Kapitel 65 - Es tut mir leid
Tamo nahm einen weiteren tiefen Zug von seiner Zigarette und blies langsam den Rauch aus.
»Habt ihr Mal darüber nachgedacht, dass es mehr von euch gibt?«
»Nein. Samuel hat sie alle getötet. Du erinnerst dich?«
Tamo schüttelte mit dem Kopf.
»Nein, so meine ich das nicht. Wir gehen davon aus, dass diese Fähigkeiten in euch geschlummert haben. Samuel hat sie durch Schmerz nur an die Oberfläche gebracht. Bei Alice ging es recht schnell, bei dir hat es länger gedauert. Aber die Fähigkeiten an sich waren vorhanden.«
Skàdi nickte und so sprach er weiter.
»Also, ist die Wahrscheinlichkeit recht hoch, dass es irgendwo auf der Welt weitere Menschen gibt, in denen solche Fähigkeiten schlummern. Vielleicht gibt es ja sogar schon welche, bei denen sie ausgebrochen sind«, sagte er und malte Anführungszeichen in die Luft, bevor er weiter sprach.
»Und dann gab es ja noch Hope. Sie hatte diese Fähigkeiten scheinbar von Geburt an. Also ist es möglich, dass da draußen viel mehr von ihrer Art unterwegs sind.«
Skàdi nahm sich eine neue Zigarette und sah ihn an.
»Und was möchtest du jetzt damit sagen?«
Er seufzte.
»Wenn ich mal von mir ausgehe. Als ich eure Fähigkeiten das erste Mal gesehen habe, hat es mir wirklich Angst gemacht. Doch das war nichts zu dem, was ich gefühlt habe, als die Option im Raum stand, dass auch ich welche bekommen sollte. Das Einzige, was mich daran gehindert hat durchzudrehen, wart ihr. Ich hatte wenigstens die Gewissheit, Menschen um sich zu haben, die mir helfen können. Die mich verstehen und nicht denken ...«, er stoppte und wusste nicht, ob er weiter reden sollte.
Doch Skàdi übernahm es für ihn.
»Die denken, du seist verrückt. So wie Silas damals bei mir«, beendete sie den Satz und man konnte ihre Verbitterung darüber deutlich hören.
Tamo seufzte leise und nickte.
»Ich verstehe ja, dass ihr damit auf keinen Fall an die Öffentlichkeit gehen wollt, und mittlerweile bin ich derselben Meinung, aber was ist, wenn da draußen wirklich mehr von euch sind, die nicht wissen, was sie machen sollen?«, fragte Tamo.
Skàdi rieb sich durchs Gesicht.
»Ich weiß, was du meinst, aber was sollen wir dagegen tun? Eine Art Hogwarts gründen und dann schicken wir Eulen los, die Briefe verteilen, mit der Inschrift - herzlichen Glückwunsch. Sie sind nicht verrückt, nur anders? Treffen Sie uns an der Brücke in dem alten Pub- oder was?«
»Nein. Keine Eulen. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Aber Alice kann doch zum Beispiel spüren, wenn jemand Fähigkeiten hat, oder?«, fragte er und sah sie mit großen Augen an.
»Ja, sie sagt, wir haben eine andere Aura, die sie spüren kann.«
Tamo schmunzelte.
»Ja, vielleicht wäre das ja eine Möglichkeit.«
Doch Tamo hielt inne, denn er sah die Skepsis in Skàdis Gesicht und wieder winkte er ab.
»Ist auch egal. War nur sie ein wirrer Gedanke. Wollen wir weiter?«, fragte er und stand dabei auf.
Skàdi konnte die Enttäuschung in seinen Worten hören und sie würde lügen, wenn sie sagte, es wäre ihr egal, aber das alles hatte keine Bedeutung, solange Samuel noch lebte. Also nahm sie den Themenwechsel dankend an und lief Tamo gedankenverloren nach.
Sie liefen eine ganze Zeit schweigend durch den Park und als sie ihn endlich wieder verließen, standen sie plötzlich vor einer Art Festplatz, der gefüllt war mit Menschen.
»Sieht nach einem Stadtfest aus«, sagte Tamo feststellend.
»Was hat es dir verraten? Das Riesenrad oder der Geruch von Popcorn?«, fragte sie lachend.
Tamo sah sie an und schnaubte.
»Du bist manchmal echt ein Arschloch«, sagte er und musste dabei schmunzeln.
»Manchmal?«, fragte Skàdi mit einem breiten Grinsen im Gesicht und rannte los.
»Wer zuletzt an der Schießbude ist, muss zahlen«, rief sie noch und verschwand in den Massen.
Tamo sah ihr für einen Moment nach und lachte.
»Verrückte Alte«, raunte er und rannte los.
Tamo hatte ja mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Skàdi sich so über ein Stadtfest freuen würde. Natürlich hatte er sie nicht mehr schnell genug einholen können, aber das war auch völlig uninteressant. Denn von der Schießbude, wo im Übrigen er die bessere Trefferquote hatte, ging es ins Gruselhaus, weiter zum Autoscooter, vorbei an den unzähligen Karussells und endete an einer der vielen Imbissbuden.
Die Sonne war mittlerweile untergegangen und die beiden standen an einen der Stehtische. Skàdi hatte eine riesige Portion Pommes vor sich und Tamo einen Langos. Sie stopfte sich eine Pommes nach der anderen in den Mund und man konnte den Eindruck gewinnen, dass sie, seit Tagen nicht zu essen bekommen hatte. Tamo lachte auf, was ihn einen bösen Blick von Skàdi einbrachte.
»W..a..s?«, nuschelte die mit vollem Mund.
Tamo musste erneut lachen, aber nicht nur, weil sie versuchte ein klares Wort, zwischen all den Pommes zu formen, sondern weil sie das erste Mal wirklich glücklich aussah. Ihre Augen strahlten und die vielen bunten Lichter, die sich darin spiegelten, untermalten diese Zufriedenheit nur noch. Er musterte sie zu auffällig, denn wieder sah ihn Skàdi fragend an.
»Was ist los?«, fragte sie erneut.
Tamo schluckte und nahm den Blick von ihr.
»Nichts. Wirklich. Alles ist okay«, sagte er und biss in seinen Langos.
Sie glaubte ihm zwar kein Wort, zuckte aber mit den Schultern und stopfte sich die nächsten Pommes in den Mund. Als sie fertig waren mitessen, sah Tamo Skàdi an.
»Und jetzt? Riesenrad?«
Skàdi schüttelte sofort, wie eine Verrückte, mit dem Kopf.
»Nein. Auf gar keinen Fall«, sagte sie in einem Ton, der eigentlich keinen Widerspruch zuließ.
Tamo zog eine Braue nach oben und schmunzelte.
»Warum? Hast du etwa Angst?«, fragte er scherzhaft, doch Skàdi sah ihn giftig an.
»Und wenn schon«, gab sie garstig zurück.
Tamo stockte und musste lachen.
»Das war eigentlich ein Scherz, aber du hast wirklich Angst«, raunte er.
Sie zeigte ihm den Mittelfinger, was Tamo ignorierte.
»Du. Die, mit einem Wimpernschlag gefühlt eine der größten Naturkatastrophen auslösen kann, hat Angst vor einem Riesenrad?«, fragte er fassungslos.
»Und wenn schon«, gab sie trotzig zurück.
Tamo schüttelte den Kopf und sah zum Riesenrad.
»Feigling«, raunte er ihr entgegen.
»Fick dich. Das hat mein Vater damals auch zu mir gesagt und mich dann in dieses Ding geschliffen und sind wir stecken geblieben und ...«, sie stockte plötzlich und als Tamo sie ansah, blieb ihm kurz die Luft weg.
War das Trauer, was er da gerade in ihrem Blick sah? Doch ehe er reagieren konnte, drehte sie sich ab und rannte los.
»SKADI. WARTE!«, schrie er ihr nach, doch sie war schon um eine der Ecken gebogen.
»Scheiße«, raunte er und rannte er ihr nach.
Skàdis Herz raste und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, es würde in Flammen, stehen. Das erste Mal seit Jahren hatte sie wieder diesen Schmerz verspürt. Den Schmerz des Verlustes. Tamo löste etwas in ihr aus, was sie nicht ertragen konnte und schon gar nicht wollte. Sie musste hier weg. Sie musste weg von ihm. Weg aus dieser Stadt. Weg von diesen Gefühlen, die er in ihr hervorrief. Sie hätte sich niemals auf diesen Tag mit ihm einlassen dürfen. Sie schob sich durch die Menschen, die ihr entgegenströmten, und achtete nicht darauf, wo sie hinlief. Ihre Sicht verschwamm langsam durch die aufsteigenden Tränen. Sie weinte und das hatte sie seit Jahren nicht getan. Und je bewusster ihr diese Tatsache wurde, desto schneller lief sie.
Doch plötzlich stolperte sie und macht sich schon auf dem Aufschlag am Boden bereit, als sie an den Hüften gepackt wurde. Jemand stoppte ihren Sturz und zog sie nach oben. Sofort stieg ihr dieser Duft in die Nase. Sein Duft. Ihr Herz begann sofort wieder, wie wild zu schlagen, und eine unsagbare Wärme breitet sich in ihr aus.
Tamo zog sie langsam an sich und drehte sich mit ihr an den Rand des Weges. Vorsichtig legte er seine Arme um sie und drückte sie an seine Brust. Seinen Kopf ließ er auf ihre Schulter gleiten und lehnte sich an ihr Ohr.
»Es tut mir leid«, flüsterte er und sein Atem, der langsam über ihre Haut kroch, jagten ihr einen Schauer durch den Körper.
Ihre Nackenhaare stellten sich beinahe schmerzhaft auf und das Verlangen der Flucht tobte in ihr. Doch im selben Moment wusste sie nicht mehr, wann sie sich das letzte Mal so sicher gefühlt hatte. In ihrem Kopf begann sich alles zu drehen und sie wusste nicht mehr, was sie denken und fühlen sollte. Er brachte alles in ihr wieder zum Vorschein, was sie die letzten Jahre mühevoll hatte verschwinden lassen.
Tamo hielt einen Moment inne, doch als er merkte, dass von ihr keine Gegenwehr kam, wagte er den nächsten Schritt. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und als er sich langsam von ihr löste, spürte er, wie seine Hände unter der Aufregung zitterten. Vorsichtig, als hätte er Angst sie zu verschrecken, drehte er sie langsam zu sich. Zentimeter um Zentimeter zog er sie um ihre eigene Achse und Skàdi? Die ließ es einfach zu, denn auch wenn ihr Verstand versuchte, die Kontrolle zu übernehmen, hatte ihr Herz diesen einfach Schachmatt gesetzt.
So standen sie, am Rand eines Weges, der mit gedämpftem Licht beleuchtet war. Die Menschen, welche hinter ihnen entlang liefen, hatten sie völlig ausgeblendet und sahen nur noch sich.
Skàdi stand jetzt zu Tamo gewandt, hielt ihren Blick aber gesenkt. Tamo hatte seine Hände immer noch auf ihren Hüften liegen und sah auf sie herab. Er suchte nach Worten, doch mit jeden Versuch die Richtigen zu finden, wurde ihm klar, dass es nicht gelingen würde, und so ließ er seine Hand langsam nach oben gleiten.
Skàdi seufzte unter seinen Berührungen leise auf, denn es war, als würde seine Hand eine Spur von unendlicher Hitze hinterlassen. Tamo wanderte immer weiter nach oben, denn er war endlich an dem Punkt angekommen, warum er diesen Tag überhaupt wollte. Er musste wissen, was das zwischen ihnen war, was seit Tagen unausgesprochen zwischen ihnen heranwuchs. Als seine Hand ihr Kinn berührte, zuckte sie leicht zurück, aber Tamo ließ sie nicht los und zog sie mit seiner anderen Hand wieder zu sich. Langsam drückte er ihren Kopf nach oben, bis ihre Blicke sich endlich trafen. Die Zeit, um sie schien stillzustehen und nichts außer ihre wilden Herzschläge waren zu hören. Tamo sah Skàdi tief in die Augen und diesmal sah er es, dieses Verlangen, welches in ihnen tobte. Ein Kribbeln zog sich durch seinen Magen und langsam beugte er sich zu ihr herunter.
Skàdi spürte, wie ihre Knie langsam nachgaben, und ihr Körper anfing zu zittern. Doch diese Wärme und das Gefühl von Geborgenheit hatten die Oberhand gewonnen und so ließ sie es zu. Sie verlor sich in seiner Nähe, in seinem Geruch, in seiner Sicherheit.
Sie näherten sich und als nur noch wenige Millimeter zwischen ihnen lagen, war es Skàdi, die den letzten Schritt auf Tamo zumachte. Ihre Lippen legten sich vorsichtig auf seine und sofort legte Tamo seine Hände in Skàdis Nacken und drückte sie noch fester an sich. Ihre Lippen schienen zu verschmelzen und sie verloren sich in diesem Kuss. Skàdis Hände hatten sich in Tamos Brust gekrallt und sie zog ihn fester an sich.
Tamos Gefühle drehten völlig durch. Noch nie hatte eine Frau solche Gefühle in ihm ausgelöst. Er wollte sie, wie er noch nie etwas in seinem Leben gewollt hatte. Ihre weichen Lippen brachten ihm fast um den Verstand und als er spürte, wie sie mit ihrer Zunge sanft über seine Unterlippe strich, setzte sein Verstand völlig aus. Er öffnete seinen Mund und ihre Zungen prallten aufeinander. Im selben Moment, ließ er seine Hände nach unten wandern, packte Skàdi am Hintern und zog sie auf seine Hüfte.
Skàdi ließ sofort ihre Beine um seine Hüfte gleiten und presste sich an ihn. Sie konnte nicht mehr denken und sie wollte es auch nicht. Wenige Schritte brauchten sie und Skàdi stieß mit den Rücken an die Wand eine der Hütten, doch das hielt sie nicht auf, sondern trieb sie nur noch mehr an.
Der Kuss vertiefte sich immer mehr und während Skàdi ihre Hände durch Tamos Haar gleiten ließ, wanderten seine langsam unter ihr Shirt. Doch als seine Hände ihre nackte Haut berührten, schreckte Skàdi zurück. Ein Brennen schoss durch ihren Körper und ließ sie aufkeuchen. Sie starrte in Tamos Augen und sie erstarrte. Seine Iris war feuerrot gefärbt und funkelte ihr entgegen. Ihr Blick wanderte blitzschnell zu seinen Händen, die immer noch auf ihrer Haut lagen. Unter seinen Handflächen drang ein rotes Licht hervor. Tamo schien noch nicht realisiert zu haben, was gerade geschehen war. Skàdi schon und sie konnte es auf keinen Fall zulassen. Nicht mehr.
»Es tut mir leid«, flüsterte sie.
Und im nächsten Moment sah Tamo nur noch, wie sich ihre Augen weiß färbten und schon schoss ihm ein harter Schmerz durch den Körper, der all die Wärme und Zuneigung von eben sofort verdrängte. Es dauerte nur Sekunden und um Tamo herum wurde alles schwarz, bevor er bewusstlos zu Boden ging.
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