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Ich lag in meinem Bett in meinem Zimmer, das bald wohl nicht mehr mein Zimmer sein würde. Ich erinnerte mich sehr gut daran, wie dieses eine Problem aufgetaucht war und sich zu einem großen entwickelt hatte, das sich auf unser Leben auswirken würde.

»Was? Nein! Was redest du da? Das kann doch nicht sein!«, rief Mom bestürzt. Ihre Stimme drang sogar bis in mein Zimmer. Ich lebte auf dem Dachboden und genoss die Ruhe, zumindest meistens. Neugierig rollte ich mich von meinem Bett, in dem ich bis vor ein paar Sekunden gelegen und mich entspannt hatte. Ich traf Maike, meine Schwester, auf dem Weg ins Wohnzimmer.

»Weißt du, worüber sie reden?«, fragten wir beide gleichzeitig.

»Ach verdammt«, fluchten wir beide wieder gleichzeitig.

Ich schlich mich näher zum Wohnzimmer.

»Das kann nicht dein Ernst sein. Du musst dich verhört haben«, rief Mom.

»Wenn du mir nicht glaubst, dann geh runter und frag selber. Ich wiederhole mich nur noch ein letztes Mal: Wir. Wurden. Rausgeschmissen.«

»Rausgeschmissen?«, flüsterte Maike.

Ich überlegte fieberhaft, ob Mom und Dad regelmäßig einen Club oder irgendwelche Treffen besuchten. Mir fielen nur die wöchentlichen Spielabende mit ihren Freunden ein. Wurden sie von denen ausgeschlossen? Und was meinten sie damit, dass Mom einfach runtergehen und selbst fragen sollte?

Bevor ich mir eine dieser Fragen beantworten konnte, riss Dad die Tür von innen auf und stürmte heraus.

Maike stolperte erschrocken zurück und ich zuckte zusammen. Als ich sah, dass Maike sich rückwärts auf die Treppe zu bewegte, hechtete ich vor und hielt sie an der Schulter fest.

»Michael«, fauchte sie mich an.

»Michael!«, knurrte Dad.

»Michael?«, fragte Mom aufgewühlt.

»Michael. Mein Name«, sagte ich. Damit brachte ich Maike zum Schmunzeln, doch Mom und Dad schauten immer noch so ernst wie vorher.

»Familiensitzung in der Küche. Jetzt.«

Stumm folgten wir Dad.

»Ich habe so eben erfahren, als ich mit unserem lieben Unternachbar sprach«, Dad nannte die Turners gerne Unternachbarn, »dass wir aus der Wohnung geschmissen werden, weil sich die Unternachbarn beklagt haben. Anscheinend waren wir zu laut und haben ihre Ruhe gestört und zu sehr getrampelt oder so was.«

»Was?« Maike sah so verwirrt aus, wie ich mich fühlte.

»Das- das können die gar nicht machen!«, meinte ich.

»Leider doch. Der Hausvermieter ist der beste Freund von Bernd. Angeblich sollen die beiden mal was miteinander gehabt haben, doch Bernd würde nie ein Sterbenswörtchen darüber verlieren. Er schämt sich anscheinend viel zu sehr dafür. Na ja, jedenfalls erfüllen die sich gegenseitig Gefallen oder so was.«

»Das ist unfair. Die können uns nicht aus unserem Zuhause schmeißen!«

»Ich weiß, Maike, es ist unfair. Die Welt ist ungerecht. Ich habe schon beim Vermieter angerufen und mich beschwert, doch ich konnte nichts ausrichten.«

»Wo wohnt der Typ?«, fragte ich. Ich spürte die Wut, die in mir kochte.

»Lass das, Michael«, sagte Mom, die ahnte, dass ich gerade etwas plante. Tatsächlich malte ich mir schon die Rache aus.

»Ich lass mir von dem Idioten und seiner Familie ganz bestimmt nicht das Haus, wo ich meine ganze Kindheit verbracht habe, wegnehmen. Wenn wir umziehen, bedeutet das möglicherweise, dass wir unsere Schule und unsere Freunde verlassen müssen! Das ist bestimmt alles seine Schuld!« Ich war aufgestanden und lief im Kreis herum.

»Ich werde noch mal dort anrufen«, beschloss Mom. »Wir werden das nicht einfach so hinnehmen. Notfalls werde ich auch meine Schmeichelstimme einsetzen.«

»Ich hasse es, wenn du das tust, LL.« Dad berührte Mom am Arm. Vor einigen Monaten hatten sie sich heftig gestritten und sogar für ein paar Wochen getrennt gelebt. Ich hatte befürchtet, dass sie sich scheiden lassen, Maike und ich voneinander getrennt werden würden und ein Riss durch unsere kleine Familie gezogen würde.

Doch als sie sich später in einem Café begegneten und sich mehrere Minuten lang über belangloses Zeugs gestritten hatten, küssten sie sich plötzlich. Sie hatten sich wieder versöhnt und seitdem wirkte es, als hätten sie sich neu verliebt. Mich machte es verdammt glücklich, sie so glücklich zu sehen, jedoch fand ich es peinlich, wenn sie sich vor meiner Nase küssten.

»Renn!«, wisperte Maike und lachend stürzten wir aus der Küche.

»Hoffentlich kriegen die das hin«, murmelte Maike, während sie in ihr Zimmer trottete.

Ein paar Tage später bequemte sich der Vermieter, uns endlich zurückzurufen. Mom und Dad hatten es stundenlang probiert, doch sie hatten ihn nicht erreicht. Nun säuselte Mom ihm was vor. Ein paar Minuten später erfuhren wir, dass Mom unsere Wohnung zwar nicht retten, dafür aber einen Deal ausgehandelt hatte. Wir würden dieses Haus verlassen und niemanden anklagen, dafür dürften wir in das Nachbarhaus ziehen. Seit ein paar Monaten stand dieses Haus leer. Ein »Zu Vermieten«-Schild hing verlassen am Lattenzaun, der nicht nur das Nachbarhaus, sondern auch unser eigenes von der Straße abgrenzte.

Ich konnte es immer noch nicht fassen. Ich lag in meinem Bett, schrieb mit Levi und mit July und dachte nach, was so eine Veränderung für mich bedeutete.

July lenkte mich ab, indem sie mir Fotos von grünen Ländereien und Selfies aus dem Zug schickte.

In einer Sprachnachricht sagte sie: »Ich bin so aufgeregt. Gleich treffe ich meine Gastfamilie. Glaubst du, sie werden mich mögen? Hoffentlich weiß ich, wer sie sind, wenn sie am Bahnhof stehen. Gleich hält der Zug an. Oh, ich bin so aufgeregt, Mic.«

Ich antwortete ihr mit beruhigenden Worten.

Am Abend schrieb ich auch Adam und Robin.

Adam schrieb, dass er mich um meinen Tapetenwechsel beneidete. Robin las die Nachricht noch nicht.

In den nächsten Tagen, in denen meine Eltern den Umzug vorbereiteten und Maike bei ihrer besten Freundin Lucy übernachtete, telefonierte ich mit July und mit Levi.

Heute hatte July kaum Zeit. Sie hatte einen Gruppenanruf mit mir und Toni gestartet, um nicht alles doppelt erzählen zu müssen.

»Es ist echt wunderschön hier. Wir sind heute durch Paris gelaufen, das ist eine echt spannende Stadt und morgen wollen wir ins Louvre. Wir bleiben für heute Nacht in einem Hotel. Was ist denn, Mausi?« July hatte sich umgedreht und sprach mit einem kleinen Mädchen an der Tür, wahrscheinlich ein Kind ihrer Gastfamilie.

Da ich das Schweigen nicht aushielt, fragte ich gelangweilt: »Schöne Ferien bisher?«

Toni ignorierte mich.

»Du hattest bestimmt viel Grund, dich zu freuen.«

»Was meinst du?«, fragte er, doch in diesem Moment tauchte July wieder auf.

»Es gibt Abendessen, tut mir leid, Jungs. Ich muss euch verlassen.«

»Wir waren nie zusammen«, erwiderte ich.

»Und trotzdem schaffst du es, uns Liebeskummer zu bereiten«, fügte Toni hinzu, weshalb ich ihn mochte und hasste.

Sie legte auf und ließ mich mit dem Idioten alleine.

»Bye Toni.« Mit diesen Worten klickte ich mich auch aus der Konferenz.

Am Samstag kamen Leute, die unsere Möbel ins andere Haus brachten, wir kümmerten uns um den Kleinkram.

Alles endete in einem großen Chaos im Garten, als Bernd und Rachel Turner mit Sammy aus ihrem Kurzurlaub zurückkehrten. Ich vermutete, dass sie vermeiden wollten, dass sich ihre Wege mit unseren kreuzten und wir ihnen die Schuld geben würden.

Sammy, der Golden Retriever, dessen Fell in der Sonne glänzte, sprang mich erfreut an. Ich lachte und widmete mich einer ausführlichen Streicheleinheit.

»Schläfst du etwa?«, fragte Maike ungefähr eine halbe Stunde später.

»Der Hund hat sich auf mich gelegt und ich konnte mich nicht bewegen. Irgendwann bin ich dann halt eingeschlafen. Wie war es bei Lucy?«

»Wunderbar. Ich hatte noch nie so eine entspannende, erste Ferienwoche. Los, steh auf, Bruderherz. Wir haben zu tun.«

Sie reichte mir eine Hand und zog mich hoch.

Erst am späten Abend verließen uns die Gehilfen und wir schauten uns unser neues Haus an.

Im Erdgeschoss lagen Küche, Wohnzimmer, das Schlafzimmer meiner Eltern und ein Bad. Im zweiten Geschoss waren Maikes und mein Zimmer sowie ein gemeinsames Bad untergebracht. Eine ausklappbare Leiter führte auf den Dachboden, den Maike und ich neugierig besichtigten. Das Holz knarzte unter unseren Schuhen und die Kälte fraß sich durch unsere Kleidung.

»Schau mal, noch eine Leiter.«

Maike deutete auf eine Strickleiter, die zu einer Dachluke führte. Ich stieg als Erstes empor und drückte gegen die Luke.

»Du musst ziehen, Dummkopf«, wies Maike mich zurecht, deshalb zog ich am eisernen Griff. Ich musste mich anstrengen und mit aller Kraft ziehen, bis sich die Luke nach unten bewegte. Dabei verlor ich den Halt und stürzte nach unten.

Maike fing mich teilweise auf, teils fand ich aber auch mein Gleichgewicht wieder. Nur mein Fuß schmerzte ein wenig, da ich schlecht gelandet war. Als sich Maike versichert hatte, dass ich sicher stand, drängte sie sich an mir vorbei und kletterte zuerst durch die Dachluke.

»Wow!«, rief sie.

Gespannt folgte ich ihr und stieß ebenfalls einen erstaunten Laut aus. Wir befanden uns in einem kleinen, sauberen Dachzimmer mit hübschen Fenstern, durch die das Licht der untergehenden Sonne strahlte.

Der Raum hatte etwas, ich konnte nicht genau beschreiben, was mich an ihm faszinierte. Maike schien es ähnlich zu gehen.

»Ganz ehrlich, dieses Zimmer ist so viel besser als unsere unten. Und es passt verdammt gut zu dir.«

»Verdammt ja.«

»Wir sollten uns verdammt abgewöhnen.«

»Verdammt ja.«

Wir beide mussten lachen.

»Mom und Dad werden jetzt Nein sagen, wenn wir fragen, ob du hier einziehen kannst. Wir können morgen fragen.«

»Erstens, seit wann kannst du Gedanken lesen, Maike? Und zweitens, warum bist du so lieb?«

»Es würde mir nicht so gut gefallen wie dir. Außerdem ziehst du in einem Jahr weg, um eine Ausbildung zu machen oder zu studieren und ich werde mir das Zimmer klauen. Und ich sehe in deinen Augen, dass du dieses Dachzimmer unbedingt willst.« Maike lächelte mich liebevoll an, dann nahm sie meinen Arm. »Komm, ich hatte eine Woche lang keine Märchen.«

Am nächsten Morgen sprach ich das Thema sofort an. Mom und Dad hatten bis neun Uhr geschlafen. Ich setzte mich zu ihnen, eine Tasse dampfenden Tee und eine Schüssel Müsli vor mir.

»Du willst also auf den kalten Dachboden ziehen?«, fragte Dad und kratzte sich am Kopf, nachdem ich ihnen von meinem Plan erzählt hatte.

»Also erstens, drüben habe ich auch auf dem Dachboden gewohnt, zweitens, es ist ein kleines Dachzimmer, drittens, der Dachboden ist zwar kalt, das Dachzimmer aber tatsächlich nicht. Schaut es euch an.«

Ich nahm einen Löffel Müsli mit Haferdrink.

Nach dem Frühstück folgten meine Eltern mir in das Dachzimmer.

»Hier passen doch nicht all deine Sachen rein«, sagte Mom. »Aber ich muss zugeben, es ist ganz schön. Was meinst du, LL?«

Mom wandte sich an Dad, auch ich sah ihn flehentlich an.

»Ja, also es ist schon ganz schön.«

»Denk dir bloß keinen Grund aus, der dagegenspricht!«, mahnte ich ihn.

»Von mir aus kannst du hier einziehen.«

»Ich kann das Zimmer ein bisschen einteilen, wir haben ja noch diese Trennwand, und hier meine Hausaufgaben machen und schnitzen«, schlug ich vor und deutete auf die eine Seite des Zimmers.

»Dann bringen wir dein Bett hoch und stellen es hierhin«, fügte Mom hinzu und zeigte auf die andere Seite.

»Und dein Bücherregal.«

»Fantastisch!«, rief ich, kletterte die beiden Leitern hinunter und sprang in Maikes Zimmer.

»Sie haben es erlaubt!«, rief ich.

Maike quälte sich aus ihrem Bett, hüpfte zu mir und fiel mir um den Hals. Gemeinsam tanzten wir in ihrem Zimmer herum.

»Wann hast du denn dein Bett aufgebaut?«, fragte ich und dachte an mein eigenes, das in Einzelteilen auf dem vollgestellten Boden meines ursprünglichen Zimmers lag. Ich hatte letzte Nacht nur auf der Matratze geschlafen.

Ich drehte mich im Kreis und bemerkte, dass Maike all ihre Sachen schon aufgebaut und ordentlich eingeräumt hatte.

»Na, ich hab gestern und heute alles gemacht. In der Hinsicht bin ich nicht so faul wie du.« Sie knuffte mich.

Ich beneidete sie oft um ihre Ordnung.

»Du kannst mir ja beim Auspacken und Einräumen helfen.«

»Dein Zimmer wird nach zwei Tagen sowieso wieder unordentlich aussehen, also nein.«

Seufzend verließ ich ihren Raum und richtete mein neues Zimmer mit passender Musik und einer Tasse heißen Pfefferminztee ein.

Abends, nachdem Maike mich besucht hatte und wir unser Ritual durchgezogen hatten, sank ich auf die große Matratze, die sich mit zwei Seiten an die Wände anschmiegte. Auf das Bettgestell hatte ich verzichtet. Mom und Dad sollten es ins Gästezimmer stellen. Meinen Arbeitsbereich hatte ich mir einer Trennwand von meinem Entspannungs- und Schlafbereich abgetrennt. Gegenüber meinem Bett hatten wir eine gemütliche Kuschelecke mit vielen Kissen und Decken eingerichtet. Mehrere Lichterketten mit Polaroidfotos sorgten für die perfekte Stimmung. Meine Polaroidkamera, die Adam, Robin, Levi, July und Maike mir vor Jahren zu einem Geburtstag geschenkt hatten, stand neben den vielen Märchenbüchern in dem kleinen Bücherregal. Maike und ich sammelten schon seit unserer Kindheit Märchenbücher in verschiedenen Ausgaben.

Mein Blick fiel auf die Fotos, die neben meiner Matratze an der Lichterkette hingen. Meine Lieblingsfotos wollte ich immer nah bei mir haben. Auf einem waren July und ich abgebildet. Wir trugen beide einen roten Hoodie und strahlten in die Kamera. July hatte ihre schwarzen Haare geflochten. Mit ihrer braunen Hand wuschelte sie durch meine braunen Locken. Meine Brille war leicht verrutscht. July und ich waren People of Colour. Oft blieben die Blicke der Menschen an uns hängen, was mich störte, doch nach einiger Zeit hatte ich aufgehört, mich dagegen zu wehren.

Auf dem nächsten Foto lächelten Levi und ich in die Kamera. Dieses Foto war vor Jahren entstanden. Levi und ich kannten uns schon lange und so gab es noch heute Fotos, auf denen Levi wie ein Mädchen aussah. Levi war trans. Nachdem er mir das erzählt und die Bedeutung seiner Aussage erläutert hatte, hatte ich ihn, so gut ich konnte, unterstützt und war ihm nicht von der Seite gewichen, als er mit seinem Dad und anderen Erwachsenen darüber gesprochen hatte. Seit er seine Transition abgeschlossen hatte und Hormonspritzen bekam sowie sich regelmäßig von einer Freundin seines Vaters und Ärztin untersuchen ließ, war er glücklicher.

Ein weiteres Foto zeigte, wie ich neben Jules und Levi stand, Adam und Robin blickten überrascht in die Kamera und Toni machte eine Fotobombe, was July und mich zum Lachen brachte. Levi schaute ernst.

Jedes Mal, wenn ich dieses Foto sah, musste ich schmunzeln.

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