𝟙𝟟. 𝕍𝕖𝕣𝕤𝕦𝕖𝕤𝕤𝕖𝕟 𝕦𝕟𝕕 𝕧𝕖𝕣𝕤𝕒𝕝𝕫𝕖𝕟

 In den nächsten Tagen nahm meine Sorge um Maike zu. Sie sprach kaum mit mir, was sich nur mit der Zeit änderte.

Am Sonntagnachmittag lernte ich für die Arbeit in Mathe, wobei ich mich ziemlich aufregte. Dieses eine Thema des Stoffgebiets verstand ich erst, als ich mir ein paar Videos dazu angeschaut hatte.

Abends klingelte es an unserer Tür. Mom machte auf, während Maike und ich zur Treppe schlichen, um zu lauschen.

»Guten Tag, Lena. Wir dachten, wir versüßen uns allen den schönen Abend und kochen gemeinsam. Alle miteinander. Was haltet ihr davon?«

»Lorenzo, komm doch mal her«, rief Mom, und Dad eilte zur Tür. »Was hältst du von dieser Idee?« Dad hatte natürlich mitgehört, was Mom ganz genau wusste.

»Warum nicht? Ich rufe Michael und Maike. Die wollen bestimmt am ganzen Spaß teilhaben.«

Maike und ich wechselten bedeutungsvolle Blicke, da wir den sarkastischen Unterton in Dads Aussage wahrgenommen hatten.

Als Dad uns rief, versammelten wir uns in der Küche. Bernd und Rachel hatten Toni mitgezerrt. Er sah wie wir unglücklich aus. Dieser Abend würde nicht gut enden.

»Na, wie lief das Mathelernen?«, flüsterte Toni belustigt.

»Sag mal, stalkst du mich?«, fragte ich entrüstet, worauf Toni grinste.

»Also ich wäre für selbst gebackene Pizza«, meinte Bernd.

»Darauf hätte ich auch Lust. Eine ganz hervorragende Idee, Schatz.«

»Also ich würde lieber Lasagne essen«, meinte Mom.

»Ich auch«, stimmte Dad zu. Vier erwartungsvolle Blicke trafen uns Kinder.

»Ähm Pizza«, murmelte ich überfordert.

»Lasagne«, sagte Maike.

Wir wandten uns alle Toni zu.

»Ich enthalte mich.«

»Anton, bitte entscheide dich«, bat Rachel.

»Ich habe mich dafür entschieden, mich zu enthalten«, entgegnete dieser.

»Warum machen wir nicht beides? Ich besuche morgen meine Mutter. Da kann ich ihr das übrig gebliebene Essen mitbringen«, schlug Mom vor.

»Dann kochen wir beide Gerichte.«

Nur wenige Minuten nachdem wir begonnen hatten, stahl ich mich als Erster davon, um aufs Klo zu gehen. Diese kurze Verschnaufpause nutzte ich, um Jules vollzujammern.

Als ich schuldbewusst wieder zurückkehrte, hielt ich es nicht lange aus, ohne genervt zu sein. Mom und Dad hatten mit Rachel und Bernd mehr Meinungsverschiedenheiten als Toni und ich.

Maike verließ ein paar Minuten später den Raum und zog Toni und mich hinter sich her. »Ich muss denen ganz dringend ein ähm Geheimnis erzählen.«

Wir atmeten alle drei auf.

»Ich weiß nicht, ob ich ein schlechtes Gewissen haben sollte, weil wir unsere Eltern gerade alleine gelassen haben. Andererseits sind die super nervig«, meinte ich, während ich mich neben Maike auf das Sofa quetschte.

»Da stimme ich dir ausnahmsweise zu, Michi. Sie benehmen sich schrecklich. Es ist einfach nicht auszuhalten.«

Die Küche, die mir normalerweise riesig vorkam, war anscheinend geschrumpft. Nach unserer Pause kochte ich Wasser auf und goss drei Tassen Tee ein.

Dann nahm ich eine Tasse, ließ mich absichtlich von Toni anrempeln und steckte ein, dass dabei heißes Wasser auf meinem Pullover landete. »Bei diesem Durcheinander können wir keinen Tee trinken, ohne ihn zu verschütten. Wir sollten ihn draußen trinken.«

Schon wieder saßen wir auf dem Sofa.

Während des Abends fielen uns alle fünf Minuten Ausreden ein, mit denen wir uns davonstehlen konnten, was dazu führte, dass unsere Eltern das Essen alleine zubereiteten, durch unser ständiges Auftauchen aber annahmen, dass wir ihnen halfen.

Als beide Gerichte fertig zubereitet auf den Tisch gestellt wurden, setzten wir uns und verteilten die Pizza und die Lasagne. Ich wurde von Toni auf der einen und Maike auf der anderen Seite eingegrenzt.

Dad probierte als Erster von der Gemüsepizza und griff sofort nach einem Glas Wasser. Als Maike sich ein Stück Pizza in den Mund schob, begann sie, zu husten, sprang auf und hastete zum Waschbecken, wo sie den Bissen ausspuckte und einige Schlucke trank.

Ich misstraute der Pizza und probierte direkt ein Stück der Lasagne. Sie schmeckte viel zu süß.

»Wer hat da so viel Zucker reingetan?«, stieß ich aus und spülte das Stück mit Tee herunter.

»Wovon sprichst du, Michael?«, fragte Rachel zuckersüß.

Ich bedeutete ihr, ein Stück der Lasagne zu essen, was sie tat.

Bevor Rachel etwas sagen konnte, aß Mom ein Stück der Lasagne und verzog das Gesicht. »Was habt ihr mit der Lasagne gemacht?«, fragte sie und funkelte Rachel und Bernd böse an.

»Ihr habt die Pizza versalzen!«, beschuldigte Rachel.

»Weil ihr Zucker in die Lasagne gestreut habt.«

»Ihr habt doch zuerst zu viel Salz auf die Pizza getan.«

»Weil die Packung umgefallen ist.«

»Du hast sie absichtlich umgestoßen.«

Ich verdrehte die Augen und murmelte: »Jemand sollte nach Sammy sehen.«

Maike und Toni begleiteten mich nach draußen zum Hund.

»Ich hoffe, die kommen nicht noch einmal auf die Idee, gemeinsam zu kochen.« Toni kniete sich hin und streichelte Sammy. Auch ich hockte mich zu ihnen und strich durch das weiche Fell.

Nachdem Tonis Familie in ihr Haus zurückgekehrt war, kuschelten Maike und ich uns in die gemütlichen Kissen und Decken und schlugen ein sehr altes, abgenutztes Märchenbuch auf.

»Das hat mal Oma gehört, doch sie hat gesagt, ich kann es behalten. Die Erinnerungen, die an diesem Buch hängen, machen sie zu traurig«, sagte ich.

»Welche Erinnerungen?«

»Ich weiß es nicht, aber ich hatte schon immer das Gefühl, dass Oma uns etwas verschweigt«, bemerkte ich.

»Wahrscheinlich will sie es uns nicht sagen. Welches Märchen lesen wir heute? Ich hätte Lust auf ein Unbekannteres.« Maike zog das Buch näher zu sich heran und strich mit dem Finger über die Titel im Inhaltsverzeichnis, dann blickte sie mich an.

»Ich glaube, ich würde wieder ein Teil deines Märchens hören. Nenne mir einen weiteren Grund, warum du Toni so hasst.«

»Okay.« Ich dachte kurz nach. »Fünfte Klasse. Da hatten wir mal eine Phase, wo wir viel miteinander zu tun hatten. Wir mussten gemeinsam ein Projekt machen. Wir waren ziemlich schnell fertig, doch die anderen aus unserem Kurs nicht. Deshalb durften wir unser Projekt noch nicht vorstellen und vertrieben uns die Zeit gezwungenermaßen mit Quatschen. Toni lästerte immer wieder über seinen besten Internetfreund, mit dem er sich am Telefon gestritten hatte. Ich konnte es irgendwann nicht mehr hören. Toni redete hinter seinem Rücken über seinen besten Freund. Das war sehr gemein und ich musste mir alles anhören. Bei seinem besten Freund tat er natürlich, als wäre alles in Ordnung.«

»Er hintergeht andere und lästert selbst über seine besten Freunde?«, hakte Maike ungläubig nach.

»Exakt, das hat er in der fünften Klasse getan. Ob er das immer noch macht, weiß ich nicht. Über solche Sachen reden wir nicht.«

Wir schwiegen einen Moment.

»Manchmal kommt ihr richtig gut klar«, meinte Maike plötzlich.

»Ich habe das Gefühl, dass eine Art Hassliebe zwischen uns besteht. Manchmal hassen wir uns und streiten nur und manchmal kommen wir ganz gut miteinander klar und verhalten uns ganz normal. Ich weiß auch nicht, woran es liegt. Ich versuche, nicht so oft auf den Idioten wütend zu sein, doch dann tut er so was Dummes und ich muss mich darüber aufregen und mich rächen und dann rächt er sich wieder und so geht es immer weiter. Wir sind in einem Teufelskreis gefangen.«

Ich beobachtete amüsiert, wie Toni von meiner Nachricht geweckt wurde, nach seinem Handy kramte und sich mit genervtem Gesichtsausdruck meine ziemlich unnötige, morgendliche Nachricht durchlas. Als er begonnen hatte, sich seinen Wecker eine Minute früher zu stellen, hatte ich angefangen, ihm eine Minute früher eine Nachricht zu schicken. Das hatte dazu geführt, dass Toni insgesamt eine halbe Stunde früher geweckt wurde, als er wollte. Seitdem ließ er sich von meiner Nachricht und nicht von seinem Wecker wecken.

Am Nachmittag fuhr ich hinter Toni nach Hause. Als wir beide uns schließlich in der Scheune trafen, beachtete ich ihn nicht, bis er mich ansprach.

»Kannst du bitte aufhören, mich ständig mit deinen komischen Nachrichten zu wecken? Mir einen Punkt zu schreiben, ist so unnötig.«

»Ich finde es nicht unnötig. Mir macht es echt viel Spaß.«

Ich grinste. Vorhin hatte ich die Mathearbeit mit einem Hochgefühl abgegeben. Ich war überzeugt, eine gute Note zu bekommen. Außerdem hatte ich eine gute Note in Musik erhalten. »Du kannst doch deinen Ton ausschalten, oder nicht?«

»Nein, das geht nicht.« Toni biss die Zähne zusammen. »Dann schalte ich nämlich auch meinen Weckerton aus. Ich habe es schon probiert.«

»Na ja, dein Pech.«

Ich verließ die Scheune und überprüfte, wo Maike steckte. Sie hatte ihre Schulsachen ordentlich auf ihrem Schreibtisch platziert, doch sie arbeitete nicht, sondern schaute sich Videos auf ihrem Handy an. Ihr ging es gut.

»Solltest du nicht lernen?«, fragte ich und deutete auf ihre Materialien.

»Bin schon fertig. Also fast. Den Rest mache ich dann morgen früh vor der Schule«, sagte sie.

Ich verdrehte die Augen.

»Hast du nicht auch Lust, jemanden zu stalken?«, fragte sie mit einem Funkeln in den Augen.

»An wen denkst du denn, Schwesterchen?«

»Na an die Turners.«

Maike kramte ein altes Fernglas, das unsere Eltern ihr einmal zum Geburtstag geschenkt hatten, aus einer Schublade, wischte den Staub ab und sprang auf.

»Na gut«, murmelte ich und folgte ihr in mein Dachzimmer.

Sie setzte sich an das Fenster und schaute durch das Fernglas.

»Wow, der hat aber ein ordentliches Zimmer. Schau mal.« Sie reichte mir das Fernrohr. Ich setzte es an und blickte in Tonis Zimmer. Toni hatte sein Bett gemacht, nur eine Hose und ein Poloshirt hingen über einen Stuhl, seine Kabel waren fein säuberlich eingewickelt, auf seinem Schreibtisch stand ein kleiner Stapel Schulbücher, daneben lag ein einzelner Stift sowie sein Tablet. Ich konnte kein unordentliches Fleckchen in seinem Zimmer ausmachen.

Als Toni sein Zimmer betrat, bemerkte er eine Falte auf seiner Bettdecke, lief zu ihr und strich sie glatt, dann richtete er auch noch sein Kissen ordentlich aus.

»Verrückt«, murmelte ich und gab Maike das Fernglas wieder. Auch ohne dieses erkannte ich Toni, wie er sich an seinen Schreibtisch setzte und einen Hefter aufschlug. Sein Handy befand sich nicht in seiner Nähe.

Wir beobachteten Toni eine Weile beim Lernen, was sich als ziemlich langweilig herausstellte.

»Michi!« Maike rüttelte mich an meiner Schulter und ich schreckte auf. Anscheinend war ich eingenickt.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Du bist eingeschlafen und hast eine Nachricht bekommen. Ich dachte, ich wecke dich m- ma- mal«, sagte sie gähnend.

Ich griff nach meinem Handy. Toni hatte mir eine Nachricht gesendet. Glaubt ja nicht, ich wüsste nicht, dass ihr mich stalkt. Ich stalke auch, aber besser, lautete die Bildunterschrift. Ich klickte auf das Foto. Darauf lehnte Maike am Fenster und schaute durch das Fernglas, ich war an die Scheibe gelehnt eingeschlafen.

Lösch das Foto, schrieb ich.

Auf keinen Fall.

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