Kapitel 4

Ian

„Wer hat meine Tasse schon wieder gestohlen?", grölt Mehdi Bakiras Stimme auffällig griesgrämig aus Richtung Büroküche. Ohne mich aus dem nervenaufreibenden Prozess des Kartenhaus-Bauens ziehen zu lassen, verstaue ich die benutzte Kaffetasse mit dem Aufdruck „Top-Secret – nicht mal ich weiß, was ich hier mache" beiläufig in einer geöffneten Schublade meines Schreibtischs und drücke sie so leise wie möglich zu, auf das sie mir zumindest heute keinen Ärger einbringt.

Schwere Schritte nähern sich dem Büro-Trakt und im nächsten Moment wird die Schiebetür aufgerissen. Ein wirklich wütender Officer Bakira lässt seinen Blick zu meinem Bedauern nicht lange im Raum herumschweifen, sondern nimmt ohne zu zögern sofort mich ins Visier, das spüre ich als erfahrener Tu-nicht-gut auch ohne direkten Augenkontakt zu riskieren. Ob ich das als Diskriminierung am Arbeitsplatz vermarkten kann? Nur noch die beiden obersten Karten fehlen bis zur Vollendung meines Kartenhauses.

„Paddock", knurrt der stämmige Mann, der heute genau wie ich Bürotag hat, weil wir wohl oder übel den Einsatz von gestern dokumentieren müssen, während er auf meinen Platz zugeht.

„Ich kann gerade nicht", erwidere ich konzentriert. Meine Finger zittern leicht, während ich versuche, die Karten in die perfekte Balance zu bringen. Komm schon.

„Das ist", er stoppt, um seine Hand auf meinen Tisch prallen zu lassen, „nicht witzig."

Die gesamte Tischplatte erzittert unter dem Gewicht des muskelbepackten Mannes und das gesamte Kartengebilde fällt vor seiner Vervollkommnung zusammen. Jetzt heißt es Ruhe bewahren. Ich atme hörbar aus und richte meinen Blick schließlich unverwandt auf meinen Kollegen. „Was kann ich für dich tun, Bakira-Mäuschen?"

Er ist nicht kindisch genug, um auf meine Provokation einzugehen, sondern löchert mich nur mit seinem beschissenen Telepathenblick. Dass ausgerechnet er diese seltene Ability besitzt, hat mich früher immer ziemlich schnell auffliegen lassen, aber heute weiß ich, dass es kaum für ja/nein-Überprüfungen ausreicht und er größtenteils eine Art verbessertes Bauchgefühl besitzt.

„Weißt du wie viele von den Bürotassen dreckig sind?", fängt Bakira an.

„Nei-", will ich antworten, aber das war wohl mehr eine rhetorische Frage, denn er unterbricht mich gleich wieder.

„So ungefähr alle. Und jeder weiß, dass du der Einzige bist, der sein Geschirr ungewaschen auf den Tresen stehen lässt. Mach deine Dreckstassen selber sauber und hör auf immer welche von meinen zu nehmen!", endet mein Kollege, ohne großartigen Eindruck hinterlassen zu haben, denn erstens bin ich auf keinen Fall der einzige und zweitens lässt jeder mal ausversehen eine Tasse stehen. Bei mir kommt das nur überdurchschnittlich oft vor, weil ich so ein vielbeschäftigter Beamte bin. Diese Argumentation würde ihn vielleicht sogar mehr oder weniger zufrieden stellen, aber darum geht es mir gerade gar nicht. Mir ist nämlich seit geraumer Zeit langweilig.

„Wenn du ehrlich bist", ich mache eine lange – etwas zu lange – Kunstpause, damit mein Gegenüber schön ungeduldig wird, „passt der Spruch ohnehin viel besser zu mir, selbst wenn ich die Tasse genommen haben sollte, was du nicht beweisen kannst."

Die dunklen Brauen des Mannes ziehen sich wie zwei Gewitterwolken zusammen.

„Und zweitens, wo steckt deine kleine Freundin eigentlich?"

Die Gewitterwolken ziehen sich überrascht wieder auseinander und rutschen Richtung Haaransatz. Damit habe ich ihn kalt erwischt, diese Tasse sollte fürs erste gegessen sein.

„Meinst du die Kadettin? Novalee?", fragt er und ich nicke bestätigend. „Die hat heute frei, glaube ich. Der Chief meinte, dass sie nach gestern besser zu Hause bleibt."

Tss", mache ich leise, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Das ist ja wieder mal typisch, dass das kleine Sondertalent bei langweiligem Bürokram zu Hause bleiben darf, ich meinen versprochenen freien Tag aber für einen verschissenen Bericht weiter aufschieben muss. In meinem Kopf schreibe ich mir eine Randnotiz, dem Chief ausgiebig meine Meinung zu geigen, wenn ich ihm heute über den Weg laufe.

„Lenk nicht vom Thema ab! Was ist mit der Tasse-"

„Officer Paddock!", unterbricht die tiefe Stimme unseres Chefs die Schimpftriade meines Kollegen und sofort sitze ich ein wenig steifer als vorher auf meinem Drehstuhl. Still und leise fällt die Notiz von meiner imaginären Pinnwand, als der Chief vom Eingangsbereich quer durch unser Büro läuft (dabei auch an meinem Schreibtisch vorbei) und an der Tür zum restlichen Teil des Gebäudes innehält. „Mitkommen."

Mit einem auffordernden Nicken verleiht er seinen Worten Nachdruck, sodass ich innerhalb weniger Sekunden hinter ihm stehe. Die Zeit Bakira noch ganz frech meine Zunge herauszustrecken, finde ich allerdings trotzdem, während wir den Bürotrakt verlassen.

„Sie sollten aufhören, seine Tassen zu verstecken. Sie regen ihn unnötig auf", sagt der Chief auf einmal, ohne sich zu mir umzudrehen. „Und glauben Sie nicht, dass ich die Spielkarten nicht bemerkt habe."

„Ich-", will ich zu einer Verteidigung ansetzen, aber ich bin ehrlicherweise ein wenig sprachlos. Klar, kennt der Chief mich und meine Macken einigermaßen, aber dass einer nach einem flüchtigen Blick bereits die gesamte Konflikt-Situation und mein Kartenhaus-Vorhaben durchschaut hat, kommt irgendwie unerwartet.

„Ich habe nicht vorgehabt, ihn aufzuregen – diesmal zumindest nicht", murmele ich schließlich einige Worte der Rechtfertigung, als wir gemeinsam den Besprechungsraum betreten. „Ich habe, zu meiner Verteidigung, heute wirklich einfach vergessen sie vorher wieder zurückzustellen!"

„Geht es schon wieder um die Tassen?", fragt eine weibliche Stimme und ich erkenne Kate, die grinsend bereits mit einigen weiteren Mitgliedern ihres Ermittlungsteams an der langen Tafel sitzt. Ich kenne sie noch aus Ausbildungszeiten, in denen wir uns zwar ständig gestritten, aber auch immer den Arsch gerettet haben, wenn's mal wirklich brenzlig wurde. Sie nickt mir freundlich zu und erhebt sich dann aus ihrem Sitz. „Jetzt wo alle da sind, können wir auch anfangen."

*

Als die Überwachungskameraaufnahme endlich abbricht, kann ich meinen Würgereiz kaum noch zurückhalten. Es kommt nicht unbedingt selten vor, dass normale Officer für Einzelfälle in Ermittlungsteams berufen werden, um kleinere Aufgaben zu übernehmen, für die die Inspector-Ausbildung eigentlich zu schade ist. Quasi wie ein Fußabtreter, um die Arbeit der Ermittler zu erleichtern und klar ist das irgendwo nervig, aber es gehört halt zum Job (und es ist ja auch nicht so, dass ich nicht Inspector hätte werden können, wenn ich gewollt hätte). Normalerweise übernimmt man da dann allerdings Nebenrollen. Protokollant bei Befragungen spielen oder den Tatort mit absichern, um dafür zu sorgen, dass keine Unbefugten Beweise zerstören konnten. Aber dass, was ich auf dem Tape gesehen habe, ist genau das, weshalb ich mich gegen den Ermittler entschieden habe.

„Alles klar, Ian? Du wirkst ein bisschen blass." Mit einem Ruck löste ich meinen starren Blick von der schwarzen Oberfläche am Ende des Raumes und wende mich Kate zu, die aus ihren Meeraugen besorgt auf mich hinabblickt. Sie ist anscheinend die Leiterin dieses Falls. Kranke Scheiße.

„Äh, klar", bringe ich über die Lippen und versuche sie zu einem amüsierten Grinsen zu verziehen. „Ich hoffe doch, ich bin kein Verdächtiger und komme jetzt ins Kreuzverhör."

Einigen Kollegen kann ich damit sogar belustigte Geräusche entlocken, auch, wenn ich am liebsten aus dem Raum rennen würde. Zu sehen, wie irgendwelche Inneren an eine Wand klatschen und vom Rest der Leiche kaum mehr als verkohlte Skelettüberreste übrig bleiben, war nicht gerade das, was ich mir unter einem entspannten Bürotag vorgestellt habe. Jetzt sehne ich mich gerade zu zurück in die Langeweile des Berichtverfassens.

„Nicht ganz. Wie du bereits gesehen hast, ist bei diesem Mord entweder eine Explosions- oder Feuer-Ability zum Einsatz gekommen. Auf jeden Fall eine Art der Feuer-Magie, schätzungsweise 2. Grades. Da wir noch keine Ermittlungen anstellen konnten, können wir es nicht mit Sicherheit sagen, aber eine Ability 3. Grades ist auch möglich." Kate sieht mich ernst an. Hoffentlich merkt sie nicht, dass ich mir fast die Hosen vollscheiße.

Der dritte Grad ist unglaublich gefährlich. Superstark und meistens unkontrollierbar für den Benutzer. Das Problem bei solchen Abilitys ist, dass sie meistens nur unkontrollierbarer werden, je mehr man sie unterdrückt. Sie einfach freizusetzen endet aber zumeist in der Zerstörung ganzer Stadtteile, weshalb es für solche Menschen bestimmte Einrichtungen gibt, in denen sie keine Gefahr für sich und ihre Umwelt darstellen können. Wenn davon einer frei rumläuft und systematisch Leute umnieten würde, könnte ich mir auch gleich mein eigenes Grab schaufeln.

„Und was soll ich dabei übernehmen? Ich bin ja nur ein kleiner Streifenpolizist", lache ich (sehr falsch) und spiele damit auf den Spitznamen an, mit dem Kate mich früher häufig aufgezogen hat, nachdem ich kein Inspector wie sie werden wollte. Ein sanftes Lächeln huscht über ihre Gesichtszüge, bevor sie wieder die Team-Leader Position annimmt.

„Du wirst unsere lebende Absicherung, dass kein weiteres Unheil mehr geschieht, so bald wir ihn im Sack haben." Jetzt grinst sie mich doch blöd an. Ich bin ihre lebendige Rattenfalle ist wohl der bessere Begriff für meine Aufgabe. Sie muss merken, dass mir diese Situation überhaupt nicht gefällt, denn sie wird wieder ernster.

„Hör zu, dass können wir nur so planen, weil wir" – mit einem Nicken deutete sie in Richtung des Chiefs – „vollstes Vertrauen in dich und deine Fähigkeiten als Officer haben. Deine Anti-Ability ermöglicht es uns überhaupt die Festnahme eines 3. Rangs zu gewährleisten – und wenn so einer hier rumläuft sitzen wir ohne dich in der Patsche. Wir glauben, dass du der Einzige bist, der diese Aufgabe annehmen und die entsprechenden Dinge auch leisten kannst." Kate klingt vollkommen ehrlich und macht mir meinen inneren Kampf nur noch schwerer.

Es kann gut sein, dass ich tatsächlich der Einzige wäre, der so ein Biest zähmen könnte, aber mein Anti wirkt nicht auf alles gleich effektiv. Besonders bei Feuer-Abilitys habe ich eher die Erfahrung gemacht, dass ich gegen bereits entstandene Flammen nichts mehr ausrichten konnte.

Als sich von hinten die schwere, warme Hand des Chiefs auf meine Schulter legt, weiß ich, dass es kein zurück mehr gibt.

„Ihre Sicherheit steht zu jedem Zeitpunkt des Geschehens immer an erster Stelle, seien Sie sich da sicher. Wir können es uns nicht leisten, einen wie Sie zu verlieren."

„Klar, bin dabei", krächze ich leise. Oh mann.

*

Als ich am Abend des selbigen Tages zu Hause auf meinem super-hightech-geschützen PC die geblurrte Version der Kameraaufzeichnungen immer wieder durchgehe, fallen mir die seltsamen Handbewegungen des Mannes auf, der kein richtiges Happy End hatte. Er ist noch ziemlich jung gewesen, hatte längere zerzauste Haare, die fast schon den Anschein des Vogelnestes abgeben hätten können und vor allem war er unruhig.

Auf der Aufnahme befindet er sich in der Nacht mitten in einer zwar nicht reichlich besuchten, aber auch ganz und gar nicht verlassenen Straße. Drum herum stehen einige Geschäfte mit verschiedenfarbigen Neonschildern, die alle um die Aufmerksamkeit der Kunden buhlen, denn auch wenn viele Läden real schon geschlossen haben, gibt es online fast immer eine virtuelle Bedienung, die einen trotzdem beraten oder zumindest beschäftigen kann. Und mitten zwischen diesen bunten Lichtern ging dieser dürre Mann immer wieder hin und her, für etwa eine halbe Stunde. Vielleicht wartete er nur auf irgendeinen Kumpel oder wollte irgendein zwielichtiges Geschäft abwickeln, das ihm dann das Leben gekostet hat, aber am seltsamsten kommen bei mir jedem Mal Schauen immer seine Hände vor.

Die zweite Sache, die mir aufgefallen ist, ist eine junge Frau, die sich, nachdem sich der Rauch lichtet und die entstellte Leiche des Mannes freigibt, auffällig unauffällig vom Tatort wegbewegt. Vorher ist sie nicht auf den Aufnahmen zu sehen, kein einziges Mal, aber danach hält sie ihr Gesicht sogar ziemlich gut in die Kamera. Ob mit Absicht oder nicht ist dann nochmal eine ganz andere Frage.

Das Problem ist allerdings, dass sie keine schwarzen Hände hat, zumindest soweit man das im Schein der bunten Neonreklamen erkennen kann. Anwender einer Feuer-Ability haben, wenn sie das Feuer aus unmittelbarer Entfernung wirken (was hier eindeutig passiert gewesen sein muss), immer rußige Hände, das ist ein allgemein anerkannter Fakt. Aber was mir viel saurer Aufstößt ist, dass ich sie unheimlich attraktiv finde. Sie hat unglaublich weiche Gesichtszüge, die sie vermutlich viel jünger erscheinen lassen, als sie ist. Dunkle Haare und Augen, die einen wunderbaren Kontrast zu ihrer hellen Haut bilden. Und so eine elegante Art zu gehen, die mir bei einem potentiellen Mörder eigentlich scheiß egal sein sollte. Verdammte scheiße.

Ich dirigiere meinen Cursor entschlossen zum Schließen der Datei, bleibe für einen kurzen Augenblick allerdings über dem rot gefärbten X schweben – einen kurzen Augenblick zu lang, denn es ist das Standbild der Unbekannten, das mich gemeinsam mit halbfertigen Kartenhäusern, verkohlten Skeletten und schmutzigen Kaffeetassen in meine Träume begleitet.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top