und hielt es in die Höhe, sodass Nikos, der deutlich kleiner war als er, nicht drankam. »Wenn du uns nicht erklärst, was das soll, zerreiße ich dieses Ding vor deinen Augen«, drohte er und den anderen vieren war nur allzu bewusst, dass er es absolut ernst meinte.

»Ich weiß es nicht«, gestand der Finder der Schriftrolle kleinlaut. Dann packte ihn jedoch ein Anflug von Selbstvertrauen und er hob entschlossen den Kopf. »Doch ich werde es herausfinden!«

Die Unterhaltung hätte sich vermutlich in einen Streit verwandelt, wenn nicht plötzlich ein Mann um die Ecke gebogen wäre. Seine Haare waren hellbraun und kurz, während seine Haut einen etwas helleren Ton hatte. Er war noch nicht allzu alt und hätte schön aussehen können, wäre da nicht die Wut gewesen, die sein Gesicht verunstaltete. »Euer Abhauen wird ein Nachspiel haben, wenn wir wieder zurück in Griechenland sind, da könnt ihr euch sicher sein. Und nun ab mit euch und zurück zu den anderen!«

Reue und Scham vermischten sich in Nikos Inneren, während er hinter den anderen Jungen an seinem Lehrer vorbeilief. Er war stets ein guter Schüler gewesen, der pflichtbewusst seine Aufgaben erledigte und Regeln respektierte, sie nie in Frage stellte. Doch an jenem Tag hatte er alles zerstört, was er sich in der Vergangenheit aufgebaut hatte. Nun würde er in den Augen aller nur noch derjenige sein, der sich auf seiner ersten und einzigen Klassenfahrt von der Gruppe entfernt hatte.

Frustriert riss Nikos die Schriftrolle aus den Händen seines Freundes, welcher sie geistesgegenwärtig hinter seinem Körper versteckt hatte, als sie erwischt wurden, und schüttelte den Kopf, enttäuscht von sich selbst und dem Fakt, dass er immer noch nicht für sich und seinen Willen einstehen konnte. Würde er es können, hätte er sich erst gar nicht zu dieser Aktion überreden lassen und wäre jetzt nicht in dieser verzwickten Lage, denn eigentlich hatte er gar nicht abhauen wollen.

Als die Schüler am ersten Tag nach der Klassenfahrt wieder entlassen wurden, liefen Xanthus, Alexios, Nereos und Christos sofort zu Nikos, als wäre es das selbstverständlichste der Welt, obwohl sie den gesamten Tag über noch kein einziges Wort miteinander gewechselt hatten. Er fühlte sich verraten, denn die vier hatten ihn bei etwas mitgeschleift, was überhaupt nicht zu ihm passte und ihn dann, als es um die Konsequenzen ging, allein gelassen. Ein Verhalten, dass der Junge ihnen nicht einfach so verzeihen würde, schon gar nicht, wenn sie jetzt nichts dazu sagten.

Sie taten es nicht, stattdessen kamen sie auf die Schriftrolle zu sprechen.

»Hast du bereits herausgefunden, was auf dem Papyrus steht?«, fragte Nereos.

»Vielleicht können wir ja reich werden«, ergänzte Xanthus.

»Ich habe noch nichts herausgefunden, nein.«

»Worauf wartest du dann noch? Du weißt doch, wer es wissen muss.«

»Ich weiß es, ja, aber wie willst du ihn dazu bringen, uns zu sagen, was auf der Schriftrolle steht und ebenfalls dazu, sie uns wiederzugeben?«

»Lass uns einfach machen«, antwortete Alexios unheilvoll und ein ungutes Gefühl stieg in Nikos auf. Dennoch sagte er nichts, stattdessen nickte er. Der Junge wusste nicht wieso, doch es war ihm unheimlich wichtig, herauszufinden, was auf der Rolle stand und ihr Direktor war die einzige Person, von der sie wussten, dass er ein paar Hieroglyphen übersetzen konnte. Die vier sahen zufrieden aus und ehe Nikos darüber nachdenken konnte, liefen sie auch schon zu dessen Büro. Dieser rief sie ohne eine Verzögerung hinein, nachdem sie an der Tür geklopft hatten.

»Was wollt ihr?«, kam der Mann sofort zur Sache, sobald die Freunde eingetreten waren. Jeder andere Lehrer hätte an seiner Stelle genauso reagiert, dennoch verunsicherte es Nikos, denn er konnte seinen Gegenüber nicht einschätzen, da die Lehrer an dieser Schule spätestens nach ein paar Jahren wieder verschwanden. Eine Tatsache, die niemanden mehr zu verwundern schien und ihm kam der seltsame Gedanke, dass das vielleicht etwas mit dem Inhalt der Schriftrolle zu tun hatte. Sofort rügte er sich innerlich für diesen Gedanken, denn das konnte nun wirklich nicht sein, schließlich war es einfach nur ein wahlloses Stück Papyrus aus Ägypten. Doch obwohl er den Gedanken für unglaubwürdig hielt, ließ dieser ihn nicht mehr los und sorgte dafür, dass er den Anfang des Gesprächs der anderen verpasste.

»Zeigt mal her«, sagte der Direktor gerade und ohne zu zögern kam der Junge der Aufforderung nach. Er wusste nicht, was dieses Handeln für Folgen haben würde, doch er wusste mit absoluter Sicherheit, dass das hier seine einzige Möglichkeit sein würde, die Schriftrolle zu entschlüsseln und das jedes Zögern diese Möglichkeit zunichtemachen würde.

Eine steile Falte bildete sich zwischen den Augen des Herren, nachdem er den Papyrus zu Gesicht bekommen hatte, und sein Blick schnellte zu Nikos zurück. »Woher habt ihr das?« Seine Stimme war scharf und ließ keinen Zweifel daran, dass lügen in dieser Situation zwecklos und dumm gewesen wäre.

»Ich habe sie auf unserer Klassenfahrt nach Ägypten ausgegraben, Sir.«

Der Direktor schüttelte missbilligend den Kopf. »Du sollten wissen, dass es stets einen guten Grund gibt, wenn jemand etwas vergräbt. Das, was hier draufsteht ist nicht für eure Ohren bestimmt.«

Nach diesen Worten warf er die Schriftrolle in den Kamin und das Feuer begann sofort, sich daran zu nähren. Ein Wimmern stieg in Nikos Kehle auf, doch er hielt es zurück. Der Inhalt dieser Hieroglyphen war wichtig gewesen, das spürte er, auch wenn er nicht ganz sagen konnte, woher diese Sicherheit kam. Der Junge wollte wegsehen, doch er konnte nicht, denn das Emporlodern der Flammen an dem Papyrus hatte etwas Hypnotisches. Es war eine der Situationen, in der man wegsehen wollte, es aber aus einem unerklärlichen Grund nicht konnte. Xanthus, Alexios, Nereos und Christos schien es ähnlich zu gehen, denn sie hatten in der gesamten Zeit, in der die Schriftrolle in Nikos Besitz gewesen war, ihr nicht so viel Aufmerksamkeit geschenkt, wie jetzt.

Dieser Moment hätte schnell enden sollen, doch das tat er nicht, denn anders als erwartet, verbrannte die Schriftrolle nicht. Stattdessen schien sich eine Schicht von ihr aufzulösen, sie wurde dünner und rollte sich wieder zusammen.

Erst danach erwachten die Jungen aus ihrer Trance. Nikos nahm sofort einen Schürhaken und zog die Rolle aus dem Feuer.

Als er sie in die Hand nahm, bereute er es, denn der Papyrus hätte heiß sein müssen. Dies war er jedoch nicht, stattdessen war die Oberfläche kühl, geradezu kalt. Und so wie sie es war, waren kurz darauf auch Nikos Hände, der Boden unter seinen Füßen und der gesamte Raum von einer Kälte durchzogen, deren Ursprung einzig und allein die Schriftrolle zu sein schien.

»Neid ist nicht nur eine der sieben Todsünden, sondern auch die größte Schwäche des Menschen. Aus Neid wurden sie geformt und in Neid werden sie zerfallen.« Die Worte kamen aus dem Mund des Griechen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte oder es auch nur bemerkte. Er bemerkte nicht einmal, wie Eis an seinen Füßen und an denen der anderen Anwesenden hinaufkletterte.

So lange, bis nur noch die Augen frei waren, bis nicht einmal sie es mehr waren. Selbst die Schriftrolle blieb nicht verschont, denn nachdem sie grell aufleuchtete, zerbrach auch sie in unzählige Scherben, ebenso wie die Körper der Jungen und des Direktors.

Das letzte, was Nikos fühlte, war ein innerer Frieden. Nun würde er sich nie wieder Gedanken über die Folgen seiner Entscheidungen machen müssen, ebenso wenig wie über irgendwelche anderen Dinge. Denn nichts spielte mehr eine Rolle, in den wenigen Augenblicken, die ihm noch blieben.

Von: Waldtauchende


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