𝟎𝟏│𝑲𝒊𝒆𝒓𝒂

Noch eine gute Stunde bis zur Trauung

»Arrgghhhhh!«

Kaitlyn's Wutschrei hallt durch das kleine Wohnzimmer der Stuarts. Dem Zimmer, von dem alle anderen Familienmitglieder oder Gäste schon frühzeitig Reißausgenommen haben wegen einer sehr, sehr empfindlichen Braut.

Den Einzigen, denen dieses Glück verwehrt worden ist, sind meine Tante May, die glückliche Brautmutter heute, meinem Cousin Finn, der noch glücklichere Brautbruder (vor allem brennt er schon wahnsinnig darauf, die Braut nachher durch den Gang der Kirche zu führen) und ich- die Cousine alias der Knecht der Braut.

Nope, ich bin nicht die Trauzeugin.

Die blöde Kuh hat es nämlich richtig gemacht und sich gleich in die Kirche verpisst, als sie gesehen hat, wie ich mit dem momentanen Problem ins Wohnzimmer spaziert bin.

Wäre das nicht schon der dritte Ausraster nach dem Tortendebakel, den falschen Schleifen an der Kutsche und den Trauungskarten, die anstatt Kaitlyn und Josh die Druckerei nur mit den Initialen K&J versehen hat, dann hätte ich mich gleich ins Krankenhaus einliefern können.

Diagnose? Hörsturz des schlimmsten Grades.

Stattdessen sind meine Ohren nun schon langsam daran gewöhnt, wenn Kaity einen ihrer vielen Anfälle bekommt und das obwohl heute ihr großer Tag ist.

Sollte man da nicht freudestrahlend durch die Gegend laufen mit dem Gewissen, dass heute der beste und schönste Tag aller Zeiten wird? Ja, sollte man.

Es sei denn, man heißt Kaitlyn Stuart. Dann terrorisiert man seit Wochen seine eigene Familie, inklusive seiner liebreizenden Cousine, die sich in diesem Moment etwas Hochprozentiges herbeisehnt, um die nächsten Minuten heil überstehen zu können.

Hilfesuchend sehe ich mich im Raum nach einer Flasche Wodka oder Gin um, komme mit meinem Blick aber nicht weit, weil ich dann auf das alles andere als glücklich aussehende Gesicht der Braut treffe.

Sie ist rot wie Tomate.

Mann, ihre Gesichtsfarbe macht ja schon den roten Lippenstift auf ihrem Mund Konkurrenz.

War schön euch gekannt zu haben, Freunde.

»Was zur Hölle ist DAS?!«, fragt sie verärgert und zeigt auf das orangene Pflanzengesteck, das ich soeben von der Gärtnerei abgeholt habe.

Ich beiße mir auf die Lippen und senke meinen Blick nach unten.

Ich hatte ein schönes Leben. 24 Jahre auf dieser Erde waren nicht viel, aber sie waren schön. Ich werde von hier gehen und das mit Stolz. Naja, so viel Stolz wie mir noch übrigbleibt, wenn die Tarantel mit mir fertig ist.

Ungeduldig tippt sie mit ihren silbernen High Heels auf den gekachelten Dielenboden.

Die Schuhe waren eine Sonderanfertigung, weil sich jeweils ein Wort des Schriftzuges »Forever Together« unter den beiden Sohlen befindet. Das Paket mit den Schuhen musste ganze dreimal neu geschickt werden, weil Kaity immer etwas an dem Endergebnis zu nörgeln hatte. Die Schrift, der Abstand der Buchstaben und, und, und...

Aus dem Augenwinkel beobachte ich wie sie einen Pflanzhalm aus dem liebevoll zusammengesteckten Blumenbouquet herausreißt. Missbilligend begutachtet sie die Blume in ihrer Hand. Dann baut sie sich wieder vor mir auf und schaut mich abwartend an.

Sie hat bis jetzt noch keine Antwort auf ihre Frage erhalten. Ehrlich gesagt, weiß ich überhaupt nicht, ob nichts sagen schlimmer ist als etwas sagen. Weil ich mich aber für die erste Variante entscheide á la Schweigen ist Gold wert, räuspert sich Finn, der bis jetzt still auf dem Sofa gesessen hat und amüsiert die Ich-mache-Keira-heute- zum-8.-Mal-in-Folge-zur-Schnecke-Show mitverfolgen konnte.

Belustigt wirft er einen Blick auf Kaity.

»Sie haben Blätter, riechen gut. Ich schätze, das Ding, was du in deiner Hand gerade zerquetscht, ist ne Blume, Kaity«, bemerkt er und zwinkert mir dabei verschwörerisch zu. Immerhin ist einer auf meiner Seite.

»Klappe, Finn!«, faucht Kat ihren jüngeren Bruder an und fokussiert sich wieder auf mich. Ihre grünen Augen, die durch das perfekte Makeup der Hochzeitsvisagisten noch mehr zum Vorschein kommen, sehen mich abschätzig an.

Könnten Blicke töten, dann läge ich jetzt schon mehr als eine Etage tiefer unter der Erde.

»Also Kiera... Was ist das?« Sie fuchtelt mit der Blume vor meiner Nase herum und am liebsten würde ich im Boden versinken. Da ich aber weiß, dass man ihren Geduldsfaden nicht noch weiter überstrapazieren sollte, schon gar nicht heute, straffe ich selbstbewusst meine Schultern.

Auf in den Kampf!

»Eine Nelke?«, nuschle ich leise und ignoriere die Tatsache, dass meine Antwort mehr nach einer Frage klingt.

Was will sie denn hören? Die Blume in ihrer Hand ist gewiss kein Elefant!

»Ganz genau...«, sagt sie und ich atme erleichtert aus. Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich die Luft angehalten habe.

Doch so optimistisch wie ich über meine richtige Antwort war, so schnell wird mir dieses Glück wieder genommen, als sie die Hände in die Hüfte stützt. Jeder der Kaitlyn auch nur im Entferntesten kennt, weiß, dass das kein gutes Zeichen ist.

Oho, gar kein gutes Zeichen.

»Und jetzt beantworte mir noch eine Frage. Welche Farbe hat die Nelke?«, fragt sie und kneift dabei ihre Augen zusammen.

Warum ist mir eigentlich noch nie aufgefallen, dass meine Cousine aussieht wie eine Schlange?

Sie hat diese grünen Augen, die seit ich sie kenne, diesen abwertenden Blick auf alle und jeden haben. Ihr dünner, schlangenartiger Körper kommt in dem hautengen weißen Traum aus Spitze (natürlich Sonderanfertigung!) perfekt zur Geltung und unterstreicht ihre Proportionen an Hüfte und Taille. Seit sie den Antrag bekommen hat, ernährt sie sich ausschließlich von Grünzeug und hat jede erdenkliche Diät ausprobiert, um in das Kleid zu passen.

Anlegen mit Kaitlyn? Da kannst du dich gleich aus dem Fenster stürzen.

Schon gar nicht sollte man sich mit ihr heute anlegen. Ihrem großen Tag.

Den Tag aller Tage.

Es ist der Tag, von dem sie schon seit Monaten redet.

Der Tag, an dem nichts schief gehen sollte. Und ausgerechnet die Gartenfirma hat orangene anstatt wie bestellt apricotfarbene Nelken fürs Traugesteck geliefert.

Halleluja!

Und wer darf den Mist jetzt ausbaden? Ic-

»Kiera!« Sie schnipst wütend mit ihren rot manikürten Fingern vor meiner Nase und katapultiert mich damit ins Hier und Jetzt.

»Beantworte gefälligst die Frage! Welche Farbe haben die Nelken?«

Ich schlucke. Jetzt ist es endgültig. Adiós, amigos!

»Apricot. Irgendwie?«, antworte ich und ringe mir ein leichtes Lächeln ab in der Hoffnung sie zu besänftigen.

Vergeblich.

Ihre Gesichtsfarbe schwankt gerade verdächtig von einer Tomate zu einer überreifen Wildkirsche.

Mayday, mayday. Bitte Leitung durchstellen an die Kommandozentrale. Verzweifelter Hochzeitsgast muss vor cholerischer Braut gerettet werden. Maydayyyyy!

»Irgendwie? Irgendwie! Finn, sieht das für dich nach apricot aus?«, fragt sie erbost und wendet sich wieder zu ihrem Bruder, der trotz der Frage desinteressiert auf seinem Smartphone rumtippt.

»Was ist apricot? Ne Obstsorte?«, entgegnet er unschuldig und ich muss mir ein Kichern verkneifen.

Wenn ich jetzt auch noch laut loslache, bin ich komplett geliefert.

»Uff, vergiss die Frage!«

Sichtlich genervt wirbelt sie zu mir herum.

»Kiera, du hattest nur EINE Aufgabe! EINE Aufgabe! Und zwar apricotfarbene Nelken zu besorgen und jetzt bringst du mir DAS! Das ist verdammtes Hellorange!«, meckert sie und sieht mich streng an.

Ich weiß nicht recht, was ich darauf erwidern soll. Was kann ich schon dafür, wenn die Gartenfirma die Bestellung nicht richtig ausführt! Ich habe nur die Blumen abgeholt und sonst nichts. Dem Einzigen, dem sie jetzt Vorwürfe machen sollte, ist der Fuzzi am Abholschalter von FlowerPower, der meinte, Hellorange wäre das neue Apricot. Na vielen Dank auch!

Das Stimmungsbarometer in diesem Raum hat zudem ein weiteres Tief erreicht. Das Wohnzimmer ist elektrisiert, aber nicht von Lust oder Leidenschaft wie man in den Romanen liest, sondern von Zorn.

Kaitlyns Zorn genauer gesagt, der mich umgibt und jeden Moment zu erdrosseln droht. Doch bevor irgendetwas dergleichen geschehen kann, durchbricht Finns Stimme die anherrschende Spannung, wobei seine Stimmfarbe dafür ungewöhnlich hoch ist.

»Oh mein Gott, hast du das gesehen?!«

Er steht auf, läuft auf den Tisch mit den Nelken zu und schüttelt so sehr das Gesicht, dass seine blonden Locken bei dieser Bewegung mit wippen.

»Das ist hellorange, Kiera!«, äfft Finn Kaity nach und legt dabei theatralisch eine Hand auf die Stirn.

»Wie konntest du nur! Mum, hast du das gehört? Hellorange! Eine Schande! Eine Tragödie! Hilfe! Hilfe! Die Welt geht unter! Wir werden sterben!«

Zum krönenden Abschluss seiner Performance ersticht er sich noch mit einem unsichtbaren Dolch und stirbt eines, wie ich finde, wirklich authentischen Todes auf dem Wohnzimmerboden.

Der Tod von Mr. Lustig hält aber nicht lange an, denn keine zwei Sekunden später hat er sich wieder aufgerappelt und rennt lachend vor Kaity weg, die sich kurzerhand irgendeine Keramikvase gegriffen hat und ihn quer durch das Zimmer jagt.

»Du Idiot! Wenn du nicht gleich deine verdammte Klappe hältst, schmeiß ich dich eigenhändig aus diesem Zimmer raus!«, droht sie, bleibt aber wuterbrannt stehen als sie merkt, dass es vielleicht doch keine so gute Idee ist in einem Meerjungfrauenkleid einen Sprint einzulegen. Das Letzte was wir jetzt gebrauchen können, ist eine aufgerissene Naht am Kleid.

Doch Finn grinst nur, fällt vor uns auf die Knie, hebt die Hände in die Luft und sagt in einem flehenden Tonfall: »Ich dachte schon, du sagst das nie! Bitte, erlöse mich!«

»MUMMMMMM!«

Tante May, die sich die ganze Zeit stumm im Hintergrund gehalten hat, reibt sich einmal über die Schläfe und sieht Finn tadelnd an.

»Finn, Schätzchen, könntest du bitte deine Schwester in Ruhe lassen. Heute ist ihr großer Tag, meine Nerven liegen blank und das, obwohl wir noch nicht mal die Kirche erreicht haben. Wenn du dich also in die Ecke setzt, deine Klappe hältst und wartest bis es losgeht, wären wir dir sehr dankbar.«

Finn rollt zwar mit den Augen, befolgt aber brav die Anweisungen seiner Mutter und verzieht sich wieder stumm auf die Couch. Indessen bin ich wieder Mittelpunkt Kaitlyns Aufmerksamkeit.

»Du musst nochmal losfahren!«, beharrt sie stur, aber ich schüttele nur den Kopf.

Wie stellt sie sich das vor?

Ich habe es gerade mal geschafft das apricotfarbene Kleid (Jap, es gibt einen Dresscode. Frauen in apricot. Männer in blau.) überzuziehen und im Eiltempo meine Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammengebunden, bevor ich zur Gärtnerei geflitzt bin.

Kein Makeup.

Kein Schmuck.

Noch nicht einmal duschen konnte ich! Dabei bin ich so schweißgebadet, dass ich jetzt ein heißes Bad dringend nötig hätte.

Außerdem ist die Trauung schon in einer Stunde. Deswegen räuspere ich mich und sage entschuldigend: »Ich kann nicht nochmal losfahren. Das schaffe ich nicht. Tut mir leid, Kaitlyn.«

»WAS HAST DU GESAGT?«

Fassungslos starrt sie mich an. Ihre grünen Augen durchbohren mich in jeglicher Art und Weise.

»Ich sagte, ich schaffe das-«

Es ist als hätte es diesen dunklen Rotton in ihrem Gesicht nie gegeben. Stattdessen breitet sich eine unnatürliche Blässe auf ihren Wangen aus. Sie leiert leicht mit den Augen. Naja, sie war schon immer eine Drama-Queen, aber sie wird doch wohl nicht...

»Kaity? Kaitlyn!«

Ehe ich mich versehe, habe ich sie an den Schultern gepackt und fest umklammert, bevor ihr schlapper Körper auf den Boden trifft.

Tante May schreit erschrocken auf und ist sofort an meiner Stelle.

»Oh Gott! Kaitlyn!«

Während Kaity mit leiernden Augen auf den Boden liegt, nach Luft japst und theatralisch eine Hand auf ihre Stirn gelegt hat, nehme ich den Schatten einer weiteren Person neben mir wahr.

Finn.

»Endlich mal ein bisschen Action hier!«, stellt er fröhlich fest und schaut dann entrüstet auf sein Smartphone, welches er in seiner Hand hält und auf Kaity gerichtet hat.

»Scheiße, ich hab's nicht auf Video. Halt, stopp! Kann sie nochmal fallen? Dann kann ich das in SloMo aufnehmen und auf Insta stellen. #Atemberaubende Hochzeit. Haha.«

»Klappe, Finn!«, erwidern Tante May und ich fast zeitgleich und versehen ihn dabei mit einem bösen Blick.

Super, die Kirche ist noch nicht einmal in Sicht und Kaitlyn hat schon ihren ersten Ohnmachtsanfall! Das kann ein Tag werden!

»Alles okay?«, frage ich unsicher und helfe der Braut, deren Atmung sich langsam normalisiert, beim Aufstehen.

Dennoch schüttelt sie den Kopf.

»Ich kann das nicht!«, schluchzt sie.

Verwirrt sehe ich sie an. Wie genau meint sie das?

»Was?«

»Ich kann nicht heiraten«, spezifiziert sie ihre Antwort und mir rutscht augenblicklich mein Herz in die Hose. Naja, nicht wirklich Hose, weil ich ja ein Kleid anhaben, aber ihr versteht, was ich meine.

Immerhin ist DAS definitiv nicht der Satz, den man an solch einem Tag sagen sollte.

Auch Tante May scheint die Welt nicht mehr zu verstehen und fragt entgeistert: »Was? Wieso? Liebst du ihn nicht mehr?«

Kaitlyn beißt sich auf die Lippe.

»Nein, das meinte ich nicht. Ich kann nicht heiraten mit...«

»Mit was?«

»...hellorangen Nelken!«, antwortet sie und am liebsten würde ich die Keramikvase, die sie vorhin in der Hand hatte, nehmen und ihr damit eins überziehen. Wie kann sie uns nur so einen Schock einjagen?!

»Wie wär's, wenn wir die Blumen einfach anmalen in diesem Aprikose?«, schlägt Finn vor.

»Es heißt apricot, du Idiot!«

»Aprikose, sage ich doch!«

Ein Lachen im Hintergrund und eine gereizte Braut, an deren Augen ich genau ablesen kann, wie sie der Liste von Mordwaffen durchgeht, die man am schnellsten beseitigen könnte.

»Ich korrigiere: Ich kann nicht heiraten mit hellorangen Nelken und ihm.«

»Oh bitte, ich würde auch lieb-«, beginnt Finn, doch wird prompt von Tante May unterbrochen, die sich mir zugewendet hat.

»Kiera, bitte geh nochmal los und besorg apricotfarbene Nelken. Mit Finn.«

Was? Das kann nicht ihr Ernst sein!

»Aber Mum...«, setzt Finn trotzig an.

»Aber Tante May, ich kann ni-«

Doch bevor ich meine Liste mit Gründen darlegen kann, warum ich nicht nochmal losfahren sollte, hebt Tante May beschwichtigend die Hand und unterbricht uns, indem sie streng sagt:

»Keine Widerreden! Ich habe keine Lust, dass sie schon im Kirchengang losheult und das nicht wegen ihres zukünftigen Mannes, sondern beim Anblick der Blumen. Das Kind kriegt die Traumhochzeit und ich ne Flasche Schampus, sobald sie »Ja« gesagt haben. Punkt! Ende! Aus!«

Super, somit war also unser Schicksal besiegelt.

Kapitel 1, Freunde!
Ach, ich liebe sie jetzt schon alle und würde mich wahnsinnig freuen, wenn ihr mich und Kiera&Co auf ihrer Reise weiterhin begleitet😁☺️

Was sagt ihr zu unserer Braut? Eine ganz nette, ich weiß. Und so entspannt an ihrem großen Tag😂😂😂

Übrigens spielt die Geschichte in einer amerikanischen Kleinstadt an der Westküste, aber das nur so am Rande😉

Wir lesen uns auf jeden Fall am Samstag! Bis dahin Ciao, ciao!👋🏻👋🏻👋🏻

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