𝟛𝟟. 𝕊𝕔𝕙𝕨𝕦𝕝𝕖𝕣 𝕒𝕝𝕤 𝕕𝕦

»Hallo, Maike, ich wollte nur ganz kurz vorbeischauen«, rief ich und platzte in ihr Zimmer.

»Zum vierten Mal heute? Und zum zweiundzwanzigsten Mal in dieser Woche?«, fragte sie.

»Was? Zählst du mit?«

»Ja, Michi und ich kann dir sagen, dass es verdammt nervt. Soll ich das ab jetzt bei dir machen?«

»Ich mache mir nur Sorgen, seit du vom Dachboden gestürzt bist.«

»Soll ich jetzt auch sagen, dass ich mir Sorgen mache, weil du letztens einen Unfall hattest? Weil du gestolpert bist und täglich stolpern könntest?« Maike stand auf und drängte mich wütend zur Tür.

»Ich geh ja schon.« Ich seufzte, während ich ihr Zimmer verließ. Davor stand Mom.

»Ach, hallo, Michael. Ich wollte gerade zu deiner Schwester.«

»Frag sie bloß nicht, wie es ihr geht. Da reagiert sie biestig drauf«, warnte ich Mom vor.

»Oh, okay.«

Ich wandte mich von Mom ab und kletterte die Leitern zu meinem Zimmer hinauf.

Seit Maikes Unfall hatte ich kaum einen Gedanken an meine Sexualität verschwendet, da mir Maikes Gesundheit wichtiger war.

Außerdem war der Mut verflogen. Ich hatte mich noch nicht getraut, mit July und Levi zu reden.

»Hey Michi, ich habe eine Überraschung!«, rief July, stieg von Tonis Moped und rannte zu mir.

»Was denn für eine?«, fragte ich neugierig.

»Eine Überraschung sollte doch eigentlich eine Überraschung bleiben«, sagte July, nur um mich zu ärgern und rannte lachend los. Ich sprintete ihr hinterher.

»Juliette Ahlert! Verrate mir die Überraschung!«, schrie ich.

Als Antwort bekam ich nur ein Lachen. Ich verfolgte sie so lange, bis ich sie gefangen hatte und mit meinen Armen festhielt.

»Also, was ist das für eine Überraschung?«, fragte ich.

»Eine überraschende Überraschung«, antwortete July grinsend und entwand sich meiner Umarmung, um den Mopedhelm abzunehmen. »Okay, ich habe dich bei einem Dreibeinlaufwettbewerb angemeldet.«

»Was für ein Zeug?« Ich beugte mich etwas näher. Hatte ich sie falsch verstanden?

»Das hat man als Kind oft gemacht. Du suchst dir einen Partner, bindest zwei Beine zusammen, sodass ihr beiden dann mit drei Beinen laufen könnt und ihr müsst so schnell, wie es euch möglich ist, ins Ziel kommen.«

»Musste das sein?«, fragte ich.

»Ja, es musste sein!«

»Und wann ist der?«

»Am Freitag. Es gibt hundert Euro und ein paar Gutscheine zu gewinnen.«

Ich seufzte. »Können wir das vorher durchgehen?«

»Ich bin mir sicher, dass du ein Naturtalent darin bist. Komm, wir müssen uns beeilen.«

Ich warf einen Blick auf die Uhr und hastete los. Der Unterricht begann gleich.

»Wir sehen uns später!«, rief ich und rannte um eine Ecke.

»Guten Morgen, Michael. Kommt eigentlich dein Bus immer so spät oder warum bist du immer so unpünktlich?«, fragte Frau Heinrich.

»Noch hat die Stunde nicht begonnen«, sagte ich, eilte zu meinem Platz und holte mein Tablet heraus. »Und meine ganzen Sachen habe ich auch schon ausgepackt.«

Frau Heinrich verdrehte die Augen, allerdings wirkte sie belustigt.

In der ersten großen Pause liefen Toni und ich gemeinsam zur Cafeteria. Wir stritten uns nicht, doch ich hatte das Gefühl, dass Toni mir etwas Wichtiges verschwieg. Deshalb herrschte eine angespannte Stimmung zwischen uns.

Als ich mir gerade einen Stuhl vom Nachbartisch zu unserem heranschob, platzte Toni mit der Bombe.

»Ich kenne dein Geheimnis.« Ich riss meine Augen auf. Wusste er von dem Fluch? Wenn ja, wie?

»Du bist schwul.«

»Was?« Perplex starrte ich ihn an, bis ich begriffen hatte, was er gerade gesagt hatte. Woher wusste er das? Hatte er mich belauscht?

»Ich weiß es. Ich wollte dir nur sagen -«, Toni machte eine dramatische Pause, »ich bin schwuler als du.«

Wollte er mich schon wieder überbieten? Ging unser ewiger Kampf, besser als der andere zu sein, weiter?

Ich konnte mich nicht bremsen, als ich ihm widersprach. »Stimmt gar nicht. Ich bin der Schwulere von uns.« Eigentlich konnte niemand schwuler als jemand anderes sein. Schwulsein konnte man nicht messen. Dennoch wollte ich Toni widersprechen.

»Äh ne. Ich bin wirklich schwuler als du.«

»Ach tatsächlich? Und wie beweist du das?«, fragte ich und machte ihn damit sprachlos. Plötzlich spürte ich Blicke, die auf uns ruhten und schaute mich um.

Nicht nur meine Freunde, sondern auch ein paar Klassenkameraden und andere Schüler hatten das Schauspiel mitverfolgt.

»Die beiden wären echt süß zusammen«, sagte ein Junge zu einem anderen.

Toni und ich waren in Schockstarre verfallen. War das gerade ernsthaft passiert? Hatten das alle mitbekommen. Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief und wendete den Blick ab. Ich wollte nicht in Julys oder Levis vorwurfsvolle Augen sehen. Nun hatten sie es so erfahren und nicht persönlich.

Ich hob meinen Rucksack auf und stolperte davon. Die Blicke folgten mir.

»Michi, warte!«, rief Levi. Ich betrat einen leeren Flur und blieb stehen. Mein Herz klopfte schnell. Ich fühlte mich beschämt, weil Toni mich geoutet hatte und schuldig, weil ich es meinen besten Freunden noch nicht selbst gesagt hatte, obeohl ich es schon längst vorhatte.

»Es tut mir leid, Levi. Ich wollte es dir schon viel früher sagen. Und ich wollte es dir selbst sagen. Jetzt hast du es so mitbekommen.«

»Michi, das ist doch kein Problem. Es hat mich nur überrascht, weil du letztes Jahr mit Amy zusammen warst. Ich dachte, dass du bisexuell bist.« Levi trat zu mir und legte eine Hand auf meine Schulter.

»Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ich Amy nicht wirklich geliebt habe.«

»Oh, ach so.«

»Michi! Michi!« July blieb atemlos vor mir stehen. »Ich wusste es!«

»Du wusstest es?«, wiederholte ich.

»Ja, ich hab es die ganze Zeit gewusst!«, rief sie.

»Seit wann denn?«

»Weiß ich nicht. Schon ziemlich lange. Vielleicht ein paar Jahre. Maike und ich haben aber darauf gewartet, bis du selbst drauf kommst.« July grinste mich an.

»Seid ihr mir böse, weil ich es euch nicht früher gesagt habe? Eigentlich wollte ich schon vor Maikes Unfall darüber sprechen, aber dann ist Maike eingestürzt und danach habe ich mir solche Sorgen gemacht und später habe ich einfach keinen Mut mehr gefunden.« Ich dachte an die zahlreichen, verpassten Chancen, die ich verstreichen gelassen hatte.

»Michi, du kannst uns alles sagen. Außerdem weißt du doch, dass wir tolerant sind.« July legte ihre Arme um mich und zog auch Levi zu dieser Gruppenumarmung.

»Ja, ich weiß. Aber es wurde plötzlich zu so einer großen Sache für mich, dass ich immer unsicherer wurde.«

»Woher weiß Toni eigentlich davon? Hast du es ihm gesagt?«, fragte Levi neugierig.

»Nein, habe ich nicht. Die Frage habe ich mir aber auch schon gestellt.«

Am Freitag wartete ich nach der Schule auf July. Manche hatten mich im Laufe der Woche komisch angesehen und manche tuschelten über mich, wenn sie dachten, ich würde es nicht bemerken, doch auch wenn es mir auffiel, kümmerte es mich nicht. Ich ließ es nicht an mich heran. Sie sprachen darüber, dass ich schwul war und ich ignorierte dies geflissentlich. Die meisten freuten sich, dass ich mich geoutet hatte und klopften mir auf die Schulter oder lächelten mich an.

»Wo ist dieser Dreibeinlaufwettbewerb eigentlich?«, fragte ich July, als sie bei mir angekommen war.

»Toni bringt uns hin. Fahr ihm einfach hinterher.«

»Was macht Toni denn dort?«

»Er nimmt mich mit.«

»Ich kann dich doch auch mitnehmen.«

»Ja, aber ich habe Toni versprochen, vorher noch etwas bei ihm zu essen und er muss auch dahin.«

»Macht er auch mit?«

»Ja.«

»Dann sag mir einfach Bescheid, wenn ihr losfährt.«

Nach dem kurzen Gespräch schnappte ich mir Maike und fuhr mit ihr zum LLLustig und aß dort.

»Hast du schon mal bei einem Dreibeinlaufwettbewerb mitgemacht?«, fragte ich.

Maike zog die Augenbrauen zusammen. »Was für ein Zeugs?«

»Ungefähr so habe ich auch reagiert.« Ich erklärte ihr, wie so ein Lauf funktionierte.

»Ah, ja, das haben wir als Kinder oft gemacht.«

Ich riss die Augen auf. »Echt?«

»Ja, wir waren richtig gut. Zumindest laut Mom und Dad.«

»Dann werde ich mal sehen, wie ich das heute meistere. Ich erzählte Maike von dem Wettbewerb bei dem July uns angemeldet hatte.

»Klingt spaßig und es gibt sogar was zu gewinnen«, meinte sie.

»Ich brauche keinen Preis.«

»Dann gewinne für mich, Bruderherz. Ich kann den Preis vielleicht gebrauchen oder weiterverschenken.«

»Mache ich, Schwesterherz.«

Ich stieg von meinem Moped und schaute mich um. Ich war auf einem großen Platz gelandet und drängte mich durch die Mengen. Weiter hinten entdeckte ich eine abgesperrte Strecke. Ein paar Kinder spielten am Absperrband, bis sie von einer streng schauenden Frau ermahnt wurden.

Menschen bekamen Nummern ausgehändigt und wurden angewiesen, sich bei einer Frau zu melden, wo sie die Bänder kriegten.

July holte ein blaues für uns.

»Du weißt aber schon, dass rot meine Glücksfarbe ist«, sagte ich.

»Blau ist doch auch nicht schlecht. Außerdem gab es nur noch blau, grau und braun. Toni, kommst du her?«

Jules wandte sich zu Toni.

»Warum? Soll ich helfen?«

»So in der Art.«

Mit hoch gezogenen Augenbrauen näherte er sich.

Als er neben mir stand, bückte sich Jules, schob meinen Fuß zu Tonis und band sie zusammen.

»Ähm, sag mal, July, was machst du da?«, fragte ich verwirrt.

»Ihr seid doch ein Team.«

»Was?«, riefen Toni und ich gleichzeitig.

»Oh, habe ich vergessen, euch das zu sagen? Ups.« Sie hatte uns absichtlich nichts gesagt.

»Wie konntest du nur?«

»Ach Jungs, jetzt stellt euch nicht so an und macht das einfach. Ich feuere euch an.«

Jules rannte davon.

»Okay, kannst du das?«, fragte ich Toni.

»Nein, ich weiß nicht, ob ich das jemals gemacht habe.«

Toni stand links von mir und strich sich nervös über seine blonden Haare. Bei der Stelle, an der sich unsere Beine streiften, kribbelte es.

»Wir probieren es einfach aus.«

Die Teilnehmer wurden an die Startlinie gebeten. Toni und ich hatten dabei ein paar Schwierigkeiten. Wir wären fast gestolpert, wenn sich Toni nicht an dem Geländer, das die Zuschauer von der Laufbahn abgrenzte, festgehalten hätte.

»Auf die Plätze!«, rief eine weibliche Stimme.

»Sollen wir irgendetwas machen?«, fragte ich. »Weißt du die Bahn?«

»Wir folgen einfach den anderen.«

»Gute Idee.«

»Fertig! Und Los!«, schrie jemand.

Toni und ich hoppelten los und stürzten schon in den ersten Sekunden.

»Verdammt«, fluchte ich und rappelte mich auf. »Wir müssen zusammen arbeiten. Jetzt einen Schritt vor mit dem gemeinsamen Bein, und jetzt das Bein außen, innen, außen.« Ich gab einen Rhythmus vor, bis wir uns nur noch darauf konzentrieren. Plötzlich kamen wir einwandfrei voran und überholten die letzten Teams.

Jules feuerte uns von den Tribünen aus an. Wir beeilten uns noch mehr und da wir den Dreh herausgefunden hatten, überholten wir mit der Zeit alle Teams, sogar das erste.

»Und wohin jetzt?«, fragte ich. »Du hast gesagt, dass wir den anderen einfach folgen!«

»Wir gehen einfach zu diesen Hindernissen.«

»Also gehen würde ich das hier nicht nennen.«

Toni verdrehte die Augen und steuerte das erste von vier Hindernissen an.

»Bei drei springen wir beide«, bestimmte er und zählte.

Das erste Hindernis, das mir ungefähr bis zu den Knien reichte, überwanden wir fehlerlos.

Beim zweiten Hindernis blieb unser gemeinsames, drittes Bein hängen. Ich stieß eine Menge Schimpfwörter aus.

Das letzte und höchste schafften wir knapp. Ich streifte es, dennoch blieben wir nicht hängen.

»Die anderen Teams holen auf«, warnte ich Toni. »Gleich sind sie bei uns.«

»Dann mach mal schneller«, drängte Toni.

»Ich bin genauso schnell wie du!«

»Ja, meckere nicht herum.«

»Hallo? Du meckerst rum!«, entgegnete ich.

»Strengt euch an, Turlu!«, rief Jules.

»Was hat sie gesagt?«, fragte ich Toni.

»Kein Plan. Turtur oder so. Vielleicht steht das Tu für Turner. Sie feuert mich an.«

»Turlu war's. Turlu hat sie gesagt. Und das Lu für Lustig. Ja, das ist logisch.«

Wir sahen, wie uns ein Team überholte und ich fluchte. Ich hastete nach vorne, wobei ich Toni etwas außer Acht ließ. Allerdings hielt er gut mit.

»Dort hinten ist die Ziellinie«, rief Toni und deutete auf das Band, das sich zwischen zwei Bäume spannte.

»Wir werden es zerreißen. Also gib alles.« Wir sprinteten das letzte Stückchen. Das Team vor uns war uns immer einen Schritt voraus, wortwörtlich.

»Nur noch wenige Meter bis zur Ziellinie«, kommentierte ich.

»Ich kann es selbst sehen«, knurrte Toni.

Wir würden das Team vor uns wohl nicht mehr überholen können.

»Spring«, flüsterte Toni. »Und zwar – jetzt!«

Ich holte tief Luft und sprang ab. Wir stürzten über die Ziellinie, rissen zuerst das Band ein und prallten auf den Boden.

»Haben wir gewonnen?«, fragte ich und drehte mich zu Toni.

»Ja!«, rief er erfreut.

Mir fiel auf, dass unsere Gesichter nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt waren. Mein Atem beschleunigte sich automatisch.

»Turlu hat gewonnen!«, brüllte Jules und tänzelte zu uns. »Ihr habt gewonnen.« Sie bot uns ihre Hände an. Toni und ich wechselten einen Blick und wohl auch einen Gedanken, nahmen sie an und zogen sie zu uns auf den Boden. Ich rieb mir meine Hüfte, die ein wenig schmerzte.

»Mach das nie wieder ohne unsere Zustimmung«, wandte ich mich an July.

»Ihr habt doch beide zugestimmt«, antwortete sie scheinheilig.

»Weil ich dachte, dass ich das mit dir mache«, sagten Toni und ich gleichzeitig.

»Was wäre eigentlich, wenn wir das nachholen? Wir könnten einen Vierbeinlauf machen«, schlug ich vor.

»Grandiose Idee.«

»Jetzt?«, fragte Toni unsicher.

»Natürlich jetzt, wann sonst?« July grinste ihn an. »Na komm. Worauf wartest du noch?«

Toni und ich standen gemeinsam auf, July holte noch ein Band und zu dritt stellten wir uns an die leere Bahn. Jules verband mein rechtes Bein mit ihrem linken und ihr rechtes mit Tonis linkem. Dann hoppelten wir los. Toni und ich hatten schon unseren gemeinsamen Rhythmus gefunden, July musste sich aber noch anpassen.

Wir ließen den Nachmittag schön ausklingen, zeigten unsere Urkunde überall herum, die wir nach dem Vierbeinerlauf abgeholt hatten und fuhren bald nach Hause.

July hatte mich daran erinnert, dass wir in einerWoche Wandertag hatten. Wir würden nach Leipzig fahren. Dort gab es auch eineUniversität, die ich mir gerne anschauen würde, um mich dort zu bewerben.Vielleicht machte ich auch erst ein soziales Jahr. July wollte im Auslandreisen und Levi ein Jahr lang Geld verdienen, um sich selbst zu zeigen, dass ernicht von dem Geld seines Vaters abhängig war und um selbstständiger zu werden.Er überlegte sogar, im LLLustig anzufangen.

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