𝟐𝟐│𝑲𝒊𝒆𝒓𝒂

Kiera

Ich versinke gerade im zweiten Gang, der aus Pflaumen und Datteln im Speckmantel, einem himmlischen Shrimpscocktail und jeder Menge Antipasti besteht. Göttlich.

Eine grandiose Mischung aus süßlicher Würze macht sich auf meiner Zunge breit, lässt mich in eine andere, nie vorher da gewesene Dimension abheben. Eine Dimension der Genusswelt. Das Essen ist so verdammt lecker, dass ich gar nicht weiß, ob ich dasselbe gleich nochmal bestellen sollte. Das wäre aber dumm, denn dann wäre ich ja schon satt, bevor die Hauptspeise überhaupt serviert worden wäre. Also belasse ich es für diesen Moment dabei, gebe mich dem Rausch des Genusses wieder hin. Doch der Appetit vergeht mir schlagartig, als der neben mir leerbesetzte Stuhl plötzlich nach hinten geschoben wird und Colin sich in neu bekleideter Montur auf den Sitz plumpsen lässt.

Skeptisch wandern meine Augenbraue nach oben, während ich offenkundig sein neues Outfit abscanne.

Zu meinem Bedauern muss ich feststellen, dass er sein Lieblingshemd gegen ein einfaches weißes eingetauscht hat, das er an den Ärmel umschlagen hat und unordentlich in den Ansatz seiner Hose gestopft ist. Dann springt mir das blaue Label des Hemdes auf seiner Brust entgegen und erbost stoße ich die Luft aus.

Das ist doch nicht etwa Onkel Johns Anzug! Ich meine, er wird doch wohl nicht...

Colin grinst.

Heilige Scheiße, er war in meinem Auto!

Sofort schnelle ich herum und krame in meiner Tasche nach den Autoschlüsseln, obwohl ich weiß, dass er die noch nicht mal bräuchte, um die Tür zu öffnen. Christian und ich haben vorhin das Auto bewusst nicht abgeriegelt, damit Finn, wenn er wieder zu sich kommt, nicht im Auto eingesperrt ist. Bei dieser Hitze wäre das wirklich fatal. Zugegebenermaßen war das natürlich sehr leichtsinnig, aber der Parkplatz und die Umgebung schienen ziemlich sicher und Christian und ich haben auch abwechselnd nachgeschaut, ob alles in Ordnung ist.

Doch Colin muss bei meinem Auto gewesen sein, sonst hätte er wohl kaum diesen Anzug an.

Diese Annahme bestätigt sich, als ich nach verzweifelter Suche meinen Schlüssel nicht finden kann und er ihn danach demonstrativ langsam direkt neben meinen Teller niederlegt. Ich schließe die Augen, nehme ganz ruhig den Schlüssel an und lasse ihn möglichst schnell wieder in meiner Tasche verschwinden.

Jetzt bloß nicht ausrasten, Kiera. Jetzt. Bloß. Nicht. Ausrasten!

Verdammt, Colin war bei meinem Auto! Und wir alle wissen, wie sehr er mein kleines, pinkes Baby von Anfang an verabscheut hat! In meinem Kopf spulen sich die schlimmsten Szenarien ab.

Mein Auto verschrottet.

Mein Auto bekritzelt

Mein Auto umlackiert.

Hilfe!

Colins Seelenruhe neben mir macht es nicht besser. Er hat bis jetzt nichts gesagt. Kein Kommentar, kein Witz, kein Wort.

Und das versetzt mich in höchster Aufruhr.

Was, wenn das seine Rache ist für die See-Geschichte?

Einatmen, ausatmen.

Einatmen, ausatmen.

Ich kralle mir mein Besteck, einfach um etwas in der Hand zu haben, dass ich zerquetschen kann und starre gezielt den Kerzenständer vor mir an, um ihn nicht anschauen zu müssen, als ich frage: »Steht mein Auto noch oder muss ich von dem Messer in meiner Hand Gebrauch machen?«

Es folgen Sekunden der Stille, die mir wie Stunden vorkommen, in denen er nichts sagt, sondern einfach nur schweigend dasitzt und seine Vorspeise in sich reinschlingt.

Verdammt, er weiß, dass mich die Unwissenheit gerade zerreißt! Er weiß es ganz genau und trotzdem isst er seelenruhig weiter.

»Nein, dein Auto steht noch«, antwortet er plötzlich ruhig. Zu ruhig. Colin ist viel zu gelassen für seine Verhältnisse oder irre ich mich da? Ich drehe mich zu ihm um, fixiere seine braunen Augen, die mich mit einer Gleichgültigkeit und Verschlossenheit anfunkeln.

»Im See, oder was?«, patze ich ihn an. Daraufhin presst er seine Lippen angestrengt zusammen.

»Nein, auf dem Parkplatz. Der Einzige, der heute im See stand, war ich

Ein Vorwurf. Ich höre den Vorwurf ganz deutlich aus seiner Stimme heraus und ich kann es ihm nicht einmal verübeln. Nicht auszumalen, was ich getan hätte, wenn Colin mich ins Wasser geschubst hätte!

Ob ich mich deswegen schuldig fühle? Um ehrlich zu sein, nein. Er hatte es verdient.

Colin ist so ein Arsch, blamiert mich hier vor allen, indem er den supertollen Verlobten vorspielt und mich daneben als eine unfähige Frau darstellt. Außerdem herrscht Krieg und im Krieg ist alles erlaubt. Auch wenn das heißt, den jeweils anderen in den See zu schubsen.

Trotzdem regt sich in den Tiefen meines Bewusstseins ein kleines bisschen Reue. Das schiebe ich aber mit meinem leeren Teller zeitgleich von mir weg. Ich habe kein Mitleid mit Colin. Nein, absolut nicht.

Während Colin und ich schweigend nebeneinandersitzen, textet Tante Josie meine Mum seit einigen Minuten unaufhörlich mit den Vorzügen einer dreifach beschichteten Pfanne zu.

Meine Mum gibt sich wirklich die größte Mühe interessiert auszusehen. Doch ich sehe ihr förmlich an, wie sie jede Sekunde mit sich ringt, Tante Josie nicht gleich die Tischserviette in den Mund zu stopfen.

Onkel Jeff ist mittlerweile bei der 23. Nachkommastelle von Pi angekommen und Harvey sitzt mit zusammengesunkenen Schultern da und meditiert stumm vor sich hin. Harvey eben.

Das Einzige, was mich bei Laune hält, ist die Aussicht auf die Hauptspeise. Doch auch dort ist mir ein bisschen Glück nicht gegönnt. Nachdem die Vorspeise abgeräumt worden ist, konnte sich jeder ein Gericht von den drei zur auswahlstehenden aussuchen. Ich habe mich für Nr. 2 Schweinefiletmedaillons mit Rahmchampignons entschieden. Als der Kellner mir jedoch etwas vorsetzt, dass so gar nicht nach Schweinefilet aussieht, hebe ich einhaltgebietend meine Hand.

»Entschuldigung! Das ist das falsche Gericht«, weise ich den jungen Kellner freundlich daraufhin, der sich zwischen mich und Colin geschoben hat. Mit hochgezogenen Augenbrauen und einer leicht pikierten Stimme deutet er auf den Teller.

»Sie haben nicht das Curry-Putengeschnetzelte mit Reisbällchen bestellt?«

Ich schüttle den Kopf.

»Nein, absolut nicht. Ich wollte kein scharf.«

Der Kellner nickt verständnisvoll und will den Teller wieder wegnehmen, als mein Nebenmann plötzlich beschließt sich in meine Angelegenheiten einzumischen.

»Was? Wieso das? Du liebst doch scharfe Sachen!«, sagt Colin überraschend laut, was den Kellner ins Zögern bringt und mich meinen verfeindeten Fake-Verlobte mit weit aufgerissenen Augen anstarren lässt.

Was redet er da für einen Müll!

Ich hasse scharf.

Hätte ich Curry gewollt, hätte ich es bestellt, aber das habe ich ganz sicher nicht! Ich kann noch nicht mal einen Klecks Senf zum Bratwürstchen essen, ohne danach einen ganzen Liter Wasser runterzukippen zu wollen.

In diesem Zusammenhang bin ich also eine absolute Memme. Deswegen meide ich auch für gewöhnlich scharfes Essen. Aber was ist an dieser Hochzeit schon gewöhnlich? Gar nichts. Deswegen kann ich Colin auch keinen Einhalt gebieten, als er sich bestimmend zum Kellner dreht und sagt:

»Lassen Sie es hier. Sie nimmt es.«

Ich will protestieren, will ich wirklich, aber der Kellner ist so schnell weg, dass ich nur noch sprachlos den Mund zu klappen kann und mit angesäuerter Miene auf den Teller starre.

»Du liebst scharfe Sachen?«, fragt meine Mum neben mir überrascht und stochert in demselben Menü herum, was ich habe. »Seit wann das? Früher hast du dich schon beschissen, wenn du einen meiner superduper, mega, hammergeilen Ingwer-Smoothies testen solltest.«

Bei den Gedanken an Mum und ihre Experimente mich gesund zu ernähren, zieht sich mein Magen krampfhaft zusammen. Ich weiß noch ganz genau, wie sie früh morgens immer in der Küche stand und alles in den Mixer reingeworfen hat, was halbwegs gesund aussah. Pommes zum Beispiel zählen für meine Mum als Kartoffeln, nur so nebenbei.

Kein Witz, die Frau hat alles wiederverwertet, was im Kühlschrank lag. Einmal hat sie sogar Toast in den Mixer gestopft und als ich sie darauf angesprochen habe, meinte sie nur: Kohlenhydrate, Kiera. Kohlenhydrate.
Das ich nicht lache.

»Zeiten ändern sich«, ist das Einzige, was ich hervor pressen kann, bevor ich den Blick von ihr abwende.

Ich muss mich jetzt zusammenreißen. Ich weiß ganz genau, was Colin vorhat. Er will Rache. Rache für die See-Geschichte, aber so einfach werde ich es ihm nicht machen. Aufgeben ist keine Option, auch wenn das heißt, dass morgen die Kloschüssel glüht und mein Anus Feuer spuckt.

Unbeirrt widme ich mich meinem Teller wieder. Die Reisbällchen laden zum Schlemmen ein und das Fleisch sieht wirklich lecker aus. Schön angebraten und saftig. Aber schon die roten Gewürzsprenkel an der marinierten Kruste und der Chili, welcher am Rande des Tellers als Deko drapiert wurde, entfachen eine ungeahnte Trockenheit in meinem Mund. Ich habe es mir anders überlegt: Ich kann das nicht.

Colin bemerkt anscheinend, wie unschlüssig ich auf mein Essen starre, ohne es auch nur im Geringsten anzurühren.

»Willst du nicht probieren?«, fragt er extra provokativ und spießt sich eine Gabel seines Schweinemedaillons auf. Wütend beobachte ich, wie er es sich genüsslich in den Mund schiebt. Arschloch.

»Ich glaube, ich bin schon satt« Bedröppelt wende ich den Blick von ihm ab, will nicht den Triumph meines Aufgebens in seinen Augen begegnen.

»Ach komm schon, wenn du nicht wenigstens probierst, beleidigst du den Sternekoch«, wirft er ein und meine Mum nickt ihm beipflichtend zu.

Ich hasse es. Ich hasse, dass er es irgendwie geschafft hat, meine Mum mit auf seine dunkle Seite zu ziehen. Das wird irgendwann noch zu meinem Untergang führen.

Genauso wie jetzt. Obwohl sich alles in mir dagegen sträubt, schneide ich mir ein Stück ab und stecke es mir kurzerhand in den Mund. Sofort entfacht sich ein Feuer auf meiner Zunge, hangelt sich entlang meines Halses und setzt alle je da gewesenen Zellen in Brand.

Von wegen den Sternekoch beleidigen, wenn ich es nicht anrühre. Ich beleidige den Sternekoch, wenn ich es gleich vor allen Augen auf den Tisch auskotze!

»Mmhhh lecker...«, bringe ich zwischen zusammengepressten Lippen hervor und Colin grinst zufrieden, während ich ihm unter den Tisch, wo es keiner sehen kann, den Stinkefinger zeige.

Daraufhin langen seine beiden Hände unter den Tisch und er zeigt ihn mir auch. Nur in doppelter Form mit seinen zwei Mittelfingern.

Ach, fick dich doch einfach, Colin Walker.

Ich muss innerlich würgen. Scheiße, das ist scharf. Ich weiß nicht mal mehr, ob es sich lohnt, den Fleischbrocken runter zu schlucken, wenn sich mein Magen gleich eh wieder entleert. Dafür weiß ich aber, auf wen ich meinen Mageninhalt gleich entleeren werden. Dreimal dürft ihr raten.

Nein, es ist nicht meine Mum.

»Und du bist sicher, dass es nicht zu scharf ist?«, fragt diese und ein besorgtes Stirnrunzeln ziert ihr Gesicht.

Zu scharf?

Neeein, das doch nicht. Ich ätze mir nur gerade sämtliche Geschmacksknospen weg, werde die nächsten Tage wohl nichts mehr schmecken und habe das Gefühl, heute Abend den Feuerspucker Konkurrenz machen zu können. Also zu scharf? Definitiv nicht.

Ich huste.

-Ist wohl doch etwas scharf, Chiara?

Colins braune Augen fixieren mich amüsiert.

-Nein. Das Einzige, was hier scharf ist, bin ich.

-Einbildung ist auch ne Bildung.

-Gut, dann habe ich ja schon zwei mehr als du jemals hattest!

Colin wendet beleidigt den Blick ab, was ich als vorzeitigen Triumph für mich verbuche, und antwortet meiner Mum: »Nein, Kiera ist da hart im Nehmen, stimmt's Liebling?« Seine große Pranke trifft plötzlich auf meinen Rücken, klopft dort ausgiebig, während ich mich beinahe vor lauter Husten wirklich auf den Tisch übergebe.

Ich will seine Hand abschütteln. Ich brauche seine Hilfe nicht, aber er lässt sich einfach nicht abwimmeln.

Stattdessen klopft er weiter. Härter und härter. Auf seinen Lippen ein Engelslächeln.

Eins steht fest: Colin Walker ist ein toter Mann.

...und ich gleich eine tote Frau, sollte ich nicht schleunigst etwas gegen die Schärfe tun.

Mein Hals ist derweil komplett ausgedörrt, eine einzige Wüste, die man in Flammen gesteckt hat und nun vor sich hin lodert. Alles brennt so bestialisch. Ich brauche dringend Wasser, um das Feuer in meinen Mund zu löschen. Dringend.

Meine Hand schnellt nach vorne zu meiner einzigen Rettung: Dem Wasserglas. Doch Colin schnappt es mir vor der Nase weg und setzt selbst zum Trinken an. Hilflos sehe ich dabei zu, wie der Idiot doch tatsächlich alles in einem Rutsch runterkippt, nur um anschließend das leere Glas lächelnd auf den Tisch zu stellen.

Was glaubt er, wer er ist?

Reglos sitze ich da, starre einfach nur auf das leere Glas, indessen in meinem Körper der immer noch ungebändigte Brand im vollen Gange ist und sich nun langsam den Höhepunkt zu nähern scheint.

Die abnormale Schärfe treibt mir Tränen in die Augen, die ich versuche durch mehrmaliges Blinzeln zu überspielen. Gleichzeitig habe ich das Gefühl, dass meine Zunge gerade leicht taub wird.

Und noch lieber wünschte ich, dass ich für einen Moment taub wäre, um Colins Sieges-Geschwafel nicht mit anhören zu müssen.

»Ist das Essen nicht lecker?«, höhnt es in einem mehr als zufriedenen Tonfall von der Seite. Und dann: »Mmmmhhh...«

Ausgiebig wedelt er mit dem Stück Fleisch vor meiner Nase, bevor er sich die Gabel breitgrinsend in den Mund schiebt.

Ich bringe ihn um! ICH BRINGE IHN UM!

Ich bin am Überlegen, ob ich ihm das Essen einfach ins Gesicht klatschen soll. Chili brennt bestimmt schön in den Augen, oder? Wie wär's, wenn wir einen Live-Test an Colin starten würden?

Nein.

Die Idee ist zwar verlockend, aber dann wäre ich ja auf Colins Provokation eingegangen.

Ich entscheide mich für eine andere Variante. Die Variante, wo ich brav zurück lächle, meine Gabel nehme und meinen ganzen Mut zusammenbringen muss, um mir erneut ein weiteres Stück Fleisch in den Mund zu stopfen. Was solls, er ist sowieso schon verbrannt.

Ich kaue und kaue, versuche zwischendurch nicht zu ersticken, schlucke es runter und sehe ihn zufrieden an, obwohl man mich gleich in eine Klinik einweisen kann.

Meine Antwort auf seine Frage lautet anschließend: »Das Essen ist wirklich ganz hervorragend

Und sobald keiner hinsieht, winke ich eine Kellnerin heran und flehe verzweifelt, die Zunge kurz vor dem Abfallen: »Toast. Milch. Jetzt. Sofort!«

Kiera: 3 - Colin: 3

Na, wenn in diesem Kapitel nicht ordentlich Feuer war, dann weiß ich auch nicht🔥🔥🔥

Sind sie nicht wieder herzallerliebst zueinander? So eine harmonische Beziehung, ay ay ay😄😌

Denkt ihr, Kiera wird Colins Racheakt einfach auf sich sitzen lassen oder wird die Gute zurückschlagen?😄

Wir lesen uns bald wieder💗
Bis denne!

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