𝟙. 𝔾𝕒𝕣𝕥𝕖𝕟𝕡𝕒𝕣𝕥𝕪

 »Zehn, neun, acht!«

»Ist heute Silvester?«, fragte ein verschlafener Typ neben mir und rieb sich die Augen.

»Viel besser«, antwortete ich grinsend, während die Menge näher rückte und einen Kreis um mich bildete. Falsch, um mich und ihn. Mit ihm meinte ich den Idioten.

»Sieben, sechs, fünf!«, schrien die Menschen.

»Was ist denn heute? Habe ich etwas verpasst?«, fragte der Typ genervt.

»Das wirst du gleich sehen«, entgegnete ich.

»Vier, drei.« Mein Herz schlug mit jeder Zahl schneller.

»Zwei, eins. Happy Birthday!« Nun rastete die Menge aus. Statt mich und den Idioten zu umarmen, umrannten sie uns. Lachend rappelte ich mich vom Boden auf und ließ mich beglückwünschen.

Juliette Ahlert, von mir auch manchmal Jules, July oder Juju genannt, zog mich aus der Menge und schlang ihre Arme um mich.

»Alles Gute zum Geburtstag. Ich hab dich lieb, Michael Lustig.« Jules grinste spitzbübisch. Sie wusste genau, wie sehr ich es hasste, wenn sie meinen ganzen Namen aussprach. Ich hasste es so sehr, wie sie es hasste, dass ich jedem einen Spitznamen gab. Besser gesagt, unendlich viele Spitznamen. In dieser Hinsicht spross meine Kreativität.

»Hier bist du!«, rief Levi Andree, neben July einer meiner besten Freunde. »Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag. Endlich bist du siebzehn!«

Er legte seine Arme um mich. Als er sich wieder von mir löste, fügte er noch etwas zu seinem Glückwunsch hinzu. »Ich finde es immer noch nicht in Ordnung, dass du die Party ausgerechnet heute halten musstest. Du hättest sie auf morgen verschieben können. Übermorgen haben wir nämlich keine Schule.«

»Du weißt, dass ich unbedingt in meinen Geburtstag reinfeiern wollte, Levje. Und morgen haben wir nur noch die Zeugnisausgabe. Das kriegen wir hin.« Ich boxte Levi sanft gegen die Schulter. »Jetzt genieße die Party.«

»Ich muss Anton gratulieren. Bis später.« July schenkte mir ein Lächeln, bevor sie zum Idioten verschwand.

Leider war sie meine und Tonis beste Freundin. Obwohl wir uns hassten, verbrachte July mit beiden von uns sehr viel Zeit.

Die nächsten Minuten gratulierten mir Freunde sowie Fremde zum Geburtstag. Mit manchen plauderte ich noch.

Nachdem jeder mir und Toni das Beste gewünscht hatte, wurde die Musik wieder aufgedreht und die Ersten bewegten sich im Garten zum Takt der Musik.

Tonis und meine Familie wohnten im gleichen Haus, noch. Uns gehörte das obere Geschoss und der Dachboden, Tonis Familie das Erdgeschoss und der Keller. Aus diesem Grund teilten wir uns auch den Garten. Eigentlich hatten wir heute Abend eine klare Grenze mit Steinchen gezogen, doch die Gäste hatten sich vermischt und unsere Grenzen zerstört. Die Steinchen lagen nun verteilt und bildeten keine klare Linie mehr.

Mein Blick wanderte zu den Lichterketten, die sich von Baum zu Baum und zum Haus spannten.

»Worüber denkst du nach?«, fragte Levi neugierig.

»Über nichts und alles, Levi«, antwortete ich.

Er nickte grinsend. »Dann möchte ich dich nicht stören. Ich gehe jetzt tanzen und dann-«, fing er an, doch er beendete seinen Satz nicht.

Verwirrt folgte ich Levis erschreckten Blick. Dominik Winkler tanzte mitten auf der Tanzfläche und ließ alle links liegen. Er trug wie immer einen mitternachtsblauen Anzug und einen Hut in der gleichen Farbe. Dazu hatte er heute eine gelbe Krawatte angezogen. Obwohl Dominik damit aus der Norm fiel, wurde er von allen gemocht. Er traute sich, anders zu sein. Das strahlte er auch aus. Er fühlte sich in dieser Kleidung am wohlsten und dadurch gab er anderen das Gefühl, gerne in seiner Nähe zu sein. Ich versuchte noch, ihn zu durchschauen.

»Pass auf, sonst tropft dir gleich der Sabber auf dein T-Shirt«, warnte ich Levi, der seinen Mund weit geöffnet hatte. Noch lief ihm kein Sabber aus dem Mund, aber dennoch bestand die Chance, dass es bald passierte.

Schnell schloss er den Mund und schaute peinlich berührt zu Boden.

Er machte den Mund auf, um etwas zu sagen, schloss ihn aber wieder.

»Hau raus, was du loswerden willst, Levi«, ermunterte ich ihn. Levi kniff die Augen ein paar Sekunden fest zusammen.

»Er sieht heute besonders schön aus. Und schau dir seine Bewegungen an. Seine Tanzschritte fließen ineinander über und trotzdem sieht er nicht so konzentriert, sondern gelassen aus.« Levi seufzte. »Er ist mir heute nur besonders aufgefallen.«

»Wie jeden Tag«, ergänzte ich.

»Was?« Levi riss seinen Blick von Dominik, um mich geschockt anzuschauen. »Woher weißt du das?«

»Bis auf die Tatsache, dass du ihn in den Pausen, im Unterricht und überall sonst anstarrst, als gäbe es nur ihn auf der ganzen, großen weiten Welt, bin ich dein bester Freund. Mir fällt auf, wenn du verliebt bist. Das liegt mir im Blut.«

»Ich bin nicht verliebt. Ich schwärme nur ein wenig für ihn. Verliebt ist ein zu starkes Wort. Ich würde es nur benutzen, wenn ich eine Person date, die ganze Nacht an sie denke und es nicht mehr ohne sie aushalte. Ich wäre verliebt, wenn ich mehr Kontakt mit der Person hätte. Doch solange ich sie nur aus der Ferne beobachte und sie ab und zu grüße, bedeutet das höchstens, dass ich für sie schwärme, da ich sie nicht richtig kenne. Eine Person, in die man verliebt ist, kennt man zwar nicht in- und auswendig, aber besser als alle anderen Menschen.« Levi holte Luft.

»Dann schwärmst du für ihn und kannst ihn besser kennenlernen. Geh schon hin.« Ich packte Levis Schultern und schob ihn Richtung Tanzfläche.

Schüchtern und unbeholfen lief Levi zu der zertrampelten Grasfläche und mischte sich unter die anderen Tanzenden. Unauffällig bewegte er sich in Dominiks Richtung, bis er neben ihn tanzte. Während Dominik für die Tanzfläche geboren schien, bemühte sich Levi, die Tanzschritte ebenfalls auf die Reihe zu kriegen, scheiterte aber kläglich. Ich strengte mich an, mein Lachen zu unterdrücken und wandte mich um.

Die leichte Brise, die uns am Abend von der Sommerhitze gekühlt hatte, hatte zugenommen. Die meisten trugen nur T-Shirts, während ich mir kurz vor Mitternacht einen Pullover übergeworfen hatte. Nun aber reichte dieser nicht mehr aus, um mich vor der Kälte in dieser Nacht zu schützen.

Ich drängte mich durch die Partygäste zu meinem Haus und schlich dann die Treppen hinauf in mein Zimmer. Mom und Dad hatten für die Verpflegung gesorgt, doch danach hatten sie uns in Ruhe gelassen, um nicht wie die peinlichen Eltern zu wirken. Maike, meine jüngere Schwester, musste ebenfalls früher verschwinden, um rechtzeitig ins Bett zu gehen. Vermutlich schlief sie schon tief und fest. Oder sie schaute eifersüchtig aus ihrem Fenster. Vielleicht hatte sie sich auch aus dem Haus geschlichen, um ihre beste Freundin Lucy zu besuchen und selbst Spaß zu haben.

In meinem Zimmer angelangt kramte ich einen großen, roten Pullover aus einem Stapel mit Klamotten, der meinen Boden zierte. Diesen zog ich mir über, kuschelte mich ein und kehrte zurück zur Party.

Draußen wurde ich sofort von Adam Meier empfangen. Er beglückwünschte mich und fasste dann meine Hand, um mit mir und ein paar anderen einen Kreis zu bilden. Ich packte den nächsten, der die nächste Person an der Hand griff, um die Reihe zu vervollständigen. Passend zur schnellen Musik tanzten und wirbelten wir herum. Beim Refrain rannte der ganze Kreis auf die Mitte zu und wieder zurück, während wir die jeweiligen Nachbarn nicht losließen.

Ein paar Menschen formten nun einen zweiten kleineren Kreis und sprangen herum.

Als wir alle wieder in die Mitte eilten, traf ich Levi, der die Hand von Dominik und die eines anderen, mir unbekannten Menschen hielt. Er lächelte mich an, während ich wissend grinste und mit dem Kopf auf seine mit Dominiks umschlossene Hand deutete.

Meine Nachbarn zogen mich mit sich zurück, bevor wir uns wieder der Mitte annäherten.

Nach dem Lied löste sich zwar der Kreis auf, trotzdem blieben die meisten Leute, darunter auch ich, auf der Tanzfläche. Es machte unglaublich viel Spaß und mich außerdem glücklich, auf der zertretenen Grasfläche unter einem Sternenhimmel zu tanzen, obwohl mich fremde Körper berührten, zahlreiche Stimmen sowie die laute Musik in meine Ohren drangen, die Kälte sich in mir einnistete und ich trotz der dunklen Nacht viele Gesichter und bunte Flecken erkennen konnte. In diesem Moment fühlte sich alles richtig an.

Nur eine Person besaß die Möglichkeit, so einen schönen Moment zu zerstören. Der Idiot alias Anton Turner.

»Guten Abend. Hast du Spaß auf dieser Party?«

Ich seufzte, hörte auf, mich im Kreis zu drehen und trat von der Tanzfläche.

»Bitte sprich mich heute nicht an.«

»Ich muss dich aber darauf hinweisen, dass deine Gäste sich auf meiner Seite befinden. Was ist aus der Abgrenzung geworden? Ich habe mir viel Mühe gegeben, den Garten exakt auszumessen.«

»Ich kann nichts dafür. Außerdem sind deine Partygäste auch auf meiner Seite. Sie haben sich vermischt, das ist nicht meine Schuld. Am besten gehst du wieder zu ihnen und verdirbst mir nicht den Tag.«

»Geht schlecht. Zufälligerweise habe ich etwas für dich.«

Ich wendete mich dem Idioten zu. Er grinste frech, als hätte er etwas ausgeheckt.

»Na sieh mal einer an. Zufälligerweise«, ich betonte das Wort extra stark, »habe ich auch etwas für dich.«

Ich eilte zum Haus und holte ein Paket von der Fensterbank.

»Viel Spaß damit.«

Wir tauschten die zwei Pakete.

Unsere Eltern hatten uns dazu genötigt, ein Geschenk für den anderen zu kaufen. Bei mir lag es daran, dass meine Eltern damit versuchten, in ein besseres Licht bei den Turners zu rücken. Also war ich losgewandert und hatte das perfekte, ironische Geschenk gefunden.

Gespannt beobachtete ich ihn, während ich halbherzig an der schlecht gemachten Schleife meines eigenen Pakets zog und das Papier herunterriss. Normalerweise gab sich Toni mehr Mühe, Geschenke einzupacken.

Anton betrachtete das Geschenk mit großen Augen.

»Nein!«, rief er mit einer Mischung aus Unglauben und Wut.

Ich selbst senkte nun meinen Blick und hätte beinahe meine Hände vor meinen Mund geschlagen, wenn ich das Paket nicht festhalten müsste.

»Nein! Nicht dein Ernst.«

Ich starrte auf den gelben Helm in meiner Hand. Auf ihm blickten mir die Bienen Maja und Willi entgegen. Mit offenem Mund blickte ich zu Toni und seinem Geschenk. Ich hatte ihm genau den gleichen Helm geschenkt, um mich über ihn lustig zu machen. Ich hatte mir ausgemalt, diesen Moment zu genießen. Tonis Reaktion zu beobachten und dabei zu lachen, bis ich nach Atem ringen musste. Doch mein Mund war trocken. Kein Ton verließ meinen Mund.

»Was soll ich damit?«, brachte ich schließlich heraus.

»Das könnte ich dich auch fragen.«

»Ich brauche so einen albernen Helm nicht. Jeder würde sich über mich lustig machen, wenn ich den tragen würde. Der ist total nutzlos.« Ich schüttelte meinen Kopf.

»Der Helm hat schon einen Nutzen. Es ist tatsächlich ein richtiger Mopedhelm.«

Ich verdrehte die Augen und überlegte, wie ich diese Aussage kontern konnte. Leider fiel mir nichts anderes ein, also griff ich ihn an.

»Du hast meine Idee geklaut.«

»Ganz sicher nicht. Wann hast du den Helm gekauft?«, fragte Toni.

»Letztes Wochenende.«

»Ha! Ich habe dein Geschenk schon am Donnerstag vor zwei Wochen um sechzehn Uhr zweiundzwanzig gekauft. Brauchst du einen Beweis? Ich habe noch den Beleg.«

»Du bist komisch. Merkst du dir alle Zeiten?«

»Manche, die ich für besonders wichtig halte, schon. Ich habe erwartet, dass unser Gespräch ausarten würde und ich handfeste Beweise sowie Argumente brauche. Bye, Michi.«

Ich wettete, dass Toni die Zunge herausgestreckt hätte, hätte diese Konversation Jahre früher stattgefunden. Nun lächelte er mich mit einem überlegenen Grinsen an.

»Du hast keine Erlaubnis, mich Michi zu nennen.«

»July hat mir die Erlaubnis gegeben.« Der Idiot zuckte die Schultern und drehte sich um.

»Nur meine Freunde dürfen mich Michi nennen. Wo ist July? Ich bring sie um.«

»Du nennst mich auch nicht Anton.«

»Das stimmt, Idiot.«

Erst als ich herumwirbelte, um zu verschwinden, spürte ich das Blut, das in meine Wangen geschossen war. Sie kühlten an der frischen Luft ab.

Ich lief unruhig im Garten umher. Toni und ich hatten ihn so geteilt, dass die Seite auf unserem Grundstück heute Abend mir und meinen Freunden, die andere Seite des Nachbargrundstücks Toni und seinen Freunden gehören sollte. Die alte Dame, die vorher in dem Nachbarhaus gewohnt hatte, war Anfang des Jahres umgezogen.

Den winzigen Zaun, den man kaum Zaun nennen konnte und über den ich als Kind sehr gerne geklettert war, hatte der Wind davongetragen. Und nun benutzen wir ihren ehemaligen Garten.

Ich setzte mich auf die Bank. Der Idiot regte mich auf. Warum konnte er auf alles, was ich sagte, so gut kontern? Warum war er so, wie er war? Und warum lachte er gerade mit July?

Er fasste July am Ellenbogen. Sie hatte ihren Kopf in den Nacken gelegt wie immer, wenn sie lauthals lachen musste. Lachten sie über mich? Ich konnte es mir gut vorstellen. July und ich machten uns auch ab und zu über den Idioten lustig.

Würde es auffallen, wenn ich mich zu ihnen schleichen und ihren Worten lauschen würde? Ich wollte mich versichern, über wen oder was sie lachten.

Gerade, als ich aufstand, beruhigte sich July und ich sank wieder auf die Bank.

Ich sollte sie in Ruhe lassen. July war mit dem Idioten und mit mir befreundet. Daran konnte ich nichts ändern. Ich musste es akzeptieren. Sie durfte mit mir und mit ihm über lustige oder sinnlose Dinge lachen. Das war normal unter Freunden. Und sie waren beste Freunde. Leider.

»Und? Wieder eifersüchtig?«

»Was?« Erschrocken sprang ich auf.

»Du kannst ihre Freundschaft zu ihm sowieso nicht ändern.« Levi legte eine Hand auf meine Schulter. »Und July würde dir nie verzeihen, wenn du versuchst, ihre Freundschaft zu zerstören. Lass sie ihr Ding machen. Sie wird mit euch beiden befreundet bleiben.«

»Ich weiß. Wir sollten tanzen. Ich muss mich ablenken.«

»Natürlich. Ich hole mir nur schnell ein Glas Wasser. Möchtest du auch etwas trinken?«

»Ja, ich komme mit.«

Ich warf noch einen letzten Blick auf July und Toni. Ich würde es meiner besten Freundin nie verzeihen, dass sie sich damals mit dem Idioten angefreundet hatte. Trotzdem würde ich July immer lieben, selbst wenn sie den Idioten heiraten würde. Sie war meine beste Freundin und hatte sich in meinem Herzen verewigt. Sie und Levi hatten eine Unterschrift gesetzt, dass sie nie wieder aus meinem Leben verschwinden, sondern für immer in meinem Herzen bleiben würden.

»Michael Lustig.« Verschlafen bewegte ich meinen Kopf leicht.

»Michi! Du bist dran!« Jemand, wahrscheinlich Levi, schüttelte mich an der Schulter. Ich schreckte auf.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Michael, dein Zeugnis.« Frau Heinrich, meine Stammkursleiterin, winkte mit einem weißen Papier. Sie teilte heute nicht nur die Zeugnisse meines Kurses, sondern auch die von Levis Kurs aus.

Ich raffte mich auf und lief zu der Lehrerin.

»Ein durch und durch hübsches Zeugnis. Niemand kann sich darüber beschweren. Du bist einer der Stufenbesten. Nach der Tradition erhältst du deshalb eine Rose. Such dir eine aus.«

Sie reichte mir mein Zeugnis und schüttelte meine Hand, dann deutete sie auf Rosen in unterschiedlichen Farben, die in eine Vase gestellt wurden. Ich nahm mir eine gelbe Rose. Ohne einen Blick auf meine Noten zu werfen, denn die kannte ich schon, trottete ich zu meinem Platz. Es fühlte sich an, als würde ich mich in einem Zustand zwischen Schlafen und Wachsein befinden. So merkte ich nicht, wie Toni mir ein Bein stellte. Verdammter Idiot! Ich stolperte und landete zwischen Rucksäcken und Schuhen auf dem schmutzigen Boden. Verflucht! Das würde ich ihm heimzahlen. Wenigstens fühlte ich mich jetzt wacher.

Ich rappelte mich auf und bedachte Toni nur mit einem wütenden Blick und zischte »Bye«. Für uns beide bedeutete es keinen Abschied, sondern eher ein Versprechen. Ein Versprechen, uns wiederzusehen und den anderen zu überbieten oder auf seine Sticheleien und Gemeinheiten zu reagieren.

Als ich mich endlich auf meinem Platz niederließ, schnappte sich Levi mein Zeugnis.

»Wow! Gibt es auch Fächer, wo du nicht auf einer Eins oder Zwei stehst?«

Ich grinste stolz. Seit meiner Kindheit hatte ich immer gerne gelernt und Neues erfahren. Ich hörte gerne im Unterricht zu, meldete mich oft, informierte mich zu Hause über interessante Themen und arbeitete viele Vorträge und Hausarbeiten aus. Das führte dazu, dass ich für Arbeiten kaum lernen musste, da ich den Stoff schon beherrschte.

Langsam sank mein Kopf wieder auf die Holzplatte. Levi bewahrte mich davor, dass mein Kopf hart darauf stieß.

»Reiß dich zusammen. Nachher kannst du schlafen.«

Ich grummelte etwas Unverständliches und stützte meinen Kopf in meine Hände.

Gestern und heute hatten wir noch bis ungefähr vier Uhr gefeiert, bis die meisten gegangen oder in unserem Garten mit ausgeliehenen Decken eingeschlafen waren.

Viele, die meine oder Tonis Party besucht hatten, wirkten ebenfalls müde. Toni dagegen schien hellwach zu sein, als er aufgerufen wurde, erhobenen Kopfes aufstand und überheblich lächelnd sein Zeugnis entgegennahm. Er gehörte von den Noten her wie ich zu den Besten unserer Klassenstufe. Diese Menschen waren entweder schlau oder schummelten sich durch die Prüfungen. Toni gehörte zu der ersten Sorte. Er war schlau, das sagte aber kaum etwas über seinen Charakter aus. Mit ihm sollte sich niemand anfreunden.

Er suchte sich eine gelbe Rose aus.

Nachdem alle ihr Zeugnis erhalten und Frau Heinrich die restlichen Rosen zum nächsten Kurs gebracht hatte, verabschiedete sie sich von uns und packte ihre Tasche.

»Was ist mit den Schokoriegeln?«, fragte ich. »Sind die für uns?«

»Wir haben dieses Jahr sehr gut mitgearbeitet!«, rief jemand aus meinem Kurs.

»Wir brauchen eine Entschädigung, weil unser Stammkursleiter krank ist«, sagte jemand aus Levis Kurs. Die Argumente nahmen zu, bis Frau Heinrich pfiff und alle Schüler zum Schweigen brachte.

»Die waren von Anfang an für euch gedacht. Von mir und von eurem Stammkursleiter. Wir bedanken uns bei euch für das tolle Jahr und hoffen, dass wir noch ein letztes schönes Schuljahr mit euch erleben dürfen.«

Der Rest ihrer kleinen Rede ging in dem Lärm unter, denn meine Klassenkameraden sprangen über Tische und liefen andere Schüler um, um einen Schokoriegel abzubekommen.

Ich lachte.

Frau Heinrich versuchte, die beiden Kurse zu beruhigen, was sie bei diesem Tumult jedoch nicht schaffte. Schließlich riss sie die Packungen mit den Schokoriegeln weg und pfiff noch einmal.

»Jeder von euch kriegt genau einen Schokoriegel.« Sie ließ ihren Blick durch die Klasse wandern. »Klar?«

Die Klasse murmelte zustimmend, dann stellten sich die Schüler in eine Reihe, wobei Frau Heinrich auch hier das Gedränge und Geschubse nicht ganz vermeiden konnten.

»Meistens fühle ich mich nicht wie ein Elftklässler«, meinte ich zu Levi, während wir uns in die Schlange einreihten.

»Bei deinem Kurs denkt man, ihr wärt alle im Grundschulalter stecken geblieben«, sagte Levi.

Nachdem wir uns Kinderriegel geholt und Frau Heinrich und unseren Mitschülern schöne Ferien gewünscht hatten, setzten wir uns in die Cafeteria, um uns die Zeit zu vertreiben, bis July kam. Manche, darunter auch Toni, die noch auf Busse oder ihre Eltern warten mussten, gesellten sich zu uns. Wir vertrieben uns die Zeit mit Kartenspielen.

Schließlich blieben nur noch Levi, Toni und ich übrig.

»Ich hoffe, ihr musstet nicht lange warten.«

July eilte auf uns zu.

»Hi Jules, wie war's?«, fragte ich und stand auf.

»Geht. Ich habe zwar nicht so gute Noten wie ihr zwei«, sie deutete auf den Idioten und mich, »aber für mich ist es gut genug. Und da noch Rosen übrig waren, habe ich mir zwei mitgenommen. Hier, für dich.« Sie reichte Levi eine rote Rose.

»Danke.« Ein leichter Schimmer breitete sich auf Levis Wangen aus.

»Lasst uns gehen. Dann muss ich nicht länger eurer Konversation folgen.« Toni hatte sich erhoben und nahm Julys Arm, um sie vorwärtszuschieben.

»Du musst ja nicht zuhören«, verteidigte ich uns, doch Toni beachtete mich kaum.

»Michi hat sich heute hingelegt. Das war sehr amüsant«, erzählte er July. Levi und ich folgten den beiden nach draußen.

»Ey, Turner«, rief ich.

Toni drehte sich zu mir um. »Was ist?«, fragte er genervt.

»Wiederholst du die elfte Klasse?«, fragte ich.

»Was? Nein.«

»Ach verdammt.« Ich raufte meine Haare. »Noch ein Jahr mit dir.«

Wie sollte ich die zwölfte Klasse mit diesem blonden Kerl aushalten? Das letzte Jahr war nervig genug.

»Schöne Ferien.«

Levi klopfte mir und July auf die Schulter und verschwand.

Auch ich verabschiedete mich von Jules. »Viel Spaß in Frankreich. Wir sehen uns bald. Und vergiss nicht, mich anzurufen und mir Fotos zu schicken.«

»Natürlich werde ich es nicht vergessen, Mic.«

July legte ihre Arme um mich und ich strich durch ihre schwarzen Haare.

Mit einem Tritt in sein Schienbein verabschiedete ich mich von Toni.

Ihn hätte ich liebend gerne sechs Wochen lang nicht gesehen. Allerdings ließ es sich nicht vermeiden, dass wir uns über den Weg laufen würden, da wir im selben Haus wohnten.

»Bye, Michi«, sagte er grimmig.

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