𝟏𝟒│𝑲𝒊𝒆𝒓𝒂
Kiera
Ich bin nervös, aber nicht, weil Christians Hand seit wenigen Sekunden auf meinem Arm ruht, den ich auf den Stehtisch vor mir gelegt habe.
Naja okay, vielleicht deswegen ein bisschen.
Die Tatsache, dass aber eine gute halbe Stunde schon vergangen ist und ich weder Colin noch Finns blonde Lockenpracht in der Menge gesehen habe, macht mich Sekunde für Sekunde nervöser. Mein Blick schweift zum gefühlt hundertsten Mal suchend über die Hochzeitsgäste auf der üppigen Holzveranda, doch genau wie die anderen 99-Male zuvor werde ich nicht fündig.
Seufzend wende ich mich zu Christian und als der mich mit seinen grünen Augen erwartungsvoll ansieht, überkommt mich sofort mein schlechtes Gewissen. Ich beiße mir auf die Lippen und sehe ihn entschuldigend an.
»Tut mir leid, was war die Frage nochmal?«, hake ich kleinlaut nach und würde mich am liebsten selbst ohrfeigen.
Wie dumm bist du eigentlich, Kiera?
Christian Marx aka laufender Schönling steht vor dir, erzählt dir von seinem tollen Beruf als Zahnarzt und von seinem letzten Ski-Urlaub und das einzige, was du tust, ist nach Colin aka 'laufendes Chaos' Ausschau zu halten, wo doch deine Augen gebannt an Christians Lippen hängen sollten!
Super gemacht, Kiera. Wirklich super gemacht!
»Ich habe eigentlich nur nachgefragt, ob es dir gut geht. Du wirkst so abwesend«, stellt Christian ganz richtig fest und ich nicke, weil ich nicht weiß, was ich darauf erwidern soll.
Wie wärs mit Mmh ja, mir geht's gerade nicht so gut. Mein Scheinverlobter Colin ist seit mehreren Minuten mit meinem 16-jährigen Cousin spurlos verschwunden. Er wollte sich um ihn kümmern. Was 'kümmern' bedeutet? KEINE AHNUNG! Aber wenn jemand mit einer Schaufel vorbeiläuft oder etwas unter der Erde nach Hilfe schreit, sagst du mir dann Bescheid?
Ich ringe mir ein Lächeln ab.
»Alles gut«, antworte ich gepresst und umklammere mein Sektglas. Anschließend nehme ich einen tiefen Schluck der prickelnden Flüssigkeit und stelle das Glas mit einem Ruck wieder ab. Alkohol geht immer.
»Ich glaube, ich sollte mal nach Colin schauen«, sage ich bestimmend und bei Colins Namen habe ich das Gefühl, dass Christians Mundwinkeln für einen Moment leicht nach unten wandern. Vielleicht irre ich mich auch einfach, aber sein Nicken ist dann für mich eindeutig. Die Hand, die vorher auf meinen Arm lag, ist plötzlich verschwunden und mit einem letzten Lächeln wende ich mich von ihm ab und bahne mir meinen Weg nach drinnen.
Die Empfangshalle ist sehr klein, aber durch den beigen Marmorboden und die hohen braunen Holzwände passt sie perfekt zu dem Charm des Gutshauses. Einige Kellner wirbeln hier umher, tragen silberne Tablets mit allerlei Getränken durch die Gegend oder Häppchen nach draußen. Plötzlich werde auch ich angesprochen.
»Darf ich Ihnen eine unserer Spezialitäten des Hauses anbieten?«, fragt mich eine Kellnerin mit langen schwarzen Haaren und zeigt stolz auf ihr Tablett. Fast schon gierig fällt mein Blick auf die kleinen Appetitbissen in ihrer Hand.
»La meilleure baguette bestückt mit einer hauchzarten Scheibe unseres besten Parma-Schinkens, gepaart mit einer unwiderstehlichen Créme de la Créme und gekrönt durch unsere eigens angebauten Basilikumblätter«, erklärt sie und lächelt.
Wie soll man da bitte widerstehen? Der knusprige Rand des Baguettes schreit ja förmlich nach meinen Namen!
Kiera, Kieraaaaaa.
Wollte ich nicht Diät machen?
Ich schlucke und atme tief durch, versuche den Blick von dem Tablett abzuwenden und standhaft zu bleiben, was mir kläglich misslingt. Mann, die Schnittchen springen mich schon beinahe an!
»Spezialität des Hauses sagten Sie?«, frage ich nochmal zögernd nach, woraufhin die Kellnerin munter nickt.
Na, wenn das so ist, dann muss ich ja praktisch probieren. Alles andere wäre respektlos gegenüber dem Hauskoch!
Lächelnd schiebe ich mir eines der Mini-Happen in den Mund und nehme mir gleich noch ein zweites mit.
Was?
Wer weiß, wo Colin und Finn sind! Der Weg dahin könnte lang werden, okay? Und irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich alle meine Kräfte brauchen werden, wenn ich die beiden gefunden habe. Also: Verurteilt. Mich. Nicht.
Andere machen Krafttraining, ich mache halt Zungen- und Kautraining.
Suchend trete ich durch die großen schweren Holzflügel in den Festsaal, der wirklich atemberaubend schön aussieht. Kaitlyn hat so viel Herzblut in diese Hochzeit reingesteckt oder besser gesagt ihr Hochzeitsplaner, der aus einem kleinen Saal eine bombenmäßige Kulisse gezaubert hat. Sobald man hereinkommt, fällt der Blick sofort auf die großen Fenster des gigantischen Wintergartens. Der Blick nach draußen ist mehr als toll. Man kann direkt auf Green Lake schauen, sehen wie sich die Sonne an der Wasseroberfläche bricht und dafür sorgt, dass der See glitzert und schimmert. Vor der gigantischen Fensterfont wurde eine lange breite Tafel aufgestellt, wobei die zwei mittleren Stühle das Zentrum bilden. Ringsumher stehen runde Tische überzogen mit weißen Tischdecken und bestückt mit apricotfarbenen Elementen. Fein säuberlich wurde eingedeckt, Gastgeschenke auf den Sitzplätzen positioniert, Tischkärtchen aufgestellt. Aufwendige Blumengestecke und hohe Kerzenständer runden die Deko ab, genauso wie die langen weißen Tücher, die von der Decke durch den Raum gespannt wurden und sich in der Mitte des Saales- direkt über der Tanzfläche- als Zentrum in einem herabhängenden Kronleuchter vereinen.
Einfach nur wow. Wirklich wow.
Aber ich will nicht wissen, was der Spaß gekostet hat.
So sehr wie der Raum mich auch umhaut, Enttäuschung macht sich in mir breit, als ich die beiden auch hier nicht finden kann.
Verdammt, ich hätte sie nicht aus den Augen verlieren dürfen, aber als Christian mir das Sektglas in die Hand gedrückt hat, hatte ich einfach keine andere Wahl mehr gehabt. Ich musste mich mit ihm unterhalten und zugegebenermaßen wollte ich das auch. Wie bitterböse die Entscheidung war, Colin mit Finn allein zu lassen, ahne ich, als ich durch einen Seiteneingang vom Saal auf eine zweite Veranda, diesmal mit Blick zum See anstelle mit Blick zum Park, trete. Hier ist es zwar etwas leerer und nicht ganz so überfüllt, aber trotzdem stehen Hier und Da ein paar Gäste und quatschen. Das ist aber nicht das, was mich in Aufruhr versetzt.
Denn obwohl ich noch nicht einmal einen Fuß auf die Terrasse gesetzt habe, höre ich jetzt schon lautes Gelächter, gepaart mit einem schrecklich schiefen Gesang. Eine schlimme Vorahnung macht sich in mir breit. Vor allem, als ich die noch nicht ganz ausgereifte männliche Stimme erkenne.
»YOU NE-EVER WILL WALK... ALONE!«
Was zur Hölle? Ich folge dem Lärm, verlasse die Hauptterrasse, indem ich um die Ecke biege. Ein kleines Schild an einem Buchsbäumchen bedeutet mir, dass es sich um die Raucherecke handelt. Dort wurden einzelne Stehtische aufgestellt, überzogen mit weißen Hussen. Alle sind leer außer einer.
Dort stehen Colin und Finn, wobei letztere Mühe hat sich auf den Beinen zu halten und sich angestrengt mit der einen Hand am Tisch abstürzt, während er mit seiner anderen Hand Colin zu prostet.
Ich glaube, ich spinne!
Dann setzen beide den Shot an, von dem ich anhand der leeren Gläser, die sich auf dem Tisch schon reihen, erkennen kann, dass es nicht ihr erster war.
Das ist jetzt nicht wahr! Das ist doch nicht sein fucking Ernst! Das nennt er »kümmern«?!
»Was zum Teufel macht ihr hier?!«
Wütend laufe ich auf die beiden zu und stütze, nach einer Antwort verlangend, meine Hände in die Hüften. Ertappt schauen beide auf, wobei sich sowohl auf Finns als auch auf Colins Lippen ein breites Lächeln abbildet.
»Kier-hicks- Kiera!«, werde ich augenblicklich von Finn begrüßt, der einen weiteren Shot ansetzt und in einem Zug leert. Sobald er die grüne Flüssigkeit, von der ich stark annehme, dass es sich um Schnaps handelt, runtergekippt hat, stolpert er auf mich zu.
Ich werde in eine überschwängliche Umarmung gezogen, begleitet von einer schwerwiegenden Alkoholfahne, die das Blut in meinen Adern erst richtig brodeln lässt. Mit finsterer Miene sehe ich Colin über Finns Schultern hinweg an. Mir fallen beinahe die Augen aus, als ich sehe, was er daraufhin macht:
Lächelnd hebt er das Glas, prostet mir mit bester Laune zu und leert dann den Inhalt ebenfalls in einem Zug.
Zum Teufel mit ihm! Ich will Finn wieder von mir wegdrücken, doch dieser ist plötzlich ganz schlapp. Zu schlapp.
Er ist doch wohl nicht gerade an meiner Schulter... Ich lunze nach hinten und als ich seinen gleichmäßigen Atem gepaart mit einem zufriedenen Grummeln höre, habe ich Gewissheit.
Jap, er ist gerade tatsächlich in meinen Arm eingenickt.
Und Alter ist der schwer! Mit beiden Armen versuche ich ihn halbwegs aufrecht zu erhalten. Gleichzeitig schaue ich hilfesuchend zu Colin. Dieser klatscht nur freudestrahlend in die Hände und verbeugt sich tief.
»Tadaaa! Problem gelöst. Morgen erinnert er sich an nichts mehr. Auch nicht an das, was im Gartencenter passiert ist. Danke mir später«, sagt er, was mich noch wütender werden lässt.
»Ich danke dir gar nicht!«, fauche ich, »Du hast meinen 16-jährigen Cousin unter den Tisch gesoffen und es ist erst 15 Uhr!«
Und dann fällt mir noch eine weitere Sache auf. Colin scheint zwar Finn abgefüllt zu haben, ist aber selbst noch in vollkommen aufnahmefähiger Verfassung.
»Wieso bist du eigentlich nicht betrunken?«, hake ich nach und beäuge ihn misstrauisch.
Colin zuckt bloß mit den Schultern.
»Übung macht den Meister. Von vier Shots verliere ich nicht gleich die Beherrschung wie Shakira hier. Also chill mal ein bisschen.«
Bitte was?
»Ich chille gar nicht«, werfe ich erbost ein, »Mein Cousin ist besoffen hoch zehn und muss sich erstmal ausnüchtern!«
»Das könnte ne Weile dauern«, fügt Colin mit einem zweifelnden Blick auf Finn hinzu. Na super.
»Am besten wir legen ihn solange in mein Auto«, schlage ich notgedrungen vor. Wir können ihn ja schlecht in der Raucherecke liegen lassen. Auffordernd sehe ich Colin daraufhin an. »Also los geht's!«
Da ich meine Hände nicht frei habe, bedeute ich ihn mit den Augen, Finn mir abzunehmen, aber dieser Idiot checkt wie immer nichts.
»Wie 'los gehts'?«, fragt er und sieht mich verwirrt an. Ich rolle mit den Augen und erkläre: »Sehe ich so aus, als schleppe ich ihn zum Parkplatz? Nein, sehe ich nicht.«
Colin kneift die Augen zusammen. »Und deswegen ist es jetzt mein Problem? Er ist dein Cousin!«, beharrt er.
»Den du unter Tisch getrunken hast!«, merke ich an.
»Weil es unser Problem war, was es zu lösen galt. Habe ich gemacht!«, sagt er und zeigt mit beiden Händen auf Finn, der immer noch an mir hängt wie ein nasser Waschlappen.
»Und gleich wieder ein neues geschaffen!«, empöre ich mich und kann nicht glauben, dass er sich jetzt tatsächlich rausreden will. »Der Bruder der Braut ist sturzbetrunken wegen dir!«
»Er ist sechzehn. Jeder ist in dem Alter sturzbetrunken«, erwidert Colin und steckt seine beiden Hände in die Taschen seines Anzugs.
»Deine Argumente werden schlechter, Walker.«
»Dafür waren deine Argumente noch nie gut, Chiara. Ciao!«
Völlig machtlos muss ich mit ansehen, wie er pfeifend und mit einem so schrecklich breiten Grinsen im Gesicht an mir vorbeiläuft.
»Du gehst jetzt nicht!«, schreie ich und versuche mich samt Finn zu ihm zu drehen, was sich als unglaublich schwierig erweist. Nicht ich sollte eine Diät machen, sondern er!
»Was? Ich kann dich nicht mehr hö-ren?«
»Colin!«
Er wird mich doch jetzt nicht mit Finn an der Backe einfach so zurücklassen! Ich meine-das tut er doch nicht wirklich, oder?
»Hast du was gesagt, Chiara?«, tönt es schon weit hinter mir.
»COLIN WALKER! DAS TRAUST DU DICH NICHT! WENN DU JETZT GEHST...«
Doch das Einzige, was ich höre, ist eine billige Nachmache von Gery & The Pacemakers legendären Hit in Form von Colins entsetzlich schiefen Gesang.
»YOU WILL FOR-EVER WALK ALONE!«
Oh, das wird er bitter bereuen.
Kiera: 1 - Colin: 2
Ich, während ich das Kapitel geschrieben habe➡️😂😂😂😂😂😂
Ich, als Kiera in diesem Kapitel➡️😡😡😡
Ich, als Colin in diesem Kapitel➡️😁🍻🖕🏻
Ich, als Colin im nächsten Kapitel➡️😡😡😡
Ich, als Kiera im nächsten Kapitel➡️😁😙🖕🏻
Eure Emotionen während des Lesens?
Nächstes Kapitel auch endlich wieder aus Colins Sicht💗
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