Kapitel 8 - Lauf kleiner Tamo, lauf!

Tamo stiefelte durch den Wald und seine Gedanken verloren sich immer mehr in seiner Wut. Dieser dämliche, grünhaarige Kobold. Lange war ihm niemand mit so wenig Respekt entgegengetreten. Wer war sie und was bildete sie sich überhaupt ein? Ihn einfach einfältig von der Seite anzusprechen und dann stehenzulassen. Und Antworten hatte er auch immer noch keine bekommen. Stattdessen latschte er hier durch einen beschissenen Wald. Sein Magen knurrte, seine Kehle war aufgetrocknet und seine Waden und Oberschenkel brannten jetzt schon wie die Hölle.

Und doch war die Wut auf sich selbst das Schlimmste.

Kaum hatte er es in den schützenden Schatten des Waldes geschafft, hatte er sein Tempo gedrosselt und einen letzten Blick über die Schulter gewagt. Das Haus der Verrückten war nur noch schemenhaft zu erkennen und es gab keinerlei Anzeichen, dass ihm jemand folgte.

Warum auch? Es hatte nicht den Eindruck gemacht, dass seine Anwesenheit erwünscht wäre. Er fragte sich, warum Silas Stunden durch die Gegend gefahren war, um ihn dann bei diesen Weibern zu lassen. Warum er nicht einfach mit ihm zur nächsten Polizeistation gefahren? Und warum zur Hölle, hatte ihm diese Skàdi so eine Angst gemacht? Er bekam kein klares Wort zusammen. Die Angst schien ihn zu lähmen, ohne dass es dafür einen erkennbaren Grund gab und dann. Nichts. Sobald sie ihm den Rücken zugewandt hatte, war alles verschwunden. Die Kälte. Die Angst. Die Sprachlosigkeit.

Er rieb sich übers Gesicht. Er drehte noch durch. Nein. Vielleicht war er es ja schon. Denn es ergab alles keinen Sinn mehr und die aufsteigenden Kopfschmerzen machten es alles nicht besser. Am liebsten würde er einfach laut losschreien, diesen angestauten Frust loswerden, doch würde es ihm bringen?

Richtig. Nichts! Dann würde er immer noch in diesem beschissenen Wald festhängen.

Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und langsam breitete sich Unmut in ihm aus. Er musste endlich diese verdammte Landstraße finden, hoffen, dass ein Auto kam und ihn mitnahm. Schien machbar, oder? Na ja, die Chancen standen ja, dank der frisch gewaschenen Klamotten, um einiges besser als noch vor wenigen Stunden. So blutverschmiert.

Wieder schossen die Bilder seiner toten Eltern in seinen Kopf und stachen ihm mitten ins Herz. Er stoppte, als sich alles um ihn erneut anfing zu drehen. Hilfesuchend wanderte sein Blick umher, doch nichts außer ein umgestürzter Baum blieb ihn, um sich abzustützend. Zitternd ließ er sich auf ihn fallen und vergrub sein Gesicht in seinen Händen. Das heiße Brennen der aufsteigenden Tränen zog ihn tiefer in seine aufkeimende Verzweiflung.

In seinen Gedanken verloren, erhob er sich von dem Baumstamm und setzte seinen Weg fort. Egal, wie beschissen er sich gerade fühlte, die Blöße zurück zu den Weibern zukriechen, würde er sich nicht geben. Seine Beine wurden mit jedem Schritt schwerer und dennoch schleppte er sich Schritt für Schritt voran, ohne dabei zu bemerken, wie tief er schon in den Wald vorgedrungen war. Langsam verschwanden die letzten Sonnenstrahlen unter den dichter werdenden Baumkronen. Das Unterholz verwandelte sich allmählich in ein dorniges Gestrüpp und überwucherte bald den schmalen Trampelpfad, welchen Tamo gefolgt war.

Plötzlich verlor Tamo das Gleichgewicht und stürzte zu Boden. Er schaffte es gerade noch, den Sturz mit seinen Händen abzufangen.

»Bullshit«, entfuhr es ihm, doch seine Stimme wurde von der umliegenden Dunkelheit verschlungen.

Auf dem weichen, feuchten Waldboden kniend, saugte sich dessen Feuchtigkeit sofort in seine Jeans. Seine Hände versanken leicht in den schlammigen Boden und als Tamo sich aufrichtete und zurücksah, knurrte er.

»Fucking Wurzel. Fucking Wald ... AAAHHHHHH!«

Seine Nerven hatten eindeutig seine Belastungsgrenze erreicht, ebenso wie sein Körper.

Doch warum? Warum fiel ihm alles so schwer?

Er stöhnte, drehte und ließ sich auf seinen Arsch nieder. Seine Beine bebten mittlerweile unter der Anstrengung und das dumpfe Dröhnen in seinem Schädel, nahm ihn die letzte Kraft. Er schmierte sich seine dreckigen Hände an der Hose ab und hob den Blick. Vorsichtig sah er sich um und erst jetzt erfasste er die Dunkelheit um sich. Sofort schoss sein Kopf nach oben, doch nichts außer eine dunkle, breite Masse von Baumkronen zeigte sich.

»Fuck«, murmelte er.

Unruhe breitete sich in ihm aus und er quälte sich wieder auf seine Beine in der Hoffnung, so mehr erkennen zu können. Langsam drehte er sich um seine eigene Achse, doch alles lag in tiefer Dunkelheit. Er erkannte gerade noch, die Umrisse der Bäume und er hatte das Gefühl, dass es mit jeder Sekunde, die er hier stand, dunkler wurde.

Doch plötzlich erweckte etwas seine Aufmerksamkeit. Dicht über den Boden kroch etwas auf ihn zu. Blinzelnd versuchte er zu erkennen, was es war. Aber je mehr er sich anstrengte, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass es kein Trugbild war.

Nebel. Nein, das konnte nicht sein. Bläulich schimmernd wandt er sich über den Boden. Geformt zu schlangenförmigen Gebilden kam er näher. Hin und her schlängelnd, erhob er sich wenige Zentimeter nach oben.

Tamo wich automatisch zurück, wodurch er auf einen, am Boden liegenden Ast trat. Das knackende Geräusch zerriss die gespenstische Stille und ließ ihn herumwirbeln. Das Gefühl beobachtet zu werden stieg ihm in den Nacken, doch nichts außer tiefe Dunkelheit starrte ihn an.

Sein Atem beschleunigte sich und trieb ihn damit die Panik in die Knochen.

Ein leises Zischen hinter ihm zerriss die Stille. Schlagartig verkrampfte sich sein Körper, doch sein Geist zwang ihn, sich erneut zu drehen. Die bläuliche Masse war näher gekommen. Zu nah. Langsam trat er einen weiteren Schritt zurück, aber im selben Moment spaltete sich diese auf und umzingelte ihn. Sein Knoten bildete sich in seinen Magen und sein Geist signalisierte ihm, dass es nur noch einen Weg gab. Flucht!

Es ist nur Nebel, versuchte er sich selbst zu beruhigen und lief los.

Doch sofort legte sich die Masse um seinen Knöchel und zog sich fest darum. Sie ein Seil umklammerte es seinen Körper und stieg immer weiter nach oben. Achtsam, schlängelnd und dort, wo es Tamo berührte, durchzog es ihm mit einem bitteren Schmerz. Tausend Nadeln schienen sich durch seine Kleidung den Weg in seine Haut zu suchen. Als es seinen Brustkorb erreicht hatte, vernahm er, wie sich dieser zusammenzog. Langsam presste es ihm die Luft aus der Lunge und ließ ihn panisch um sich schlagen. Doch der Nebelseile spannten sich fest um seinen Körper. Gaben keinen Raum für Bewegungen und versuchten ihn zu Boden zubringen. Krampfhaft suchte er nach irgendetwas zum Festhalten, als in der Dunkelheit vor ihm etwas aufblitzte.

Gold, glühende Augen traten aus dem Schatten hervor. Erst zwei, dann vier, dann sechs und mit ihnen, grollte ein dunkles Knurren durch den Wald, welches Tamo tief in die Knochen drang. Schlagartig verzog sich der Nebel und mit ihm der Schmerz und zurückblieb die lähmende Angst.

Das Knurren gewann an Lautstärke und endlich erkannte Tamo, was sich vor ihm aufgereiht hatte.

Wölfe.

Mit gefletschten Zähnen und schäumenden Mäulern der Gier traten sie langsam auf ihn zu.

Tamos Blick sprang von einem Wolf zum anderen. Seine Gedanken rasten und er suchte verzweifelt nach einem Ausweg. Das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, kehrte zurück und sein Körper bebte unkontrolliert. Seine Knie wurden immer weicher und es kostete ihn alle Kraft, die er noch aufbringen konnte, um nicht zusammenzubrechen.

Das war's. Er hatte keine Chance auf Flucht und noch weniger auf ein Überleben,

Doch plötzlich stoppten die sie. Die Blicke weiter gierig auf ihn gerichtet, hielten sie in ihren Bewegungen inne. Das Knurren verstummte.

Erleichterung durch fuhr Tamo, gefolgt von einen kleinen Funken der Hoffnung, welcher direkt wieder im Keim erstickte, als er sah, wie die Wölfe auseinandertraten und eine weitere Gestalt sich aus der Dunkelheit formte.

Menschgroß trat sie aus dem Schatten und als sie an den Wölfen vorbeilief, streichelte sie denen fast schon liebevoll über die Köpfe. Gehüllt in einen schwarzen Umhang, gab sie keinerlei Möglichkeit zu erkennen, was da auf ihn zukam. Das Gesicht tief unter einer Kapuze versteckt, schickte sie Tamo einen neuen Schauer durch den Köper.

Er stolperte wieder einige Schritte zurück, was die Gestalt den Blick heben ließ.

Keuchend schlug er sich die Hände vor den Mund. Der Wahnsinn hatte ihn eindeutig befallen. Denn nichts anderes erklärte diesen Anblick.

Blaue, kalte Augen funkelten ihn an. So intensiv und leuchtend, dass sie unmöglich ein Mensch sein konnte. Die Gestalt bewegte sich langsam auf ihn zu, während sich die Wölfe hinter dieser sammelten und ihr folgten.

»Lauf«, raunte es ihm plötzlich entgegen und genau das tat er.

Tamos Überlebensinstinkt brach hervor und darüber nachzudenken, drehte er sich schlagartig und rannte los. Er hörte ein kaltes, dunkles Lachen, was einen neuen Adrenalinschub in ihm freisetzte. Nicht begreifend, was hier gerade passierte und wo er die nötige Energie hernahm, sprintete er durch das Unterholz. Äste schlugen ihm ins Gesicht und rissen ihn die Haut auf. Die Wärme des hervorquellenden Blutes trieb ihn an. Sein Puls raste, seine Lunge brannte und doch die näherkommenden Schritte seiner Verfolger ließen ihn die Schmerzen verdrängen. Der Waldboden wurde lichter. Das Gestrüpp zog sich zurück und doch hatte Tamo das Gefühl, auf der Stelle zu stehen.

»Lauf kleiner Tamo. Lauf!«, grollte es so laut hinter ihm, dass er reflexartig den Kopf über die Schulter drehte.

Die blauen Augen schwebten fast auf seiner Höhe, als seine Flucht schlagartig von etwas warmen, weichen unterbrochen wurde. Der harte Zusammenstoß nahm ihn die Luft und schleuderte ihn unmittelbar zu Boden. Automatisch krümmte sich sein Körper zusammen und er warf seine Arme schützend über den Kopf.

Er hatte verloren und spürte schon den Schmerz, welchen die Zähne der Wölfe erzeugen würden, während sie ihm das Fleisch von den Knochen fetzten. Doch das Einzige, was er zu spüren bekam, war ein sanfter, warmer Atem, der sich in seinen Nacken legte. Er zog tief die Luft ein und zwang sich, seine festzusammengekniffenen Augen, zu öffnen. Zögerlich ließ er den Arm von seinem Gesicht gleiten und erstarrte.

Unmöglich!

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