𝟎𝟔│𝑲𝒊𝒆𝒓𝒂
Kurz vor der Trauung
»Ich hasse dich.«
»Weiß ich schon.«
»Ich sehe so beknackt aus! Kein Wort über mein Aussehen! Wenn einer etwas sagt, ist dieser jemand tot!«, faucht Colin drohend, zupft gereizt an dem rot gemusterten Hemd herum und versucht zum zick tausendsten Mal seit wir das Auto verlassen haben, sein blaues Sakko zu schließen. Dieses springt jedoch nach spätesten zwei Sekunden wieder ungehindert auf.
Da ist wohl der Anzug bei jemandem eingelaufen...
»Fuck!«, jammert er aufgebracht und gibt schließlich mit einem verzweifelten Seufzer auf.
»So schlimm sieht es nicht aus«, sage ich beschwichtigend, obwohl er schon ziemlich geschossen aussieht. Seine braune Mähne ist ganz durcheinandergeraten, weil er sich mit seinen Händen in den letzten Minuten ständig aufgebracht durch die Haare gefahren ist. Das dunkelblaue Sakko ist ihm viel zu klein und spannt sich deutlich um seine muskulösen Schultern.
Wenn er es zumachen würde, würde er zwar einen Großteil des wunderschönen Herzchenmusters verstecken, aber er würde aussehen wie eine verdammte Presswurst. Einzig und allein die blaue Anzughose scheint ihm zu passen. Nicht zu vergessen von den cognacfarbenen Schnürschuhen, die ihm wirklich gutstehen und zumindest untenrum aussehen lassen wie einen halbwegs akzeptablen Hochzeitsgast. Obenrum lassen wir jetzt mal außer Acht.
»Woah, ich sagte: KEIN. WORT!«, meckert er und sieht mich gereizt von der Seite an, doch ich lächle ihn nur charmant an.
Er hat doch tatsächlich gekniffen. Ich war gerade dabei das Auto vom Parkplatz zu lotsen, als der Herr ganz plötzlich panisch beschlossen hat, das Hemd doch noch anzuziehen.
Dramatische Wendung des heutigen Tages, aber noch dramatischer war sein blasser Gesichtsausdruck, der wirklich abgöttisch war, als ich kurz davor war zum ersten Mal zu hupen. Herrlich!
Schade, dass ich kein Foto gemacht habe.
Mit griesgrämiger Miene seitens Colin, einem genugtuendem Lächeln auf meinen Lippen und den unverständlichen Kopfschüttelns Finns, erreichte so mein pinkes Auto zum zweiten Mal an diesem glorreichen Tag die vorherige Liegeposition auf dem Parkplatz.
Während Finn schon mal mit den Blumen vorne weg gedüst ist und unsere Drama-Queen sich im Auto umgezogen hat, habe ich die Gunst der Stunde genutzt, um mich ebenfalls im Eiltempo ein wenig festtauglicher zu machen.
In meiner Handtasche hatte ich zum Glück noch einen kleinen Kamm, mit dem ich erstmal Ordnung in das Haarchaos auf meinem Kopf gebracht habe. Für eine aufwendige Hochsteckfrisur oder irgendein selbstgemachtes Geflecht, was bei mir jedes Mal sowieso missglückt, war keine Zeit mehr, also habe ich mich dazu entschieden, meine Haare einfach offen zu tragen. Ich habe sowieso Naturlocken, die, wenn man sie mit dem Finger ein bisschen nachdreht, aussehen wie mit dem Lockenstab gedreht.
Und halleluja, habe ich doch tatsächlich noch Puder und einen Nude-farbigen Lipgloss in den Tiefen meiner Tasche gefunden. Mit ein paar flinken Handgriffen habe ich diese aufgetragen und erfreut festgestellt, dass mein Gesicht durch das Puder nicht mehr so glänzt und das Nude meiner Lippen perfekt mit dem Apricot des Kleides harmoniert.
Die unschönen braunen Flecken auf meinem Kleid ließen sich dagegen nicht entfernen, aber durch mehrmaliges Rubbeln und Reiben sind sie ein bisschen blasser geworden, wenn auch nicht viel. Zum Schluss habe ich meine bequemen Sneakers noch gegen ein paar beige High Heels ausgetauscht und fertig war die Geschichte.
Mehr war einfach nicht drin, denn seit einigen Sekunden läuteten ununterbrochen die Kirchenglocken- ein Zeichen, dass es langsam mal Zeit wurde sich in Richtung Kirche zu bewegen.
Das taten wir auch, nur erwies sich der Weg dahin als äußerst...mühsam.
Ich hasse hohe Schuhe und ziehe eigentlich sonst auch nur Sneakers an, aber heute war ein besonderer Tag und zugegebenermaßen hatte mich Kaitlyn auch in die High Heels-Geschichte reingequatscht.
Den durchaus amüsierten Blicken Colins nach zu urteilen, die ich selbstverständlich ignorierte, musste ich gerade aussehen wie ein gehbehinderter Storch auf Crack.
Vielleicht hätte ich die Schuhe vorher mal einlaufen sollen.
Zu spät.
Kein Wunder also, dass ich extrem erleichtert bin, als wir den geschotterten Parkplatz verlassen, weil ich bei jedem kleinen Kieselstein Angst hatte gleich den Boden zu küssen.
Dafür erstreckt sich jetzt ein gepflasterter, runder Platz vor uns, in dessen Mitte sich ein mit Blumen bepflanzter Kreisel befindet. Ein Wunder, wenn ihr mich fragt, dass der nicht auch noch mit apricotfarbenen Blumen bestückt wurde.
Mein Blick schweift weiter zu der kleinen, aber feinen Kirche auf der linken Seite, die durch das hellbraune Backstein ein mittelalterliches Flair bekommt. Der Kirchturm ragt stolz in den türkisfarbenen Himmel empor, während sich vor den Türen der Kirchen unzählige blaue und apricotfarbene Gestalten tummeln, die sich begrüßen, beherzen und plaudern. Ungezügelt strömt die Masse ins Innere der Kirche.
Meine Augen bleiben schließlich an Colin hängen. Stumm läuft er neben mir her, den Blick zweifelnd auf die Kirche gerichtet. Dann bleibt er plötzlich stehen und rauft sich die Haare. Seine braunen Augen weiten sich erschrocken und sein Gesichtsausdruck hat sich binnen Sekunden von »Ich-habe-kein-Bock-auf-diese-Hochzeit« zu »Ich-muss-hier-schleunigst-weg« gewandelt.
Ich seufze und stoppe ebenfalls. Was ist denn jetzt wieder los?
»Fuck, Stressica ist da!«, sagt er zerknirscht und spannt sichtlich nervös seinen Kiefer an. Ich folge seinen Blick in die Masse, kann aber niemanden bestimmten ausmachen.
»Stressica?« Fragend ziehe ich eine Augenbraue nach oben. Wer soll das bitte sein? Ich habe höchstpersönlich die ganzen 124 Tischkärtchen selbst beschriftet und dabei bin ich definitiv nicht auf den Namen »Stressica« gestoßen.
Colin muss meinen verwirrten Gesichtsausdruck merken, denn sofort setzt er zu einer Erklärung an: »Ja, eigentlich Jessica, aber seit der einen Nacht Stressica. Sie ist sowas wie Josh Sandkasten Freundin und wir ehm...«
Er zögert, scheint nach den richtigen Worten zu suchen, dabei ist es doch offensichtlich, was bei dem Wort Nacht und einem weiblichen Vornamen im Zusammenhang mit Colins äußerst attraktiver Persönlichkeit (wenn man seinen arroganten Charakter außen vor nimmt, was ich nicht tue!) zusammen betrachtet.
Daher schaue ich ihn unvermittelt an, als ich sage: »Ihr habt gevögelt.«
Keine Frage, Freunde. Das ist ne Feststellung.
Für einen Moment starrt er mich an als hätte ich ihm gerade offenbart, dass er diese Nacht in meinem pinken Auto verbringen muss. Dann wechselt sein Ausdruck von überrascht zu bloßer Empörung. Gefasst langt seine Hand an seine Brust.
»Woah, du hast ein völlig falsches Bild von mir!«, empört er sich und blickt mich doch tatsächlich gekränkt an.
Ich schnaufe.
Das ist doch nicht sein Ernst, dass ich ihm die Nummer jetzt abkaufe! Colin Walker vernascht zum Frühstück wahrscheinlich schon reihenweise Mädels. Also wem will er jetzt hier die Nonne vorspielen, huh?
»Wir haben nicht, also...« Verlegen fährt er sich durch seine braunen Haare und beißt sich auf die Lippe.
Ich verschränke die Arme und verharre. Wir liefern uns ein kurzes Blickduell, was darauf hinausläuft, dass er binnen sieben Sekunden beschämt wegschaut. Ich wusste es!
»Okay, wir haben eventuell Speichel ausgetauscht...«, gibt er zu, doch ich sehe ihn immer noch unbeirrt an. Veraschen kann ich mich selbst.
»Na schön! Es waren auch noch andere Körperflüssigkeiten! Zufrieden?«
»Ach komm schon! Du hattest deinen magischen Zauberstab in ihrer Petunie!«, stelle ich klar, was offensichtlich ist.
»Okaaayyy...«, lenkt er schließlich ein. »Eventuell hatte ich-warte, wie hast du es genannt? Magischen Zauberstab? Damn, denn by the way dieser Zauberstab ist gigantisch. G-I-G-A-N-T-I-S-C-H. Dumbledore mit seinem Elderstab ist dagegen ein Witz. Ein verdammter Witz! Mit einem »Expelliarmus!« nagele ich jede meiner Angreiferinnen an die Wand! Verstehst du? Nageln? Haha... Ehm... Scheiße, ich habe den Faden verloren...Wo waren wir gleich?«
Angewidert und leicht verstört von seinem schrecklichen Vergleich starre ich ihn an. Dank ihm werde ich nie wieder Harry Potter schauen könne ohne diverse Bilder im Kopf zu haben!
Colin ist sich anscheinend keiner Schuld bewusst, denn frohmunter plappert er weiter.
»Achso...also wie gesagt, der magische Zauberstab hat vielleicht mal den Weg zur geheimen Grotte beleuchtet.«
Oh Gott. Zu viele Informationen. Zu. viele. Informationen!
Harry Potter hat sich damit ein für alle Mal erledigt. Na vielen Dank auch!
»Es war der größte Fehler meines Lebens! Ich schwöre es!«, beteuert er und für einen kurzen Moment habe ich Mitleid mit ihm. Solange bis er sagt: »Naja, gleich nach der Tatsache, dass ich heute in das Gartencenter gegangen bin.«
Da ist es wieder. Dieser barsche Unterton, dieser spitze Kommentar und das obwohl ich dachte, dass wir unsere Feindseligkeit jetzt langsam mal ablegen könnten.
»Haha«, erwidere ich matt.
»Nicht lustig. Sie hat mich Tage danach terrorisiert. Also habe ich ihr erzählt, dass ich eine Freundin haben, die ich nicht habe, weil man ja in Joshs Fall sieht worauf Beziehungen hinauslaufen, was ich nicht will und...momentchen Mal...Du bist doch weiblich...?«
Seine braunen Augen mustern mich aufmerksam. Ich sehe wie sich die Rädchen in seinem Kopf drehen, einen teuflischen Plan ausarbeiten, bei dem er soeben beschlossen hat mir die Hauptrolle zu überlassen. Nur das ich mich zu keiner Zeit für den Posten beworben hatte und sicherlich nicht Darstellerin auf seiner verkorksten Bühne werde, die sich sein 'Leben' nennt.
»Oh neeeeein. Vergiss es. Vergiss! Es!« Mahnend sehe ich ihn an.
»Na, war nur so ein Einfall...«, wirft er von der Seite ein, den Blick immer noch nachdenklich auf mich gerichtet.
»Ein dummer Einfall!«, bemerke ich und wir setzen uns wieder in Gang.
»Nur ein Gedanke, mach dich locker!«
Mich locker machen? Wie soll ich mich locker machen, wenn er dieses diabolische Grinsen auf den Lippen hat? Dieses tückische Funkeln in seinen Augen? Wenn die Stimme in meinem Kopf mir zuschreit, dass ich schleunigst von ihm wegkommen sollte, weil sonst die Gefahr läuft, dass er seinen brillanten Plan doch noch in die Tat umsetzt?
Aber das würde er doch nicht tun, oder? Er hasst mich genauso wie ich ihn hasse. Völlig ausgeschlossen, dass er auch nur daran gedacht hat, dass er und ich... lächerlich!
»Fuck, sie kommt«, stöhnt Colin neben mir und lässt mich mit diesen Worten die Aufmerksamkeit nach vorne richten.
Stressica im Anmarsch, Freunde.
Stressica. im. Anmarsch.
Tja, Colin hat doch tatsächlich gekniffen und das, obwohl wir uns doch alle schon so darauf gefreut hatten, ihn im knallpinken Smart vor die Kirche vorfahren zu sehen! 💒🚙
Schade, aber hey!
Dafür muss er jetzt mit seinem Lieblingshemd den ganzen Tag durch die Gegend laufen. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was besser ist😂😅
Und was hat es mit Stressica wohl auf sich, Mmh?🤔🤔Wird sie Probleme machen?
Wir erfahren es bald und ich kann euch jetzt schon verraten, dass das nächste Kapitel zu einem meiner Lieblingskapitel gehört🙊😄💗
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