𝟜𝟚. 𝔻𝕖𝕣 𝕘𝕖𝕙𝕖𝕚𝕞𝕖 𝔸𝕔𝕔𝕠𝕦𝕟𝕥

Mochte Toni lieber Brötchen oder Müsli zum Frühstück? Beides hatte er bei mir schon gegessen. Was war sein liebstes Getränk? Welche Farbe mochte er am meisten? Fuhr er gerne Moped oder tat er es nur aus praktischen Gründen?

Ich starrte Tonis Rücken an. Er war kurz vor mir losgefahren und würde gleich bei July anhalten, um sie aufzugabeln. Maikes Griff um meine Hüfte wurde stärker.

»Konzentriere dich. Du wirkst so abgelenkt.«

»Ja, ich konzentriere mich.« Ich wollte meinen Helm am liebsten abreißen und den Wind in meinen Haaren spüren und es genießen, wie die einzelnen Locken darin wirbelten und mich frei und glücklich fühlen.

Wir kamen vor Toni und July bei der Schule an.

»Wann machst du eigentlich Fahrprüfung?«, fragte ich Maike.

»In drei Wochen, glaube ich«, sagte sie leise und senkte den Blick. Diese Fahrprüfung beschäftigte sie wohl mehr, als sie zugeben wollte. »Was ist, wenn ich das nicht schaffe und durchfalle und dann nie das Fahren lernen kann und alles schrecklich wird?«

»Dramatisiere nicht über. Du wirst es schon schaffen. Ich glaube an dich und du glaubst selbst an dich. Und wenn du nicht bestehst, geht die Welt nicht unter. Dann probierst du es halt noch mal und noch mal, bis du es schaffst. Oder du lässt es ganz sein. Das ist auch völlig okay.«

»Danke für diese Worte. Wartest du noch auf Levi?«

»Ja, hatte ich vor.«

»Oh, da sind July und Toni.«

»Wo?«, fragte ich.

»Dort. Sie machen gerade ein Selfie.« Maike deutete in eine Richtung auf zwei Personen, die in die Kamera lächelten.

Ich hastete los, wobei ich plötzlich einen Widerstand an meinen Füßen spürte und dann fiel. Ich konnte mich gerade so mit meinen Händen abstützen. Warum passierten immer mir solche Missgeschicke? Leider sah ich auch, wie Toni sein Handy in meine Richtung hielt und mich fotografierte.

Das hatte er schon einmal gemacht und das Foto, soweit ich wusste, nicht gelöscht. Ich erinnerte mich gut daran, wie ich mich übergeben und direkt danach in Tonis Gesicht geblickt hatte, der ein Foto von mir geschossen hatte.

»Was machst du da?«, fragte ich, während ich mich wieder aufrichtete. »Speicherst du die Fotos, um mir irgendwann mal eins auszuwischen oder mich zu erpressen?« Das zumindest tat Maike, aber ihr war ich nicht böse. Ich machte schließlich auch von ihr Fotos und wir wussten beide, dass wir die Fotos nirgendwo online stellen würden.

»Ich mache nichts. Nur ein paar Selfies mit July. Ich muss nun gehen.«

»Ja, ist klar«, murmelte ich und zückte mein Handy, während Maike Toni in das Schulgebäude hinterhereilte. Ich folgte fast niemanden auf Instagram. Ich hatte mir die App nur heruntergeladen, damit Jules und Maike mir Memes schicken konnten. Nun klickte ich auf Julys Account und dort auf die Personen, die ihr folgten. Schnell entdeckte ich Toni und klickte darauf. Dann scrollte ich durch die letzten Bilder seines Feeds. Ich war nicht zu sehen. Er hatte nur ein paar Fotos von ihm und July und welche von seiner Kunst hochgeladen.

»Hier lädt er sie schon mal nicht hoch«, teilte ich July mit. »Hat Toni einen zweiten Account oder so?«, fragte ich.

»Ist das wichtig? Ich hätte nämlich eine andere Frage.«

Eigentlich wollte ich Ja sagen, aber die Neugier hinderte mich daran. »Welche denn?«

»Warum versteht ihr euch an einem Tag so gut und am nächsten streitet und hasst ihr euch wieder? Wie kann das sein? Das ist eine echt komische Hassliebe.«

»Ich weiß nicht, was er mit den Fotos von mir macht und solange ich das nicht weiß, habe ich ein komisches Gefühl. Hat er dir gesagt, was er mit den Fotos macht?«

»Möglicherweise, aber ich könnte es dir nicht sagen. Ich will sein Vertrauen nicht missbrauchen.«

»Aber es geht doch definitiv um mich. Er will mich anscheinen bloßstellen oder so. Dabei dachte ich doch, dass ich ihm irgendetwas bedeute.«

»Ich darf nichts sagen. Mein Mund ist komplett verschlossen.« July vollführte mit ihren Fingern eine Bewegung, die darstellen sollte, wie sie ihren Mund zuschloss.

»Dein Ernst, Juliette? Ich denke, es ist wichtig, dass ich davon weiß, sonst wird immer etwas zwischen uns stehen und Toni und ich werden nie Freunde werden können.« Oder mehr, fügte ich in Gedanken hinzu, verwarf diesen Gedanken jedoch. Wenn ich kein Vertrauen zu ihm aufbauen konnte, dann würde eine Beziehung aller Art nicht funktionieren.

In der ersten Stunde suchte ich auch auf Pinterest nach Toni und fand nach einer Weile seinen Account. Ich kam leider nicht mehr dazu, die Bilder auf diesem durchzuschauen, da ich erwischt und ermahnt wurde und das Handy weglegen musste.

In der ersten Pause ließ ich mich zwischen Dominik und Paul auf einen Stuhl fallen und scrollte durch Pinterest. Toni hatte dort echt schöne Bilder hochgeladen, doch von sich selbst, von Freunden oder von mir war nichts zu sehen.

»Was suchst du?«, fragte Paul, der auf mein Handy linste.

»Gar nichts, nur ein paar Bilder, die ich für wichtig halte.«

»Welche denn?«, fragte Dominik, der sich zu mir lehnte und mit seinen Fingern einen Rhythmus auf meinen Stuhl trommelte.

»Hi, wir sind spät dran«, sagte Robin, der mit Levi zu unseren Tischen kam. »Was habe ich verpasst? Normalerweise sitzt du auf der anderen Seite des Tisches, Michi. Seid ihr neue beste Freunde?«

»Nicht ganz. Ich brauche nur meine Ruhe, um ein paar Bilder zu suchen.«

Robin beugte sich von hinten über den Stuhl, um auf mein Handy zu schauen. Ich fühlte mich von allen Seiten umringt.

»Wir können dir helfen, diese geheimnisvollen Bilder zu suchen«, schlug Robin vor.

»Na ja, es klingt wahrscheinlich albern und es ist auch nicht so wichtig.«

»Das ist mir egal.« Robin holte sich einen freien Stuhl und schob ihn zwischen meinen und Dominiks Platz.

»Toni hat ein paar Mal Fotos in ungünstigen Situationen gemacht und vielleicht postet er sie irgendwo. Das ist nur eine Vermutung. Wahrscheinlich will er mich bloßstellen oder so.«

»Was für Fotos sind das?«, fragte Paul. »Du sprachst von ungünstig. Meinst du damit, dass Toni Nacktfotos von dir bekommen hat?«

»Oder von euch beiden gemeinsam?«, warf Robin ein. »Ja, ihr wärt als Paar süß, aber darum geht es nicht.«

»Ähm, nein. Es geht um Fotos, die er gemacht hat, wenn mir ein Missgeschick passiert ist oder ich mich total peinlich benommen habe.« Nun fiel mir auch wieder ein, dass er Maike und mich fotografiert hatte, als wir nachts draußen im Pyjama den Schnee genossen hatten.

»Okay, hast du schon auf Instagram geschaut?«, fragte Dominik.

»Ja, auf seinem Hauptaccount habe ich nichts gefunden.«

»Hauptaccount? Du denkst also, dass er mehr als einen Account hat?«

»Ich nehme es an. Viele haben mehr als einen Account.«

In diesem Moment klingelte es.

»Wir müssen los«, stellte ich fest und sprang auf. Ich nahm meinen Rucksack und holte July ein.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte ich sie.

»Natürlich«, fauchte sie. Damit hätte ich nicht gerechnet. »Erst beschuldigst du meinen besten Freund, dass er etwas hinter deinem Rücken macht und Fotos irgendwo hochlädt, um dich bloßzustellen und dann verbringst du die ganze Pause mit deinen neuen besten Freunden und ignorierst dafür deine alten.«

»Darf ich nicht mal mit ein paar anderen Leuten sprechen? Ich bin zwar nicht so eng mit Robbie, Paul und Dominikque, aber ich finde sie in Ordnung. Mit ihnen kann ich auch mal quatschen, oder nicht?«

»Du hast ihnen schon Spitznamen gegeben, also bedeuten sie dir etwas.«

»Natürlich bedeuten sie mir etwas. Wir sitzen seit der elften Klasse mit denen an zwei Tischen und unterhalten uns oft mit denen. Auch Adam gehört eigentlich dazu, aber der ist krank. Außerdem laufe ich gerade mit dir zur nächsten Stunde und nicht mit den anderen.«

»Du streitest mit mir und gehst mir gerade ziemlich auf die Nerven. Bis später.« Die Worte klangen aus ihrem Mund bissig.

»Verdammt«, zischte ich leise und grübelte nach nett gemeinten Worten, um July zurückzuhalten, doch mir fielen keine ein. Als ich aufschaute, verschwand sie um eine Ecke. Na toll. Meine beste Freundin war wütend auf mich, obwohl ich nichts Falsches gemacht hatte, oder?

In der zweiten Pause setzte ich mich wieder mit Robin, Paul und Dominik zusammen.

»Ich schau mal, ob Toni einen Account auf Tumblr hat«, sagte Paul.

»Ich überprüfe Julys Account auf Pinterest.«

»Dann schaue ich mal bei ihr auf Instagram vorbei«, meinte ich und warf ihr einen Blick zu. Sie hatte einen Hefter aufgeschlagen und lernte für eine Arbeit. Als sie ihren Blick hob, ignorierte sie mich gekonnt.

Ich klickte auf ihren Account und sah ihre Follower und die Personen, denen sie selber folgte, durch.

Dabei entdeckte ich einen Account. Michael_van_Lustig. Mein Magen drehte sich um, als ich darauf klickte und die Beiträge überflog. Ich hatte die Bilder gefunden, die Toni von mir gemacht hatte. Sie waren auf einem Instagramaccount hochgeladen und jeder konnte sie sehen.

Ich klickte auf die Bildunterschriften und hätte mich beinahe übergeben. Toni schrieb darüber, wie sehr er mich hasste und wie sehr ich mich blamierte. Er machte sich ständig lustig über mich.

»Turner!« Ich war aus meinem Stuhl hochgefahren. »Was soll das?«

Mit wenigen Schritten eilte ich auf ihn zu und hielt ihm mein Handy direkt vor die Nase.

»Da sind ein paar Bilder«, stellte Toni fest.

»Das sind peinliche Bilder von mir!«, rief ich. »Du hast sie auf Instagram gestellt, ohne mich zu fragen. Du hattest nicht einmal meine Erlaubnis, mich zu fotografieren. Damit hast du dich strafbar gemacht.« In meinen Augen funkelte der Zorn. Toni wich vor mir zurück.

»Es tut mir leid, nur du hast mir so viel angetan und ich war oft wütend auf dich, also musste ich diese Wut irgendwie rauslassen. Und ein Account, den du niemals entdecken solltest, schien die perfekte Lösung dafür zu sein.«

»Tja, ich muss dich wohl enttäuschen. Ich habe diesen Account gefunden.« Und mit diesem und den ganzen Bildern darauf hatte er mich verletzt. Es fühlte sich an, als hätte er einen Teil meines Herzens abgerissen und nun klaffte dort eine Lücke.

»Ich kann es einfach nicht fassen. Warum? Gerade jetzt musste natürlich so was passieren.« Ich pfefferte mein Handy zur Seite, hob es aber im nächsten Moment wieder auf und stürmte, meinen Rucksack packend, nach draußen.

Der Hof lag verlassen da. Heute bedeckten Wolken die Sonne, die in den letzten Tagen so oft geschienen hatte, doch es regnete nicht. Ich ließ meinen Blick über den einsamen Hof schweifen und entdeckte den Baum, unter dem Toni mir im Englischunterricht einen Heiratsantrag gemacht hatte. Hier hatten wir auch gesessen, als wir mit Robin July einen Streich gespielt und die zwei beobachte hatten. Bei diesen Erinnerungen musste ich unwillkürlich lächeln.

Ich schwang mich an einem Ast hoch und klettere, bis ich eine geeignete Stelle zum Sitzen gefunden hatte. Dort ließ ich mich nieder und lehnte mich mit dem Rücken an den Stamm. Dann holte ich mein Handy hervor und scrollte erneut durch den Account. Warum hatte Toni ein Van zwischen Michael und Lustig gesetzt? Es klang auf jeden Fall cool. Je länger ich mir die Bilder anschaute, die mich immer in schrecklichen und peinlichen Situationen zeigten, und die Texte durchlas, die ein schlechtes Licht auf mich warfen, desto wütender wurde ich. Am liebsten würde ich Toni jetzt noch einmal gegenübertreten und ihn anschreien. Als ich mir vorstellte, wie meine Faust in seinem Gesicht landete und er dieses vor Schmerzen verzog, legte sich ein breites Grinsen auf meine Lippen.

Rache, ich wünschte mir Rache. Wie hatte Toni mir das antun können? Wie hatte er mir das antun und trotzdem noch ganz normal mit mir sprechen können, als wären wir Freunde?

»Freunde.« Ich spuckte das Wort aus. July hatte sich von mir abgewandt und Toni hatte mich hintergangen, während wir gerade eine Freundschaft oder so etwas in der Art aufgebaut hatten. Levi hatte nichts falsch gemacht, allerdings war er jetzt nicht bei mir, um mich zu trösten. Hatte er überhaupt mitbekommen, was Toni getan hatte? Hatte er davon gewusst? July hatte diesen Account ja abonniert, also hatte sie davon gewusst.

Am liebsten würde ich irgendetwas zerschlagen oder zerdrücken, doch ich konnte meine Wut unmöglich an einem unschuldigen lieben Baum ablassen.

Plötzlich hörte ich ein Geräusch und im nächsten Moment sah ich eine Hand.

»Ist alles in Ordnung, Michi?« Levi zog sich am Ast hoch und blickte mir dann fest in die Augen.

»Nein«, antwortete ich knapp, was nicht zu meiner Art passte. »Aber wenigstens bist du da. Für einen Moment dachte ich, dass niemand mehr auf meiner Seite stände.«

»Ich bin dein bester Freund, ich lasse dich nicht allein.«

»Aber du hast dir viel Zeit gelassen, zu kommen.«

»Weil ich Toni erst meine Meinung sagen musste. Es war echt fies von ihm und irgendwie auch ein bisschen Pech von dir, dass du das genau jetzt, wo ihr angefangen habt, euch so gut zu verstehen, herausgefunden hast.«

»Denke ich auch. Am liebsten hätte ich es nie herausgefunden. Er hätte es ja löschen können oder so.«

»Er hat gesagt, dass es ihm leidtut, dass er es aber nicht bereut. Er kann nicht ändern, dass ihr euren Streit nicht beiseite legen könnt, aber er kann auch nicht nachgeben. Er sagt, alles, was er dort geschrieben hätte, wäre wahr.«

»Trotzdem macht es nichts gut. Toni hat mich verletzt.«

Ich hielt die nächsten zwei Stunden still aus. Toni versuchte, mich zu überzeugen, dass er keine bösen Absichten mehr hatte, doch ich bestrafte ihn mit meinem Schweigen.

»Hör auf, mich zu ignorieren«, zischte er. »Ich versuche gerade alles, damit du mir wieder verzeihst.«

Ich hatte den Drang, mich zur Seite zu drehen und ihn vollzuschnauzen, doch ich unterdrückte diesen Impuls. Am Ende würde er mich auch anschreien, was ich vermeiden wollte. Schließlich hatte ich nichts falsch gemacht. Ich hatte keine privaten Fotos online gestellt und es ein halbes Jahr lang verschwiegen. Ich hatte mich nicht mit einem Jungen angefreundet, den ich zeitgleich hintergangen hatte. Toni aber hatte es.

Nach der letzten Stunde stürmte ich aus dem Klassenraum und rannte zu der Eiche auf dem Hof. Wie vorhin schwang ich mich hoch und machte es mir in der Astgabel bequem. Dann schrieb ich Maike. Sie hatte mir heute Morgen gesagt, dass sie noch nicht wüsste, ob sie nach der Schule eine Fahrstunde hatte.

Als ich mein Handy weglegte und der Sonne entgegenblinzelte, die endlich wieder hervorgekrochen war, spürte ich eine Leere in mir. Warum musste immer alles mir passieren? Erst hatten Amy und ich uns gegenseitig die Herzen gebrochen, dann Toni und July meins. Ich seufzte. Davon sollte ich mich nicht unterbringen lassen.

Wenigstens hatte Toni den Versuch gewagt, sich zu entschuldigen. Aber July sprach nicht mehr mit mir.

Als mein Handy vibrierte, überprüfte ich meine Nachrichten. Maike hatte mir geantwortet. Sie hatte eine Fahrstunde und würde nicht mit mir fahren. Ich wollte herunterspringen, doch plötzlich bemerkte ich Toni und July, die aus dem Schulgebäude liefen. Sie hielten einen größeren Abstand als sonst und sprachen nicht miteinander.

Ich wünschte mir, dass Toni nicht neben July trottete, sondern neben mir saß oder vor mir kniete und einen ausgedachten, nicht ernst gemeinten Heiratsantrag hielt. Wie fühlte es sich wohl an, seine Hand zu halten? Eigentlich konnte ich die Frage selbst beantworten. Es fühlte sich fantastisch an. Toni hatte schon ein paar Mal meine Hand genommen und es hatte sich verdammt fantastisch angefühlt. Leider war es zu lange her. Ich wollte seine Hand jetzt halten, unbedingt.

Ich wartete, bis July und er losgefahren waren und glitt dann von der Eiche hinunter, um selbst nach Hause zu kommen. Ich durfte nicht an Toni denken. Er hatte mir Schreckliches angetan. Da konnte ich mir doch nicht wünschen, dass er meine Hand hielt.

Ich schwang mich auf mein Moped und raste los.

Wenn ich nur daran dachte, dass ich bald Abitur schrieb, zitterte ich am ganzen Körper. Und wenn ich daran dachte, dass ich schon seit Wochen nicht mit July gesprochen hatte, riss sich mein Herz in kleine Stücke und zerstörte diese. Wenn ich daran dachte, dass ich seit Wochen auch kein Wort mehr mit Toni gewechselt hatte, setzte mein Herz sich selbst, oder besser gesagt, die kleinen, zerstörten Stücke, die von ihm übrig waren, in Brand. Mein Herz litt Tag für Tag, sobald ich einen der beiden anschaute. Ich vermisste sie beide, obwohl ich das bei Toni nicht erwartet hätte. Vor Monaten hätte ich es großartig gefunden, meine Ruhe vor ihm zu haben und ihn anzuschweigen, nun aber vermisste ich sogar die Streitereien mit ihm.

Ich schlug mir selbst gegen den Kopf, um meine Gedanken zu verdrängen und kletterte nach unten, um Maike und mir Getränke zu machen. Ihr rührte ich einen Kakao zusammen, während ich mir einen Tee zubereitete.

Dann rief ich Maike. Wir kuschelten uns in der Ecke zusammen. Ich hatte eine Lichterkette angestellt und Maike ein Buch aus meinem Regal genommen. Es war die Märchenausgabe, die Toni mir zu Weihnachten geschenkt hatte und die mich an sein Lächeln erinnerte.

»Ähm, wollen wir nicht lieber aus dem Buch von Oma lesen?«

»Was? Nein, warum?«

»Einfach so«, murmelte ich.

»Hier sind schöne Märchen drin und ich liebe dieses Buch. Und ich kenne keinen Grund, der gegen dieses Buch spricht.«

»Toni ist der Grund.«

»Was ist jetzt schon wieder los?«, wollte Maike wissen.

Sie spürte, dass mich etwas bedrückte.

»Nichts. Ich habe mich nur mit Toni -«

»Lass mich raten: gestritten.«

»Ja.«

»Ist ja was ganz Neues. Kleine Erinnerung an dich: Ihr beide streitet euch, seit ihr euch kennengelernt habt. Dass hast du mir selbst erzählt.« Maike zwinkerte mir zu.

»Ja, aber jetzt ist das anders.«

»Ja klar.«

»Ich meine es ernst, Maike.«

»Dann erzähl mir davon. Wandle es in eine Geschichte um.«

»Okay, es waren einmal zwei Menschen. Sie hießen Michaela und Antonia.« Mein Magen, zog sich schmerzhaft zusammen. Hätte sich mein Herz in meiner Vorstellung nicht in Einzelteile gerissen, die zerstört und verbrannt wurden, dann wären kleine spitze Waffen in mein Herz gefahren und hätten viele kleine Stichwunden hinterlassen. Diese Spitznamen erinnerten mich schon wieder an Tonis Heiratsantrag, doch es fiel mir leichter, mit diesen zu arbeiten, als unsere richtigen Namen zu verwenden. Außerdem erzählte ich nur eine Geschichte, die an der Realität angelehnt war.

Maike stupste mich an. »Es gab zwei Menschen, schön und gut. Was ist dann passiert? Sind sie direkt gestorben?«

»Nein, so grausam ist die Geschichte nicht. Sie lebten und liebten.«

»Schöne letzte Worte. Soll ich anordnen, dass sie auf deinem Grabstein stehen? Auf dem Grabstein von dir und deinem Ehemann?«

»Ehemann?« Ich zog eine Augenbraue nach oben.

»Ja, ihr werdet bei einem tragischen Unfall sterben und dabei Händchen halten.« Maike zwinkerte mir zu.

»Ist klar«, meinte ich sarkastisch. »Lässt du mich jetzt ausreden?«

»Du erzählst ja ewig nicht weiter.«

»Also, Michaela und Antonia konnten sich anfangs nicht leiden, doch mit der Zeit lernten sie sich besser kennen und fingen an, Sympathie füreinander zu empfinden und Michaela entwickelte leichte Gefühle für Antonia. Sie redete sich ein, dass sie Antonia nicht mochte, doch je mehr sie versuchte, sich selbst in die Irre zu führen, desto mehr spürte sie, wenn sie sich in der Nähe von Antonia befand. Michaela konnte es ihren Freunden und liebsten Personen gegenüber noch nicht zugeben, da sie sich nicht traute und es sich selbst noch nicht eingestanden hatte.

Eines Tages trafen sich diese beiden und Michaela fand Antonias größtes und schrecklichsten Geheimnis heraus. Sie hatte unvorteilhafte Fotografien von Michaela für alle sichtbar gemacht. Das verletzte Michaela sehr, weil sie Antonia mochte. Wenigstens hatte diese Sache Michaela geholfen, ihre Gefühle zu verstehen und zu akzeptieren. Sie liebte Antonia und deshalb war sie so sehr verletzt worden.« So schloss ich meine Erzählung.

Maike wischte sich eine Träne von der Wange, bevor sie zu mir schaute. Ihre Finger umklammerten die Tasse mit Kakao so sehr, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Seit wann bist du sentimental?«, fragte ich und musterte sie einen weiteren Moment. Schon spürte ich, wie mir selbst die Tränen aufstiegen. Es passierte oft, dass sich Tränen an die Oberfläche kämpften, sobald ich andere Menschen weinen sah.

»Bitte hör auf, zu weinen, sonst muss ich Rotz und Wasser heulen«, flehte ich.

»Ich kann nicht aufhören, das war zu emotional für mich.«

»Warum denn? Ich habe dir nur eine Geschichte erzählt«, behauptete ich.

»Michi, ich weiß genau, auf wen du dich bezogen hast. Ich habe ein halbes Jahr, vielleicht auch länger, auf diesen Moment gewartet.«

»Auf welchen Moment?«

»Dass du es endlich zugibst.«

»Was zugeben?«

»Michi, stell dich nicht so an.« Maike boxte mich an der Schulter.

Ruckartig stand ich auf. »Mein Kopf platzt. Ich denke ununterbrochen an ihn. Entweder bin ich wütend auf ihn oder vermisse ihn, dass es mir fast das Herz bricht.« Oder zerriss, zerstörte und verbrannte. »Ja, ich mag Toni. Ich habe ihn verdammt liebgewonnen. Erst dachte ich, meine Gefühle für ihn beziehen sich auf eine freundschaftliche Ebene. Doch seit der mich so verletzt hat, habe ich erkannt, dass ich mehr fühle. Toni gehört verdammt noch mal in mein Leben. Ohne ihn macht der Unterricht keinen Spaß. Ohne ihn fehlt etwas. Ich vermisse seine Witze und seine Rachetaten und unsere Beleidigung und vor allem vermisse ich die Streitereien. Ich vermisse ihn, weil ich ihn liebe. Ich liebe ihn!«, rief ich und hastete von einer Ecke zur nächsten. Dabei hielt ich meinen Kopf. »Nein, ich liebe ihn nicht. Er hat mir so viel Böses angetan und seine Rachetaten machen mich sauer. Außerdem hat er mich verletzt und ich liebe ihn nicht, ganz sicher nicht.«

Maike sprang nun ebenfalls auf und stellte ihre Tasse zu meiner. Dann packte sie mich an den Schultern und schüttelte mich.

»Michi, mein Bruder, du bist verliebt in Toni und das weißt du auch. Und ich weiß, dass du schon seit längerer Zeit in ihn verliebt bist.« Maike klopfte mir auf die Schulter und kletterte die Leiter hinunter. Die Tasse ließ sie einfach bei mir stehen. Nun brauchte ich unbedingt etwas Süßes und ihr nicht ausgetrunkener Kakao eignete sich perfekt dafür. Ich leerte ihn mit einem Zug, dann ließ ich mich auf mein Bett fallen und dachte über meine und Maikes Worte nach. Stimmte es? Natürlich stimmte es. Ich war wirklich verliebt in Toni, das hatte ich gerade zugegeben und ich sollte dazu stehen, bis mehr passierte oder ich mich wieder entliebte. Konnte man sich entlieben?

Ich fing an, ein Blatt zusammenzuknüllen und es an die Wand zu werfen. Dann stand ich auf, um es zu holen, mich wieder ins Bett zu legen und es erneut an die Wand zu werfen. Immer, wenn ich über die Bilder auf Tonis geheimen Instagram-Account nachdachte, wurde ich wütender und pfefferte den Ball weg, doch einen Moment später musste ich wieder an Tonis süße Sommersprossen oder sein Lachen denken und der Ball flog sanft auf die Wand zu.

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