𝟚𝟞. 𝕊𝕠𝕣𝕘𝕖 𝕦𝕞 𝕊𝕠𝕣𝕘𝕖 𝕦𝕞 𝕊𝕠𝕣𝕘𝕖
Ich rannte durch einen langen, dunklen und kalten Tunnel, der mich von beiden Seiten einengte. Meine Schultern rieben an den Steinwänden neben mir. Scharfe Ecken, die hervorragten, schnitten in meinen dünnen Pullover ein und hinterließen Kratzer auf meinen Armen. Trotz des langärmligen Oberteils fror ich.
Am Ende dieses Tunnels stand eine Gestalt in einem blauen Hoodie, die sich durch die blonden Haare fuhr. Toni wartete dort auf mich und streckte mir die Hände entgegen, als könnte er mich aus diesem Tunnel, gespickt mit mir noch unbekannten Gefahren und einer zusammendrängenden Enge, befreien. Er stand da, als wollte er mich retten, als wäre er bereit, mit mir bis ans Ende der Welt zu tanzen und vor diesem dunklen Tunnel zu flüchten.
Ich schrie seinen Namen, immer und immer wieder, bis die rechte Mauer bröckelte und schließlich auf mich fiel und mich unter sich begrub. Ich schreckte auf.
»Michi!«, rief July und rüttelte an meiner rechten Schulter.
»Was? Was ist los? Wer? Wie? Hä?« Ich rieb über meine Arme, auf denen sich Gänsehaut gebildet hatte.
»Du hast geträumt und dabei Tonis Namen gerufen. Na ja, es klang eher nach Antonia.« July grinste.
»Sag mal, wie viel Uhr ist es?«, fragte ich.
»Keine Ahnung. Ziemlich spät oder eher ziemlich früh.« Sie gab mir meinen Wecker.
»Es ist mitten in der Nacht? Wie kommst du auf die Idee, mich zu wecken?«
Jules zuckte mit den Schultern.
»Und wie bist du hier reingekommen?«
»Durch dein Fenster. Du hast es offen gelassen.«
»Jetzt weiß ich, warum mir so kalt ist«, murmelte ich.
July reichte mir einen Pullover, den ich anzog. Sofort schmiegte sich eine wunderbare Wärme um mich. Diesen kuscheligen Pullover zu tragen, fühlte sich an, als würde ich eine Umarmung von einer Person bekommen.
Sofort musste ich an Tonis und meinen Moment in Levis Keller denken. Ich hatte seine Umarmung genossen und mich geborgen gefühlt.
»Was machst du mitten in der Nacht hier?«, fragte ich.
»Ich konnte bei mir nicht schlafen und du sagtest, ich sei hier immer willkommen. Ich kann auch wieder gehen, wenn du das möchtest.«
»Nein, du kannst gerne bleiben. Komm her.« Ich hielt meine Decke hoch und sie kroch darunter.
»Hier ist es schön warm«, murmelte sie und kuschelte sich an mich. Nur ein paar Minuten später war sie eingeschlafen.
Ich betrachtete sie. Sie sah so friedlich aus. Im Schulalltag wirkte sie oft gestresst und so, als würde sie eine schwere Last auf ihren Schultern tragen. Vielleicht hatten sich ihre Eltern in letzter Zeit gestritten und sie hatte weder mir noch Toni etwas davon erzählt.
Oder sie fand die Klausurenphase einfach nur anstrengend.
∞
Die Tage wurden immer kürzer und dunkler, der Wind immer eisiger und ich fuhr jeden Tag vorsichtiger zur Schule und nach Hause.
Wenn ich nicht für Klausuren oder Arbeiten lernte, half ich im LLLustig aus, verbrachte Zeit mit Levi, Jules und Maike oder schnitzte.
Aus der Figur hatten sich zwei Köpfe herausgebildet, die eher einem Fantasiewesen ähnelten als einem Menschen oder einem echten Tier. Nun schnitze ich weiter. Erst überlegte ich, Federn in das Holz einzuarbeiten, dann entschied ich mich aber für Schuppen. Für diese brauchte ich einige Zeit. Sie wurden klein und fein.
Nach ein paar Stunden betrachtete ich das bisherige Werk. Zwei Köpfe waren zueinander gerichtet, in den Augen funkelte eine wilde Leidenschaft. Die Oberkörper waren geprägt von feinen Schuppen.
Den unteren Teil hatte ich kaum angetastet. Demnach war das Stück Holz dicker als der geschnitzte Teil. Daraus konnte ich doch noch Flügel gestalten.
Nachdem ich einen Blick auf die Uhr geworfen hatte, seufzte ich, räumte den Platz auf und begann, für einen Vortrag Informationen zu suchen.
∞
»Heute habe ich wieder eine Fahrstunde«, teilte Maike mir begeistert mit. Wir saßen an unserem Küchentisch und frühstückten. Dad arbeitete schon im LLLustig. Mom war vorbeigekommen, um uns vegane Pancakes zu bringen und hatte sich zu uns gesetzt.
»Du schreibst mir in der Pause, wie es gelaufen ist, oder May?«
»Klar doch, Mic. Ich bin so aufgeregt.«
»Du kriegst das hin. Deine erste Fahrstunde lief doch auch sehr gut, oder nicht?« Mom nahm sich einen Pfannkuchen vom Stapel.
»Ja, aber jetzt bin ich irgendwie noch unsicherer, weil ich jetzt schon so einen guten Eindruck gemacht habe und den nicht versauen möchte.«
»Du bist Anfängerin. Da machst du Fehler, das gehört dazu«, beruhigte ich sie. »Deine Fahrlehrer wissen das auch. Niemand wird dich verurteilen, wenn du schlecht fährst, solange du deinen Führerschein noch nicht hast. Du kannst ja bewusst einen schlechten Eindruck bei deinen Fahrlehrern hinterlassen, um sie zu ärgern.«
Mom schüttelte den Kopf, doch Maike schmunzelte.
»Das werde ich ganz sicher nicht tun.«
Maikes Fahrstunde begann diesmal in der Schule, also nahm ich sie mit.
»Vergiss nicht, mir nachher zu schreiben«, erinnerte ich sie, wobei ein mulmiges Gefühl in mir aufstieg.
»Ich versuche, daran zu denken«, rief sie mir hinterher.
Sie eilte zu dem Fahrlehrer. Ich seufzte und wandte mich um.
»Guten Morgen, Michi«, sagte Levi. »Was ist los? Du machst ein echt komisches Gesicht.«
»Morgen Levje«, murmelte ich.
»Hey, ist alles in Ordnung?«, hakte Levi nach.
»Was? Ach ja, nein. Ich mache mir nur Sorgen um Maike. Sie hat heute ihre zweite Fahrstunde überhaupt und ich habe Angst, dass ihr etwas passiert«, sagte ich.
»Es wird schon alles gut gehen«, meinte Levi.
»Hoffentlich.« Graue Wolken zogen sich über den Himmel und verdecken das Licht. Wirkte der Fluch nur an dem sechzehnten Geburtstag eines Menschen oder bis zu jenem Geburtstag? Ich konnte nicht anders, als an den Fluch zu denken, von dem Opa uns erzählt hatte.
Bei einer Fahrstunde konnte so vieles schiefgehen.
Das beklemmende Gefühl ließ mich nicht los. Während des Unterrichts dachte ich ständig an den Fluch, an Maike und an all die zahlreichen Arten, wie sie sich verletzen und sterben könnte.
War es ein Fehler gewesen, sie mit in die Schule zu nehmen, statt sie zu Hause einzusperren? Sorgte ich mich zu sehr um sie? Passierte ihr gerade etwas? Was waren meine letzten Worte, die ich an sie gerichtet hatte? Welche Worte hatte Maike zuletzt an mich gerichtet?
Tief durchatmen. Sobald die Klingel läutete, zückte ich mein Handy und schrieb Maike eine Nachricht. Dann wartete ich ein paar Sekunden. Um mich herum stürmten meine Kurskameraden aus dem Raum.
»Michi, wie lange willst du noch hierbleiben?«, fragte Toni.
»Was? Warum?«
»Du starrst seit fünf Minuten reglos auf dein Handy.«
Ich überprüfte die Uhrzeit und stellte fest, dass Toni recht hatte.
Ich richtete mich auf und packte meine Sachen zusammen, bevor ich Toni in die Cafeteria folgte.
Dort starrte ich mein Handy an, als hoffte ich auf eine alles verändernde Nachricht, bis July es mir wegriss. Ich schaute sie überrascht an, da ich mich zu sehr auf das Handy fokussiert hatte. Jules sah müde und erschöpft aus.
»Du hast dein Handy nicht einmal an«, sagte sie.
»Maike wollte mir schreiben«, erklärte ich.
»Du wirst schon merken, wenn Maike dir schreibt. Ich habe dein Handy auf laut gestellt. Jetzt wird dir ihre Nachricht auf keinen Fall entgehen.«
Ich wusste, was July sagte, dennoch langte meine Hand nach meinem Handy.
»Michi, sie wird dir schon noch schreiben, aber erst mal solltest du dich beruhigen. Du wirkst so unruhig.«
»Er ist doch immer unruhig«, mischte sich Levi ein.
»Ja, aber heute ist er anders unruhig. Unruhig auf eine nervöse Art und Weise.«
Jules und Levi versuchten in der Pause, mich abzulenken. Ich schätzte ihre Versuche, doch es brachte nicht viel. Meine Gedanken schweiften ab.
In der nächsten Stunde hatte ich eine Freistunde. July hatte mir mein Handy wiedergegeben. Maike hatte mir immer noch nicht geschrieben, weshalb sich das mulmige Gefühl in meinem Magen verstärkte.
Ich hielt es nicht mehr aus und rief sie an, auch wenn sie jetzt Unterricht hatte.
Wie erwartet ging sie nicht ran. Wahrscheinlich hatte sie ihr Handy ausgeschaltet, um im Unterricht aufzupassen.
Um mich ein wenig abzulenken, schaute ich mich in der Cafeteria um, die sich geleert hatte. Nur Toni saß noch auf seinem Platz und zeichnete auf seinem Tablet.
Ich nahm mein eigenes Tablet heraus und las mir meine Notizen von Deutsch durch. Allerdings schaffte ich es nicht, mich vollständig darauf zu konzentrieren.
Als mein Handy klingelte, ging ich sofort ran, ohne vorher zu überprüfen, wer mich anrief.
»Maike?!«
»Ja, ich bin es. Du hast mich vorhin angerufen.«
»Ja, weil du mir in der Pause eigentlich schreiben wolltest, es aber nicht gemacht hast.«
»Tut mir leid, mir war nach der Fahrstunde nur ein wenig schwindelig. Deshalb hat Mom mich abgeholt. Ich hatte bisher keine Zeit, dir zu schreiben.«
»Was? Dir ist schwindelig?!«, rief ich aus.
»Mic, beruhige dich. Mir geht es schon wieder besser. Mom lässt mich nur nicht zurück in die Schule, also bleibe ich heute für den restlichen Tag zu Hause.«
»Ich komme.«
»Was? Nein. Warum?«
»Ich bin gleich da.«
»Mic, du hast Schule!«
»Ich habe Freistunde.«
»Michael, mir geht es gut. Du musst nicht den großen Bruder spielen.«
Mit diesen Worten legte Maike auf. Läge kein Fluch auf meiner Schwester, würde ich nicht den großen Bruder spielen. Da Opa aber vorhergesagt hatte, dass Maike nach ihrem sechzehnten Geburtstag nicht mehr leben würde, musste ich es doch tun.
»Michi?«
»Was?!« Ich hatte gerade keinen Nerv für irgendjemanden. Wer wagte es, mich genau jetzt anzusprechen?
»Was machst du da?«
Toni hatte sich vor mich gestellt und versperrte mir den Weg.
»Das geht dich nichts an.« Ich versuchte, mich an dem Idioten vorbeizudrängen, doch er packte mich und hielt mich fest.
»Ich habe ein Teil des Gesprächs mitgehört. Ich weiß nicht, warum du dir solche Sorgen machst. Maike war schwindelig, ist jetzt zu Hause und ihr geht es wieder gut. Das hat sie dir sogar selbst per Telefon gesagt. Warum machst du dir solche Sorgen? Du musst echt nicht zu ihr fahren.«
»Doch, muss ich.« Ich musste mich versichern, dass es meiner kleinen Schwester wirklich gut ging. Was, wenn sie ausrutschte, wenn sie sich ein Glas Wasser aus der Küche holen oder die Treppe herunterstolpern würde?
»Du behütest sie zu sehr. Maike muss lernen, auf eigenen Beinen zu stehen und ihr eigenes Leben zu leben. Maike ist alt genug.«
Vielleicht würde sie ja nicht älter werden, fügte ich bissig in meinen Gedanken hinzu.
»Halt die Klappe!«, rief ich. »Du hast einfach keine Ahnung. Also lass mich in Ruhe!«
Ich stampfte mit meinem Fuß auf. Das fühlte sich wunderbar an, weshalb ich es noch einmal tat. Dann rannte ich zu meinem Moped, setzte meinen Helm auf und raste los.
Zu Hause eilte ich in Maikes Zimmer, wobei ich auf den Weg vor lauter Hast zweimal stolperte. Meine Schwester lag in ihrem Bett und hörte durch Kopfhörer Musik. Als sie bemerkte, dass jemand in ihrem Zimmer stand, legte sie die Kopfhörer und ihr Handy weg.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
»Michi? Was machst du hier? Ich habe dir gesagt, dass du nicht kommen sollst!«
Maike funkelte mich wütend an, doch das war mir egal. Ihr ging es gut. Ihr fehlte nichts. Und mein mulmiges Gefühl war auch verschwunden.
Mit wenigen Schritten durchquerte ich das Zimmer, setzte mich auf ihr Bett und zog Maike in meine Arme.
»Ich weiß, dass du dir nicht so viele Sorgen machst wie ich. Aber ich könnte jeden Moment eine Schwester verlieren. Nicht nur eine Schwester, sondern einen Menschen, der mir alles bedeutet.«
Maike setzte sich auf und schaute mir fest in die Augen.
»Ich könnte auch jeden Moment einen Bruder verlieren, der möglicherweise irgendwann sein eigenes Leben aufs Spiel setzen wird, um meins zu retten. Oder der irgendwann tödlich mit dem Moped hinfliegt. Opa hat vielleicht gesagt, dass ich sterben könnte. Doch ihr könntet genauso gut sterben. Euch kann genau wie mir alles passieren. Also pass einfach selbst auf dich auf.«
Maike schien immer noch wütend auf mich zu sein. Sie hatte es satt, dass sich jeder um sie sorgte.
»Wenn ich demnächst sterbe, dann liegt das nicht an einen bescheuerten Fluch, sondern am natürlichen Kreislauf des Lebens. Menschen werden geboren, Menschen leben, Menschen sterben. Punkt.«
Maike drehte sich weg, steckte ihre Kopfhörer wieder ein und ignorierte mich, also fuhr ich zur Schule zurück.
∞
Abends verkroch ich mich in meinem Zimmer. Jetzt hätte ich Amy von meinem Tag erzählt, ich hätte ihr erklärt, was es mit dem Fluch auf sich hatte und sie hätte mich beruhigt und mich wieder aufgebaut. Doch wir hatten uns getrennt und sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Und vielleicht war das auch besser so. Ich hätte sie irgendwann verletzt, weil ich gespürt hatte, dass die Beziehung nicht lange halten würde.
Würde ich mich irgendwann richtig verlieben können, ohne ein komisches Gefühl, dass mir sagte, dass es falsch wäre?
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