𝟛. 𝕋𝕒𝕘 𝕖𝕚𝕟𝕤

Meine Beine zitterten, als ich vom Fahrrad stieg und es anschloss. Zögerlich bewegte ich mich zum Lustig. Lena wartete an den Türrahmen gelehnt auf mich.

»Levi, komm her!«, rief sie. »Ich habe dich lange nicht mehr gesehen.«

Nachdem ich das erste Angebot abgelehnt hatte, hatte ich es vermieden, sie im Lustig zu treffen. Wenn Michi und ich uns aber bei ihm zu Hause getroffen haben, war ich ihnen begegnet.

»Guten Tag«, brachte ich heraus.

»Na komm, es wartet Arbeit auf uns. Lorenzo und ich haben uns so gefreut, als wir deine Nachricht gesehen haben.« Sie lief durch den Hintereingang, an der Küche vorbei und blieb hinter den Tresen stehen. Zum Glück war noch niemand da. Das Café öffnete erst in einer halben Stunde.

»Damals hast du bei uns so gut gearbeitet. Keine Bedienung hatte das drauf, was du konntest. Wir wollten dir sofort antworten.«

»Vergesst meine Wichtigkeit in dieser Geschichte nicht.« Eine dunkle Gestalt, die ich als Michis Schwester Maike identifizierte, trat aus den Schatten ins Sonnenlicht. Ich zuckte zusammen, da ich sie vorher nicht bemerkt hatte. »Ich habe die Nachricht gefunden, weil Eltern zu blöd sind, mit technischen Geräten umzugehen.« Maike schmunzelte und Lena lächelte verlegen.

Maikes braune Locken wirbelten um ihren Kopf, als sie auf mich zukam. In ihren braunen, sanften Augen funkelte etwas Spitzbübisches. Sie trug einen gelben Pullover, der sich von ihrer dunklen Haut abhob und grinste mich an.

»Das stimmt«, gab die Mutter ihrer Tochter recht.

»Und ich habe sie natürlich auch überredet, dich wieder fest einzustellen.«

»Wir wollten ihn sowieso fragen. Was glaubst du, weshalb wir Michi darum gebeten haben, ihn über seine Zukunft auszufragen und uns Bericht zu erstatten? Was glaubst du, auf wen wir ständig gewartet haben?« Lena wandte sich an mich. »Wir hatten gehofft, dass du mal vorbeischaust und wir mit dir reden könnten, aber du kamst nie.«

»Ich dachte, ich hätte alle enttäuscht«, gab ich zu. »Weil ich mich doch für ein Studium entschieden habe.«

»Aber nicht doch.« Lena legte beruhigend die Hand auf meine Schulter. »Bereitet ihr alles vor?«

Maike und ich nickten, woraufhin Lena in der Küche verschwand.

Ich liebte das Lustig. Seit ich Michi kannte, hatten wir viel Zeit in diesem Café verbracht. An der Wand reihten sich rote Sitznischen um die Tische herum aneinander, in der Mitte standen runde Tische aus hellbraunem Holz. In der Ecke ragte eine Jukebox in die Höhe.

Doch das Besondere an diesem Café waren die Regale mit den vielen Sammlungen wie Bügeleisen, Kabeltelefone und Kameras. Manche Gäste legten eigene Stücke hinzu. Neben diesen Regalen waren ästhetisch aussehende Bilder gehängt. Sie zeigten oft das Motiv eines Heißluftballons. Lena und Lorenzo hatten sich auf einer Heißluftballonfahrt verliebt.

»Wenn du hier arbeitest, heißt das wohl, dass wir uns oft sehen werden.« Maike grinste und stupste mich an. »Hey Schnarchnase, schläfst du oder träumst du?«

»Ich träume.«

»Gut, dann hör jetzt auf, zu träumen. Ich mache die Arbeitsflächen sauber und räume die frischen Waren ein«, Maike deutete auf die Vitrine, »du kümmerst dich um den Bereich.« Maike zeigte auf den Caféraum.

»Okay.« Ich schnappte mir einen nassen und einen trockenen Lappen und wischte ein paar Tische ab. Dann rückte ich die Stühle ordentlich an die Tische und überprüfte, dass auf den Sitznischen keine Flecken waren.

Dann half ich Maike, die Muffins in die vorgesehenen Plätze zu legen.

Aus der Küche drang ein leckerer Geruch.

»Das ist Moms neuste Kreation. Bananencookies«, meinte Maike, als hätte sie meine Gedanken gelesen. Vermutlich hatte sie mich nur gut beobachtet.

Wir stellten auch die Bananencookies aus und danach schloss Maike die Tür auf.

»Ich bin selten so früh hier«, teilte sie mir mit. »Meistens komme ich am Nachmittag vorbei, um auszuhelfen.«

»Und warum bist du heute hier?«, fragte ich.

»Um zu sehen, wie mein neuer Kollege sich macht.« Maike zwinkerte mir zu und klopfte auf meinen Arm.

»Und wie schlage ich mich?«

»Bisher akzeptabel.« Für einen Moment zog sie die Augenbrauen hoch, dass ihr Blick hochnäsig wirkte, doch als ich schmunzelte, musste sie ebenfalls lachen. Sie schlug ihre Hand auf meinen Arm.

»Hey, mein armer Arm.« Ich zog diesen weg, um ihn in Sicherheit zu bringen.

»Tut er weh?«, fragte Maike.

»Ja, ein bisschen. Du hast fest zugeschlagen.«

»Dann müssen wir das ausgleichen.« Maike holte aus und schlug auf meinen zweiten Arm.

»Au, Mist«, fluchte ich.

»Muss ich wieder ausgleichen?«

»Ich mach das schon selbst.« Ich wich einen Schritt zurück. Kampflustig folgte Maike mir.

»Ich habe doch gerade so viel Spaß.«

»Schau mal, ein Kunde«, meinte ich und nickte zur Theke.

»Darauf falle ich nicht rein, Levi.« Maike trat noch näher. Sie stand nun direkt vor mir. In den letzten Monaten war sie gewachsen. Wir waren fast gleich groß.

Jemand räusperte sich und Maike fuhr herum.

»Verdammt«, murmelte sie, dann lächelte sie die Kundin an.

»Ich würde gerne von ihrem Regenbogen-Kollegen bedient werden«, bat sie.

»Du hast es gehört, L.«

»Nenn mich nicht so, May«, zischte ich, als wir aneinander vorbeigingen. Dann wandte ich mich der Kundin zu.

»Ich hätte gerne so einen Bananencookie und einen Kaffee.«

»Kein Problem. Kommt sofort.«

Ich bediente die Kaffeemaschine, da Maike wie ihr Bruder den Geruch von frischem Kaffee nicht ausstehen konnte und Maike packte einen Bananencookie in eine Papiertüte.

Dann überreichte ich beides der Kundin und kassierte.

Ein paar Menschen hatten sich ins Café gesetzt und warteten darauf, dass sie bedient wurden.

Maike folgte meinem Blick.

»Ich mach das und du ziehst dir das hier an.« Maike warf mir ein gelbes Shirt mit dem Logo zu und ich fing es gerade rechtzeitig auf, bevor es zu Boden segeln konnte.

Es gab einen kleinen Raum, den July vor ein paar Jahren nutzen durfte, als sie große Probleme mit ihren leiblichen Eltern hatte. Lena und Lorenzo hatten angeboten, dass sie dort schlafen dürfte, doch July hatte abgelehnt. Nun durften die Bedienungen ihre Sachen dort ablegen.

Ich zog mich um und stellte mich wieder zu Maike. Gemeinsam arbeiteten wir die kleine Liste ab. Ich brachte Kaffee zu den Tischen, Maike kümmerte sich um das Gebäck.

Als ein Gast ging, kassierte Maike ab und ich räumte das Geschirr weg und wischte über die Fläche.

Als wir wieder hinter der Theke standen, klatschen wir uns ab.

»Wir sind ein gutes Team«, sagte Maike.

»Denkst du, die Leute finden es irritierend, dass wir immer gemeinsam aufkreuzen und beide einen Kunden bedienen?«, fragte ich unsicher.

»Und wenn schon. Das ist mir egal, denn so gefällt es mir besser.«

»Du bist unbezahlbar.«

»Ich weiß.« Maike warf ihre Locken nach hinten, die sofort wieder nach vorne schwangen und sich über ihrer Schulter kringelten.

»Was machst du eigentlich gerade?«, fragte ich Maike in einer kurzen Pause.

»Ich beobachte dich.« Maike beugte sich vor und riss die Augen auf. Ich mochte es, wenn sie übertrieb und sich so aufspielte. Das brachte mich zum Lachen.

»Ich meine nicht jetzt in diesem Moment«, brachte ich heraus, als ich mich wieder beruhigt hatte, »sondern zurzeit. Hast du eine Ausbildung angefangen? Studierst du?«

»Ich mache einige Praktika und arbeite ein bisschen hier und da. Ich weiß nämlich nicht, was ich machen will. Und wenn ich freihabe, komme ich hier her, um nicht zu Hause zu sitzen.«

Zur Mittagszeit servierte Lorenzo das Angebot des Tages: selbst gekochte Möhrensuppe.

Vorhin hatte er mich in den kleinen Garten direkt hinter dem Gebäude geschickt, um Möhren und Petersilie zu holen. In der Küche hatte ich diese gewaschen, geschält und dann durch eine Maschine gejagt. Das hatten er und seine Frau weiterverarbeitet.

»Kinder, ihr habt noch nichts gegessen«, sagte Lena.

»Mom, wir sind keine Kinder mehr. Ich bin achtzehn, er ist zwanzig.«

»Du weißt doch, dass du für mich immer meine kleine Tochter bleiben wirst.«

»Es sei denn, ich bin trans. Dann hättet ihr zwei Söhne«, sagte Maike.

Lena und ich lehnten uns geschockt und gespannt vor.

»Maike, bist du etwa trans?«, fragte Lena, als sie sich von dem kleinen Schock erholt hatte.

»Nein. Ich bin froh, dass ich so bin, wie ich geboren wurde und ich will daran nichts ändern. Aber die Möglichkeit hätte trotzdem bestanden. Wir müssen weiter denken, unseren Horizont erweitern.« Dabei blickte sie mich an. »Das habe ich von ihm.«

Ich war froh, dass niemand von den Lustigs mich je verurteilt hatte. Ich war trans. Sie wussten. es. Sie hatten kein Problem damit. Im Gegenteil. Sie hatten Dad und mich sogar unterstützt und mir immer gut zugesprochen.

Lena lächelte uns an. »Wollt ihr Suppe?«, fragte sie.

»Ja, bitte. Ich verhungere sonst.«

Seit ich Michis bester Freund war, drängten Lena und Lorenzo mir Essen auf. Sie hatten July und mich immer wie zwei weitere Kinder behandelt. Vor allem Lena neigte dazu, uns zu bemuttern.

Wir setzten uns an ein Fenster in der Nähe der Theke. Lena brachte uns die Suppe.

»Ich probiere zuerst!«, rief Maike und nahm sofort einen Löffel.

»Ich hatte nicht vor, irgendeinen Wettbewerb mit dir auszufechten. Vor allem nicht, wer zuerst anfängt zu essen«, erklärte ich. »Das hast du von deinem Bruder.«

»Oh ja. Er hatte anfangs immer das Gefühl, dass er besser sein muss als Toni und irgendwie war sein ganzes Leben ein Wettbewerb zwischen ihm und Toni.«

»Zum Glück sind sie zusammengekommen.«

»Oh ja.«

»Denkst du, du findest auch irgendwann die große Liebe? Seit die zusammen sind, wünsche ich mir auch so eine Person, so eine Beziehung«, murmelte ich.

»Oh ja, das kann ich nachvollziehen. Sie geben irgendwie mit ihrer Beziehung an, ohne es zu wollen. Sie sind einfach da und verhalten sich, wie sie sich in der Beziehung verhalten und da merkt man, dass sie eine schöne Beziehung führen.«

»Auch wenn sie sich die ganze Zeit necken und streiten«, bemerkte ich.

»Aber das macht es ja so unperfekt perfekt.«

»Wir sollten vielleicht über etwas anderes reden. Das macht uns doch sonst nur traurig und neidisch.«

»Sind wir doch sowieso.« Maike grinste und rührte dann ihre Suppe um. »Pass auf, die Suppe ist echt heiß.«

»Das glaube ich dir nicht. Du hast dich nicht gerührt«, sagte ich.

»Tatsächlich nicht?« Unbewusst nahm Maike einen weiteren Löffel Suppe, während sie mich anstarrte. Plötzlich verzog sie ihr Gesicht, riss den Mund auf und fächelte sich mit beiden Händen Luft zu, während sie aufsprang und herumhüpfte. »Verdammt, es ist so heiß.«

»Jetzt glaube ich dir doch.«

»Beim ersten Mal habe ich dir nur was vorgespielt. Ich wollte dich austricksen, damit du dich auch verbrennst und jetzt habe ich es selbst zweimal geschafft. Frau, ich bin dumm.«

»Darf ich diese Worte gegen dich verwenden, wenn wir mal eine Auseinandersetzung haben?«, fragte ich.

»Wag es bloß nicht!«, knurrte Maike und ließ sich wieder gegenüber von mir nieder.

»Schade.«

Ich wartete noch ein bisschen, bis ich selbst begann, die Suppe zu essen.

»Wow, die ist köstlich.«

»Ja, die ist verdammt lecker.«

Mich faszinierte es, dass Maike so sprach wie ihr großer Bruder. Sie verhielt sich auch wie er. Sie war wie eine kleinere, jüngere Version von Michi.

»Gib mir mal deine Hand«, bat Maike, als wir fertig gegessen und sie unsere Teller übereinandergestapelt hatte.

»Warum?«, fragte ich.

Maike verdrehte die Augen und legte ihre Hand fordernd auf den Tisch und bedeutete mir, meine Hand in ihre zu legen. Als ich es tat, zog sie meine Hand vor ihr Gesicht.

»Ich denke, Lila könnte passen. Oder grün. Was denkst du?« Sie ließ meine Hand los.

»Lila? Grün?« Verwirrt betrachtete ich meine Hand.

»Deine Nägel«, half Maike mir auf die Sprünge. »Früher hast du sie dir immer lackiert. Heute waren sie nicht lackiert. Und auch die letzten Male, als du Michi besucht hast, nicht.«

»Na ja, ich habe sie mir damals lackiert, um allen zu zeigen, dass ich aussehen kann, wie ich will. Ich war stolz auf mich und dass ich es so weit geschafft habe. Aber heute denke ich, dass ich das nicht mehr machen muss. Ich muss niemanden mehr etwas beweisen.«

»Das ist eine gute Einstellung. Aber der Nagellack an dir sah echt cool aus. Ich habe dich immer dafür bewundert, weil die Gesellschaft uns vorschreibt«, Maike malte Anführungszeichen in die Luft, »dass Jungs keinen Nagellack tragen dürfen und dass Nagellack feminin ist. Das ist so bescheuert! Nagellack ist dafür da, Nägel zu lackieren. Und jeder Mensch, egal ob männlich oder weiblich, hat Nägel! Warum sollten sich dann nur Mädchen und Frauen die Nägel lackieren?« Maike hatte sich in Rage geredet und war aufgestanden. Ein paar Besucher, die um uns herumsaßen, hatten ihr zugehört und nun hörte ich vereinzelt Menschen klatschen. Ein älterer Herr neben uns am Tisch pfiff. »Das hast du richtig gesagt, kleine Feministin.« Er lächelte Maike an, als wäre sie seine Enkeltochter und er stolz auf sie.

»Das hast du toll gesagt und es ist so wahr.«

Maikes Wangen hatten sich dunkelrot verfärbt. Sie atmete tief durch und setzte sich zu mir.

»Ich wollte gar nicht so ausbrechen«, murmelte sie.

»Du hast nichts falsch gemacht.« Ich legte beruhigend meine Hand auf ihren Arm. »Ich bin stolz auf dich. Du hast dich großartig weiterentwickelt zu einer kleinen Feministin.«

Wir standen auf und brachten unser Geschirr in die Küche, dann arbeiteten wir den Nachmittag weiter. Am Abend schickte Lorenzo mich nach Hause. Er gab mir ein Rosinenbrötchen für meinen Dad mit, da er wusste, dass Dad die liebte.

Als ich nach Hause radelte, tauchte July in meinen Kopf auf. Im Lustig hatte ich gar nicht an sie gedacht, sondern mich vor allem auf die Arbeit und Michis Familie konzentriert, doch nun drangen die Gedanken mit voller Wucht auf mich ein. Ich dachte an diesen großartigen Kuss, an meinen Wunsch nach mehr und daran, dass July nichts von mir wollte.

Ich mochte einmal ein Mädchen und dann mochte sie mich nicht zurück. Mochte ich July überhaupt? Wir waren doch nur beste Freunde. Und vielleicht wollte ich auch einfach nur wissen, wie es sich anfühlte, ein Mädchen zu küssen, Erfahrungen sammeln, da ich vermutete, mein restliches Leben mit einem Jungen verbringen zu wollen. Ich stand doch eigentlich auf Jungs, mit July wollte ich gar keine Beziehung.

Ich verscheuchte die Gedanken an July und trat heftiger in die Pedale, konzentrierte mich auf die Anstrengung.

Vielleicht war ich bi oder pan, wer wusste das schon?

Schwitzend schob ich mein Fahrrad in die Garage und wischte mir den Schweiß aus dem Nacken. Trotzdem spürte ich die Sonne, die mir im Nacken brannte.

»Hi Dad.« Ich drückte meinem Vater das Rosinenbrötchen in die Hand und zog mich in meinem Zimmer um.

»Das hat mir Lorenzo mitgegeben«, sagte ich, als ich wieder in die Küche kam und sah, wie Dad genüsslich abbiss.

»Der erinnert sich, dass ich Rosinenbrötchen mag?«, fragte Dad.

»Natürlich. Ihr seid doch alle so gut befreundet. Immerhin trefft ihr euch ab und zu.« Ich zuckte mit den Schultern.

»Das letzte Treffen ist schon etwas länger her«, meinte Dad mit vollem Mund.

»Ihr könntet so ein großes Treffen mit Tonis Eltern machen. Das wäre doch lustig, oder nicht?«

»Lorenzo hat mir erzählt, dass sie einmal ein totales Chaos mit Tonis Eltern erlebt hatten. Die haben gemeinsam gekocht«, bemerkte Dad skeptisch.

»Aber jetzt sind ihre Söhne zusammen. Da benehmen sie sich bestimmt besser.« Ich lächelte und erzählte Dad von meinem Tag im Lustig.

»Ich bin stolz auf dich, Sohn.« Ich hörte diesen Stolz aus seiner Stimme, vor allem, als er Sohn sagte. Es war nicht leicht für ihn, als ich ihm erklärte, dass ich trans sei, weil das eine Umstellung für ihn bedeutete. Er wollte nichts falsch machen.

»Danke Dad. Wie war dein Tag?«

Ich hörte Dad aufmerksam zu. Ich mochte es, dass wir uns austauschten. Während er erzählte, holte ich mir ein Glas aus dem Schrank und füllte es mit Wasser.

»Und wie geht es eigentlich der Kleinen?«, fragte Dad.

»Welcher Kleinen?«, hakte ich nach.

»Michis Schwester. Wie hieß sie noch gleich?«

»Maike. Und der geht es prima. Wir hatten viel Spaß zusammen. Und so klein ist sie gar nicht! Sie ist so groß wie ich!«, verteidigte ich Maike.

»Du bist nicht besonders groß«, bemerkte Dad.

»Hey!«

Dad schmunzelte nur. »Stimmt doch.«

Ich erwiderte nichts mehr und gähnte.

»Wo ist Tara?«, fragte ich Dad. Tara war Dads Freundin. Sie hatten sich vor ein paar Jahren kennengelernt.

»Sie ist noch bei der Arbeit, aber sie wollte sich gleich auf den Weg machen und kommen.«

Ich nickte und verließ die Küche. Auf dem Weg in mein Zimmer lief ich an Moms Arbeitszimmer vorbei. Kurz bevor Tara hier eingezogen war, hatte Dad alle Sachen, die mit Mom zu tun hatten, in ihr Arbeitszimmer verfrachtet. Manchmal verkroch ich mich darin, um ihr nah zu sein. Ich vermisste sie und wünschte mir manchmal, mit ihr zu sprechen. Ich öffnete die Tür, schlüpfte hinein und schloss sie hinter mir. Dann drehte ich mich um.

Kisten stapelten sich an den Wänden und nahmen das halbe Zimmer ein. An der freien Wand stand ein Schreibtisch mit Stuhl. Überall, wo ich hinsah, stapelten sich Zettel, große und kleine.

Ich ließ mich auf den Bürostuhl nieder und wühlte einen unordentlichen Stapel Papier durch. Mom hatte alles Mögliche geschrieben und ihre Texte öffentlich vorgetragen. Sie hatte auch bei Poetry Slams mitgemacht.

Ich griff nach einem Zettel und las mir einen Text über die Wunder der Natur durch. In einem nächsten hatte sie darüber geschrieben, dass eine Frau mehr war als nur eine Mutter. Sie kritisierte die Gesellschaft, die der Frau eine bestimmte Rolle zuwies.

Ich erinnerte mich daran, dass Mom immer versucht hatte, anders zu sein. Sie sah sich nie als braves Mädchen, dass auf die anderen hörte. Sie war wild. Sie war stark. Sie war schwach. Manchmal betonte sie ihre Rundungen, manchmal versteckte sie ihren Körper, trug übergroße Kleidung, lieh sich Stücke von Dad aus. Sie hatte als Kind gelernt, Ballet zu tanzen. In ihrer Jugend hatte sie angefangen, Judo zu lernen. Sie schrieb Texte, bei denen sich Gänsehaut auf meiner Haut bildeten, trug sie sie vor, denn einerseits waren sie so schön und voller Poesie oder aber so bewegend und wahr.

Ich wusste, dass Mom gerne Mutter gewesen war. Sie hatte mich über alles geliebt. Das hatte sie oft gesagt und in Texten, die sie nicht veröffentlicht hatte, niedergeschrieben. Und ich war froh, dass sie sich dafür entschieden hatte, keine kalte Mutter zu sein, sondern eine liebevolle, warmherzige, großartige Frau.

Meine Mutter war früh gestorben, trotzdem erinnerte ich mich an die vielen Momente. Mom hatte vorausgesehen, dass sie sterben würde. Außerdem war sie krank gewesen und deshalb hatte sie mir beigebracht, jeden Moment mit ihr zu genießen.

Ich lehnte mich nach hinten und überlegte, was Mom mir raten würde. Sollte ich July die Wahrheit verraten? Würde Mom July mögen? Erinnerte sie sich vielleicht sogar an sie? Michi hatte sie auf jeden Fall gekannt.

Mir fiel ein Text in kursiver Schrift auf. Er handelte von Liebe. Ich las ihn mir durch. Mom hatte viele Texte über die Liebe verfasst, negative wie positive. Der letzte Satz dieses Textes blieb mir im Gedächtnis. Breche alle Herzen, bevor dein Herz gebrochen wird.

Manchmal brauchte Mom Abstand, doch auch wenn sie ab und zu die Liebe schlechtredete, liebte sie uns.

Als ich mich am Abend in mein Bett legte, öffnete ich Instagram. Ich hatte einen Account erstellt. Dort sprach ich über meine Erfahrungen und Erlebnisse als queerer Trans-Mann. Es war wie ein Blog und manchmal fragte ich dort nach Hilfe, wenn ich einen Rat brauchte.

Ich hielt den Account vor July versteckt. Wenn ich über sie schrieb, kürzte ich Ljette mit L ab. Schon fingen meine Finger an, zu tippen.

L und ich haben uns geküsst. Wir waren betrunken und es ist einfach so passiert und nun weiß ich nicht, was ich machen soll, denn sie erinnert sich nicht daran. Soll ich ihr sagen, dass es einen Kuss zwischen uns gab? Genauer gesagt einen zweiten? Ich befürchte allerdings, dass die Wahrheit unsere Freundschaft zerstören würde.

Das ist aber nicht alles. Seit dem Kuss stelle ich meine Sexualität infrage. Denn ich hatte Schmetterlinge im Bauch. Was soll ich nur tun? Alles wird so schwierig werden, wenn ich etwas für sie empfinde, sie mich aber nur als Freund sieht.

-Levi

Kurze Zeit später erhielt ich eine Nachricht und ein paar Kommentare. Michi hatte mir geschrieben, dass wir dringend reden müssten. Unter meinem Post hatte er ein paar aufmunternde Kommentare geschrieben. Auch ein paar weitere Menschen hatten mir Mut zugesprochen oder mir Ratschläge geschrieben.

Ein Kommentar aber lautete: Das ist so traurig und bemitleidenswert. Er veröffentlicht seine Liebesprobleme und denkt, dass die Menschen sich dafür interessieren, doch das Gegenteil ist der Fall. Niemand interessiert sich für diesen Dreck. Es ist dein Problem. Ich hoffe, dass du es ihr sagst und alles komplizierter machst. Wir haben eigene Leben, da können wir nicht auch deinem armseligen Leben Aufmerksamkeit schenken. Angeko.

Dieser Kommentar schockte mich. Sollte ich den Post oder den Kommentar löschen? Sollte ich zurückschreiben? Hatte er recht?

Schon ploppte eine Nachricht von Michi ein.

Ignoriere diesen Angeko. Er hat sich diesen Post durchgelesen und somit Interesse daran gezeigt. Außerdem war er auf Instagram, statt sich seinem eigenen Leben zu widmen. Seine Aussagen sind widersprüchlich!

Ich war froh über Michis Nachricht. Er wusste, wie unsicher ich manchmal war und stand mir sofort bei. Ich legte mein Handy weg, um mir keine weiteren Kommentare durchlesen zu müssen. Ich wollte nicht, dass noch so jemand wie Angeko meine Laune nach unten zog.

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