Kapitel 9 - Leben versaut

Tamo starrte in große, bernsteinfarbene Pupillen. Die weichen Nüstern, die ihm sanft warme Luft entgegenbrachten, waren nur Zentimeter von ihm entfernt. Er schloss für einen Moment die Augen und rieb sie sich, doch als er sie wieder öffnete, hatte er immer noch denselben Anblick vor der Nase. Ein rabenschwarzes Pferd sah zu ihm herab und schien ihn zu mustern.

Ein leises, drohendes Knurren erweckte seine Aufmerksamkeit und so ließ er von dem Pferd ab, um seinen Blick in dessen Richtung schweifen zu lassen. Er sah die weißen, scharfen Zähne und die orangefarbenen Augen eines schwarzen Hundes, der direkt neben ihm stand. Aus dieser Position wirkte er überdimensional groß. Die Masse an Muskeln zeichnete sich deutlich durch sein Fell am und der schäumende Speichel tropfte unmittelbar neben Tamos Ohr zu Boden.

In Zeitlupe drehte Tamo den Kopf mit angehaltenen Atem zurück. Er zuckte zusammen, als das Pferd plötzlich einen Schritt nach vorn trat. Sofort ließ er seine Arme wieder schützend über seinen Schädel gleiten, doch nichts passierte.

Das Tier hatte sich wie eine Barriere über ihn gestellt. Der Hund hatte sich auf einen Punkt vor sich fixiert und schien Tamos Flanke zu schützen. Er hob langsam wieder den Blick, doch diesmal in Richtung seiner Verfolger. Die Wölfe standen wenige Meter von ihnen entfernt, gaben aber keinen Ton mehr von sich. Sein Blick suchte nach der Gestalt mit den blauen Augen, doch sie war verschwunden.

Als plötzlich, eine ihm wohlbekannte Stimme ertönte, zuckte er zusammen und konnte seinen Ohren nicht trauen.

Wie zum Teufel und vor allem warum?

»Es reicht. Er gehört zu uns«, zerriss ihre Stimme, die Stille des Waldes.

Ihr Ton war kalt und scharf. Und so wie die Worte über ihre Lippen gekommen waren, zogen sich die Wölfe langsam knurrend zurück, bis sie völlig in der Dunkelheit verschwunden waren.

Der Hund, der eben noch im Angriffsmodus gewesen war, schüttelte und wandte sich gelangweilt ab. Tamo rutschte unter dem Pferd hervor und sah, immer noch auf dem Boden liegend, zu Skàdi, welche auf dem Rücken des schwarzen Tieres saß.

Ihr Blick war fest auf die Dunkelheit vor ihnen gerichtet.

»Steh auf«, fauchte sie.

Tamo sah sich um und war sich nicht wirklich sicher, an wem diese Anweisung gehen sollte. Sie stöhnte auf und ließ den Blick zu ihm wandern.

»Ja, ich meine dich, Idiot. Steh auf, bevor du dir noch eine Rotznase einfängst. Kein Bock auf Männergrippe in meiner Bude«, knurrte.

Er sah sie ungläubig an.

Das war ihr fucking Problem? Was war los mit ihr?
Er wäre hier fast von Wölfen gefressen worden und einen, was auch immer das für eine Gestalt war, und die hatte Angst vor einer Rotznase?

Tamo schnaufte wütend, denn auch wenn er ihr eigentlich dankbar sein sollte, nervte ihn, ihr Verhalten. Trotzdem schob er sich vollständig unter dem Pferd vor und rappelte sich von dem kalten Waldboden auf.

Seine Klamotten waren nass, schlammig und erst jetzt wie durchgefroren er war. Ein Gänsehautschauer legte sich über seine Haut und ließ ihn frösteln.

Skàdi sah immer noch zu ihm herab und schüttelte den Kopf.

»Steig auf das Pferd«, wies sie ihn an.

Tamo sah sie fragend an, doch schon wendete sie ihr Pferd und dahinter kam ein weiteres schneeweißes zum Vorschein. Dieses lief bereits auf ihn zu. Er musterte es und hielt ihm vorsichtig die Hand entgegen. Die weichen Nüstern stupsten leicht an seine Finger, was Tamo aber direkt zurückzucken ließ.

»Sag mir nicht, du hast Angst?«, fragte Skàdi ihn mit erhoben Brauen.

Tamo sah sie giftig an.

»Nein. Respekt«, knurrte er ihr entgegen.

Skàdi warf ihn einen letzten genervten Blick zu und drückte ihrem Pferd leicht die Schenkel an den Bauch, woraufhin es sich sofort in Bewegung setzte. Auch der Hund ließ umgehend von dem Baum ab, an den er gerade pinkelte und folgte ihnen.

Na ja und Tamo, der stand vor dem weißen Pferd, was Skàdi zwar nachsah, aber geduldig darauf zu warten schien, dass er sich endlich bewegte.

Da war halt nur das Problem, dass er nicht den Funken einer Ahnung hatte, wie er auf den Rücken dieses Tieres gelangen sollte. Es trug keinen Sattel und Zaumzeug hatte sie wohl auch vergessen anzulegen. Er sah Skàdi nach, die schon einige Meter entfernt war. Er schloss die Augen, atmete genervt ein und sprang über seinen eigenen Schatten.

»Und wie bitte soll ich da hochkommen?«, fragte er.

Skàdi stoppte ihr Pferd und sah zu ihm zurück.

»Mit Schwung am besten.«

Tamo biss die Zähne zusammen.

»Witzig«, brummte er leise vor sich hin, bevor er nach der Mähne des Tieres griff.

Doch es überragte ihn um Längen und allein der erste Versuch, sich irgendwie auf dessen Rücken zu schwingen, endete mit einen harten Aufschlag auf dem Boden.

Skàdi kniff sich in den Nasenrücken.

»Unfassbar. Aska, hilf ihm«, sagte sie.

Und sofort beugte das Pferd sich in die Tiefe.

Tamo starrte ungläubig zwischen dem Tier und Skàdi hin und her.

»Sie verstehen dich?«, fragte er überrascht.

Skàdi rollte genervt die Augen.

»Nein, sie hat deine Dummheit gespürt. Setzt dich jetzt auf dieses verfluchte Pferd oder bleib hier. Ich bin sicher, die Wölfe warten schon auf dich.«

Er sah sie giftig an, ließ aber seine Hände erneut zu der Mähne des Tieres gleiten und schob sich langsam auf dessen Rücken. Sie wartete geduldig, bis Tamo Halt gefunden hatte, bevor stand sie schwungvoll aufstand, was Tamo direkt zum Schwanken und Rutschen brachte. In letzter Sekunde krallte er sich fest in ihre Mähne und konnte so, einen Sturz vermeiden.

Skàdi, die das alles beobachtet hatte, schüttelte ungläubig den Kopf und nachdem er es endlich geschafft hatte, neben ihr anzukommen, setzte sie auch ihr Pferd wieder in Bewegung.

Schweigend ritten sie nebeneinander durch den Wald. Tamo hatte keine Ahnung, wie Skàdi es schaffte sich zurechtzufinden. Es war stockdunkel und jeder verdammte Zentimeter sah gleich dem vergangen aus. Doch die Ruhe ließ auch Tamos Adrenalinspiegel sinken und so langsam wurden seine Gedanken lauter.

Was war da eben passiert?

Sein Blick wanderte zu Skàdi. Sie hatte sich ihre langen Haare zu einem wüsten Dutt auf dem Kopf gebunden, ansonsten sah sie aus, wie vor wenigen Stunden. Ihre Schenkel lagen locker um den Bauch des Pferdes und sie wippte scheinbar völlig entspannt mit dessen Bewegungen.

Sie hatte ihm das Leben gerettet.

Aber warum? Sicher nicht aus Freundlichkeit und schon gar nicht aus Zufall.

Ihre letzten Worte schossen ihm in den Kopf. Viel Erfolg! Hatte sie damit gerechnet, dass es einen Angriff auf ihn gab? Er brauchte Antworten. Irgendwelche.

Doch irgendwas sagte ihm, dass er diese nichts ohne Weiteres erhalten würde. Vielleicht würde ja ein wenig Wertschätzung helfen.

»Danke, fürs Arsch retten«, murmelte er leise.

Skàdi nickte nur und starrte weiter vor sich hin. Tamo biss sich genervt auf die Unterlippe, denn war es zu viel verlangt, dass sie ihm mehr gab als ein beschissenes Nicken? Okay, es war wohl egal, welchen Ton er anschlug und das Kind lag scheinbar eh schon ihm Brunnen, also wozu weitere Bemühungen.

»Okay, ich habe keine Ahnung, was hier los ist. Warum ich hier gelandet bin und vor allem, was da gerade passiert ist. Es ist, als wäre ich in einem beschissenen Film oder von mir aus auch Albtraum gelandet. Was ja schon schlimm genug ist, aber, du und deine eigenartige Freundin, ihr scheint ein Problem mit mir zu haben. Tja und ehrlich gesagt, weiß ich nicht warum. Es ist ja nicht so, als wäre ich freiwillig hier. Also wenn ihr pissig auf jemanden sein wollt, dann auf diesen Silas, oder wie er hieß. Er hat mich zu euch geschleppt!«,raunte er ihr entgegen.

Voller Erwartung sah er sie an.

Das konnte sie nicht ignorieren!

Doch abgesehen davon, dass sie ihr Pferd in der Richtung korrigierte, passierte nichts.

Scheinbar konnte sie es doch ignorieren, was in Tamo Wut aufflammen ließ.

»Eh, sag mal, du willst mich doch verarschen? Warum zur Hölle redest du nicht mit mir?«, fuhr er sie mit scharfen Ton an.

Skàdi straffte ihre Schultern und atmete hörbar ein, bevor sie sich leicht drehte und ihm ausdruckslos ansah.

»Weil deine Anwesenheit, mir gerade mein ganzes Leben versaut!«

Eine eisige Kälte schwang mit ihren Worten über zu Tamo, der sie ungläubig anstarrte. Erneut war ihr Blick völlig leer und ihr Gesicht wirkte emotionslos. Doch ehe Tamo sich weiter darüber Gedanken machen konnte, hatte sie sich wieder nach vorn gedreht.

Tamo verstand nur Bahnhof, aber das würde er so nicht auf sich sitzen lassen.

»Ich versaue dir dein Leben? Wie das denn? Ich bin doch hier derjenige, dessen Leben gerade in Schutt und Asche liegt. Meine Eltern sind tot. Ich wurde entführt. Ihr gebt mir keine Antworten und bei dem Versuch zu entkommen, um herauszufinden, was hier los ist, bin ich fast von Wölfen gefressen worden. Abgesehen, von dem Etwas mit blauen Augen, was mich verfolgt hat.«

Er sah, wie Skàdi aufgrund dieser Aussage, kurz zusammenzuckte.

Er hatte sich das Ganze also nicht eingebildet, oder?

Diese winzige Reaktion trieb ihn weiter an.

»Also sag mir, wenn ich dein Leben versaue, warum hat dieser Silas mich dann zu dir gebracht und davon gefaselt, dass du meine einzige Möglichkeit bist zu überleben? Oder warum hast du mir gerade das Leben gerettet? Du hättest mich den Wölfen überlassen können und schwups, du wärst mich los gewesen. Aber nein, du tauchst, wie aus dem Nichts auf, und rettest mich.«

Er redete sich in Rasche und ließ alles raus, was ihm durch den Kopf schoss.

»Und warum zur Hölle, reicht ein Wort von dir aus und alles und jeder versinkt in Angst? Warum verstehen dich die Tiere und wieso fühle ich mich in deiner Gegenwart immer, als wäre ich gerade im Shirt in der Arktis gelandet? Verflucht! Was oder wer bist du?«

Tamo atmete schwer, denn er hatte alles an Energie in die letzten Sätze gesteckt und ja, es war ihm völlig egal, dass er dabei hilflos klang.

Denn genau das war er. Hilflos und verzweifelt.

Er konnte nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden und sein Leben war gerade völlig vor die Hunde gegangen.

Sein Blick ruhte auf Skàdis Hinterkopf und er sah, wie sie tief einatmete. Er wollte bereits die nächsten Fragen stellen, als sie sich plötzlich zu ihm wandte.

»Du lebst noch, weil ich dich nicht sterben lassen kann. Silas hat dich zu mir gebracht, weil nur ich dich noch vor deinem sicheren Tod retten kann und ich gebe dir keine Antworten, weil du sie weder verstehen noch glauben würdest!«

Tamo musterte sie. Sie zeigte keinerlei Gefühle oder jegliche Art von menschlicher Regung und wieder kroch diese Kälte auf ihn über.

Doch wenn sie endlich anfing mit ihm zu sprechen, musste er diese Chance nutzen, auch wens sein Geist wiederholt nach Flucht schrie.

»Was bist du? Und was war das für eine Gestalt mit blauen Augen?«, fragte er erneut.

Sie neigte den Kopf und ein unheimliches Lächeln legte sich in ihr Gesicht. Tamo stellten sich sofort die Nackenhaare auf und sein Körper spannte sich an, was das Pferd unter ihm schnaufen ließ.

»Meine Mutter war eine Hexe, welche sich von einem Vampir hat beißen lassen und weil ihr das noch nicht gereicht hat, hat sie sich von einem Werwolf schwängern lassen. Tja, und tata ... ich bin das Ergebnis«, flüsterte sie ihm zu.

Sie zog die Brauen nach oben und Tamo, der sah sie fassungslos an, bis er ihre Worte endlich realisiert hatte. Seine Anspannung verschwand und sofort breitete sich wieder Wut in ihm aus.

»Echt jetzt? Du verarschst mich? Fick dich doch«, zischte er ihr zu und wandte den Blick von ihr ab.

Was hatte er sich eigentlich erhofft? Antworten? Unfassbar.

Skàdis Blick ruhte immer noch auf ihm. Konnte sie ihn verstehen? JA! Sie wusste genau, was er gerade durchlebte. Sie vermochte es wahrscheinlich besser nachvollziehen, als jeder andere auf diesen Planeten. Sie stöhnte auf und stoppte ihr Pferd, was wiederum auch seins zum Stehenbleiben brachte.

Tamo sah sie genervt an.

»Lass es. Danke, aber es waren genug dumme Sprüche für heute«, brummte er.

Doch das war Skàdi herzlich egal.

»Glaub mir, dass es einfacher wäre daran zu glauben, dass Vampire, Hexen und Werwölfe eine Rolle spielen. Ich werde dir weder erklären, was ich bin, noch warum ich so bin. Ich werde nicht nett zu dir sein oder so was wie eine Freundschaft mit dir aufbauen. Du bist mir egal. Was mir nicht egal ist, ist dein beschissenes Leben. Dein Herzschlag. Verstehst du? Nein, sicher nicht, aber auch das ist mir egal. Also, es wird wie folgt ablaufen. Du bleibst bei Alice und mir, so lange, bis ich etwas anderes sage. Hör auf, nach Antworten zu verlangen, denn du würdest sie eh nicht verstehen. Solltest du wieder so einen völlig sinnbefreiten Fluchtversuch unternehmen, sperr ich dich in eine Zelle, denn ich werde deinen Arsch nicht noch mal aus diesem Wald zerren. Und zu der Gestalt mit den blauen Augen. Ich weiß nicht, was du gesehen haben willst, aber du solltest vielleicht mal etwas essen, trinken und eine Runde schlafen. Dann würde dein Gehirn dir vielleicht weniger Halluzinationen schenken. Die Wölfe hatten Angst vor Narcos.«

Sie zeigt auf den schwarzen Hund.

»Und Respekt vor Aska und Hel«, erklärte sie und richtete den Finger dabei auf die Pferde.

»Und vielleicht lag es auch daran, dass ich nicht so nach Angst stinke, wie du. Nachweislich riechen Wölfe diese. Und meine Tiere sind einfach nur trainiert. Also ja, sie verstehen mich, weil ich es ihnen beigebracht habe, und jetzt tu uns beiden den Gefallen und halt die Klappe. Bevor ich mir das Ganze anders überlege, dich von dem Pferd werfe und den Wölfen ihr Abendmahl zurückgebe.«

Damit wandte sie sich erneut von ihm an, drückte Hel die Schenkel in die Seiten und die Tiere setzten den Weg durch die Dunkelheit fort. Skàdi schweig, ebenso wie Tamo.

Er hatte keinen blassen Schimmer, was er darauf hätte erwidern sollen. Er konnte nicht mal mehr unterscheiden, ob sie ihn gerade angelogen hatte oder ob es die Wahrheit gewesen war. Sollte er sich das alles hier nur eingebildet haben?

Die Gestalt, die Augen, das Lachen? Sie hatte auf jeden Fall damit recht, dass sein Körper und sein Geist völlig am Ende waren. Und so beschloss er, abzuwarten und vorerst wieder zu Kräften zu kommen.

Denn sind wir mal ehrlich, was hatte er auch für eine Wahl?

Es dauerte noch einiges an Zeit, bis sie endlich wieder an dem Haus angekommen waren.

»Steig ab und geh rein«, befahl Skàdi ihm.

Er nickte nur, rutschte von Aska und streichelte ihr sanft über den Hals.

»Danke, Kleine«, murmelte er leise dabei.

Skàdi beobachtete ihn und dass, was sie sah, gefiel ihr gar nicht.

Aska stupste ihn leicht an und er lächelte dem Pferd entgegen, bevor er sich abwandte und zum Haus lief.

Skàdi sah ihm nach und seufzte.

»Leben versauen, das war wohl die Untertreibung des Jahrhunderts. Kommt ihr zwei«, raunte sie vor sich hin.

Beide Pferde schüttelten ihre Köpfe, bevor sie langsam losliefen.

Ein sanftes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.

»Ja, dass ihr das lustig findet, war mir schon klar.«

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