Kapitel 63 - Bleib bei mir
Es war bereits tief in der Nacht und er war sich nicht sicher, wie lang er in seiner Blase der Ratlosigkeit verbracht hatte. Was er aber wusste, war, dass er gerade mehr gehört hatte, als er es hätte, wahrscheinlich sollen. Er nahm sich eine Zigarette und beobachtete Skàdi, die wieder über das Geländer gelehnt in die Dunkelheit der schlafenden Stadt starrte. Sie wirkte nicht betroffen, aber das war nichts mehr, was Tamo wunderte. Er seufzte und lehnte sich ebenfalls über das Geländer.
»Er liebt dich also?«, fragte Tamo und hielt seinen Blick auf die Stadt gerichtet.
Skàdi zog an ihrer Zigarette und pustete langsam den Qualm aus.
»Ja, schon seit einer halben Ewigkeit.«
Er nickte gedankenverloren vor sich hin und sprach einfach weiter.
»Hattest du jemals Gefühle für ihn?«
»Nein und das weiß er auch. Mein Herz gehörte Travis bis zum letzten Moment«, gab sie, mit einem leisen Seufzen von sich.
»Auch wenn er es scheinbar nie verdient hatte«, schob sie noch leise nach.
Er wollte sich gar nicht ausmalen, wie sie sich damals gefühlt haben musste. Was sie alles durchgestanden hatte, für eine Liebe, die scheinbar niemals so erwidert worden war. Alles in ihrem Leben war zu einer reinen Talfahrt geworden und dennoch stand sie hier, machte irgendwie das beste draus und langsam verstand er, warum sie nichts mehr fühlen wollte. Tja und jetzt stellte sich die Frage, ob er ihnen helfen würde oder ob er sie einfach ihrem Schicksal überlassen sollte. Aber konnte er das? Immerhin beschützten sie ihn seit Tagen. Hatten alte Wunden wieder aufgerissen. Natürlich war da auch Eigennutzen dabei, aber trotzdem. Er rieb sich durch die Haare und atmete ein letztes Mal tief ein.
»Ich mache es. Spritzt mir dieses Blut von Hope und wir schauen mal, was passiert«, flüsterte er, denn er wusste, dass diese Aussage sein ganzes Leben verändern konnte.
Skàdi starrte für einen weiteren Moment in der Ferne, bis sich ihr Blick fokussierte und ihn dann zu Tamo richtete.
»Sicher?«, fragte sie und musterte ihn aufmerksam.
Tamo schüttelte den Kopf und schenkte ihr ein sanftes Lächeln.
»Nein, aber was habe ich für eine Wahl?«
»Du kannst nein sagen oder einfach verschwinden«, sagte sie emotionslos.
Tamo warf ihr einen fragenden Blick zu, der Skàdi zum Schmunzeln brachte.
»Was? Ich werde dich nicht zwingen. Ich weiß, dass es den Anschein macht, als wäre mir alles egal. Ist es eigentlich auch, aber ich werde mich nicht auf Samuels Niveau herablassen und jemanden etwas aufzwingen.«
Zögernd trat er einen Schritt zurück.
»Tut es weh?«, fragte er mit zitternder Stimme.
»Ja, weil es nur in Verbindung mit der schwarzen Flüssigkeit geht«, antwortete sie ihm ehrlich.
Ein Schauer durchfuhr Tamo, als er an die Reaktion von Milano und Alice dachte, als sie die Flüssigkeit erblickten. Er erinnerte sich an die Angst in ihren Augen und das Flehen, sie verschwinden zu lassen.
Aber er musste es nur einmal ertragen. Skàdi hatte es 365 Mal erleiden müssen. Also nickte er und nahm den letzten Zug seiner Zigarette.
»Na ja, was, soll's. Ist scheinbar dieses Karma, von dem immer alle sprechen und da habe ich wohl einiges aufzuholen«, gab er zu.
Skàdi lachte auf.
»Na, wenn dir der Glaube daran hilft«, sagte sie und sah ihn wieder an.
Ihre Blicke trafen sich und eine Spannung baute sich zwischen ihnen auf. Tamos Blick hing fest an ihren und wieder hatte er das unbändige Verlangen ihr näherzukommen, was war das nur mit ihr? Warum zog sie ihn nur so an? Er kämpfte gegen sein Verlangen an und musterte sie einfach nur. Skàdi ging es nicht anders. Etwas in ihr veränderte sich, wenn sie ihn so ansah und das gefiel ihr nicht. Sie hatte das Gefühl, sich selbst zu verlieren und ihr wurde bewusst, dass Tamo ihr unter die Haut ging. Und das durfte er nicht. Nicht er. Nicht bei dem, was sie vorhatten. Sie zwang sich, den Blick von ihm zu nehmen und richtete ihn wieder in die Ferne und sofort breitete sich wieder ein Gefühl von Leere in ihr aus.
»Geh schlafen und wenn du morgen immer noch derselben Meinung bist, sehen wir weiter«, flüsterte sie ihm zu.
Tamo durchzog ein bitteres Gefühl, als sie den Blick von ihm wandte. Er richtete seinen Blick wieder auf sie und sprach einfach darauf los.
»Ich werde meine Meinung nicht ändern, aber ich habe eine Bedingung«, sagte er in scharfen Ton und wunderte sich selbst schon darüber.
Sie sah ihn überrascht an.
»Und die wäre?«
Tamo neigte den Kopf leicht und sah sie an.
»Egal, was passiert und egal, was für Kräfte ich bekomme, du gibst mit einen Tag, den wir beide miteinander verbringen. Denn auch wenn du versuchst es nicht zu zeigen, du spürst es auch. Ich sehe es in deinem Blick und ich spüre es. Zwischen uns ist etwas und bevor wir in den Kampf ziehen, und dabei vielleicht noch sterben, will ich wissen, was es ist«, sagte er mit harter Stimme und ehe Skàdi antworten konnte, wandte er sich ab und verschwand nach drin.
Sie sah ihn fassungslos nach, doch ihre Miene hellte sofort auf und ein weiches, sanftes Lächeln legte sich auf ihre Lippen.
»Okay«, flüsterte sie und vernahm das eigenartige Kribbeln in ihrem Magen.
Am nächsten Morgen hatte sich nichts verändert. Silas war immer noch verschwunden und er würde wohl auch nicht so schnell wieder kommen. Tamo war bei seiner Entscheidung geblieben und Skàdi versuchte auch nicht, ihm von etwas anderem zu überzeugen. Alice und Milano waren etwas überrascht, denn sie hatten eher damit gerechnet, dass Tamo einen Rückzieher machen würde.
»Bist du dir sicher?«, fragte Alice ihn ein letztes Mal.
Nein, war er sich nicht. Sein Herz schlug wie wild und Angst breitete sich in jeder seiner Zellen aus. Er saß in der Mitte des Wohnzimmers auf einem Stuhl. Gefesselt. Auf seinen Wunsch hin. Tamo wusste, dass er unter Schmerzen aggressiv werden konnte und da keiner wusste, was passieren würde, war es so wahrscheinlich das Beste für alle.
Er nickte nur, denn er war nicht mehr in der Lage zu sprechen und würde es nicht bald losgehen, konnte er auch nicht mehr garantieren, dass er sich nicht doch noch umentscheiden würde.
Skàdi schien ihm das anzusehen und räusperte sich.
»Okay, dann los«, sagte sie und schon gingen Milano und Alice einige Schritte zurück.
Am liebsten wären sie ganz gegangen, denn die schwarze Flüssigkeit reichte schon, um sie erstarren zu lassen. Jetzt aber auch noch dabei zuzusehen, wie jemand unter diesen Schmerzen leiden musste, gehörte eindeutig nicht auf ihre Must-have-Lebensliste. Dennoch mussten sie bleiben, denn niemand wusste, was passieren würde und ob Skàdi die beiden vielleicht benötigen würde. Sie stellten sich also hinter sie und Skàdi machte sich daran, die schwarze Flüssigkeit in eine Spritze zu ziehen. Ja, da hatte Duke sein Besuch wenigstens etwas Gutes gehabt, denn ohne ihn und diese Ampulle, hätten sie diesen Versuch nicht starten können.
Nachdem die Ampulle leer wahr, nahm Skàdi die alte Spritze mit Hopes Blut aus der Holzschachtel und ging damit auf Tamo zu. Sein Blick klebte auf den beiden Spritzen und sein Puls stieg unaufhörlich an.
»Sicher das Alice dich nicht noch mal kurz herunterholen soll?«, fragte Skàdi.
Tamo nickte erneut. Es war keine Option für ihn. Sie hatten nur den einen Versuch und er wollte nicht riskieren, dass es durch irgendwelche Sonderbehandlungen nicht klappen würde.
Skàdi hockte sich vor ihm und hob den Blick.
»Okay, ich spritze dir zuerst die schwarze Flüssigkeit. Kurz danach das Blut. Versuch so still, wie möglich zu halten, okay?«, sagte sie so sanft, dass Milano und Alice sich sofort fragende Blicke zuwarfen.
»Bleibst du bei mir?«, fragte er zögerlich.
Sie schluckte und nickte leicht.
»Die ganze Zeit. Versprochen«, flüsterte sie ihm zu.
Ein leichtes Lächeln zuckte über sein Gesicht.
»Dann lass uns anfangen«, sagte Tamo zögerlich und ohne weitere Vorwarnung, setzt Skàdi die Spritze an seinem Hals an und durchdrang seine Haut.
Tamo verkrampfte sich schlagartig und als die Flüssigkeit in seine Ader drang, schrie er schmerzerfüllt auf. Er krampfte seine Finger um die Lehne des Stuhls, so sehr, dass die Knöchel seiner Finger weiß anliefen. Seine Fingernägel gruben sich tief in das Holz und er glaubte, dass sein Herz gleich aus seiner Brust springen würde. Es fühlte sich an, als würde sein Körper in Flammen stehen und dieser Schmerz war unvergleichbar. Noch nie in seinem Leben hatte er etwas Ähnliches gespürt. Er presste sich gegen seine Fesseln und die Seile rieben schmerzhaft über seine Haut. Sein Magen zog sich zusammen und ließ Übelkeit in ihm aufsteigen. Er hatte sich vorgenommen, das Ganze so gut wie nur möglich zu überstehen, ruhig zu bleiben und sich nichts anmerken zu lassen, aber diese Schmerzen lagen außerhalb seiner Vorstellungskraft.
»MACHT DAS ES AUFHÖRT«, schrie er, doch nichts passierte.
Skàdi stand vor ihm und schluckte. Sie wusste, was er gerade durchlebte. Wie sich der Schmerz durch seinen Körper fraß und den Anschein hinterließ, niemals enden zu wollen. Milano und Alice hatten den Blick von ihm gewandt. Sie konnten es nicht ertragen, zu sehen, wie sein Körper sich unter den Schmerzen zusammenzog. Doch Skàdi zögerte nicht und lehnte sich zu ihm, setzte die nächste Spritze an und jagte ihm das Blut von Hope über seine Armbeuge in den Körper. Langsam leerte sie die Spritze, während Tamo versuchte, gegen seine Fesseln anzukämpfen. Tränen stiegen ihm in die Augen und er schrie wie am Spieß. Alles wirkte nervös und hektisch, doch Skàdi ließ sich nicht beirren. Erst als auch diese Spritze leer war, warf sie diese beiseite und nahm Tamos Gesicht in ihre Hände.
»Alles wird gut«, flüsterte sie leise und strich ihm sanft über die Wangen. Sein Körper bebte unter ihren Händen und als sie seinen Kopf anhob, sah sie, wie er die Augen nach innen verdrehte.
Er schrie nicht mehr, sondern gab nur noch ein leises Wimmern von sich, während sein Körper zitterte und er sämtliche Farbe aus dem Gesicht verlor. Skàdi würde lügen, wenn sie behaupten würden, dass sie dieser Anblick nicht traf. Ein eigenartiger Schmerz zog sich durch ihr Herz und ein Schauer legte sich über ihren Körper.
»Es ist gleich vorbei«, raunte sie ihm zu.
Tamos Körper bebte und langsam schien er aufzugeben. Ein Körper war nur bis zu einem bestimmten Punkt belastbar und auch wenn die schwarze Flüssigkeit alle Schutzfunktionen blockierte, verlor der Körper seine Kraft. Zumal sich alle einig waren, dass sie ihm keine weiteren Schmerzimpulse setzten würden.
Tamos Körper gab schlagartig nach und wurde unter ihren Händen weich. Sein Kopf fiel kraftlos in ihre Hände und er sackt in sich zusammen. Skàdi streichelte ihn erneut sanft über die Wangen und hob seinen Kopf langsam an. Sein Blick traf auf ihren, doch er starrte einfach durch sie hindurch. Da war nichts außer Leere und Schmerz zu finden.
»Macht ihn los«, raunte Skàdi, ohne Tamo loszulassen.
Milano folgte ihrer Anweisung, schnitt die Fesseln auf und sofort fiel Tamo kraftlos in Skàdis Arme. Sie zog ihn zu sich und ließ sich mit ihm auf den Boden gleiten.
»Tu es«, raunte Skàdi und sah zu Alice.
»Ich dachte«, stotterte diese, doch Skàdi unterbrach sie.
»Nimm ihm, die verdammten Schmerzen, JETZT«, brüllte Skàdi und Alice schrak zusammen.
Ohne weitere Fragen zu stellen, ging Alice zu den beiden und legte ihre Hände auf Tamos Herz. Ein goldener Schleier legte sich um Tamo und gleichzeitig auch um Skàdi. Tamo riss für einen Moment die Augen auf und im nächsten Augenblick verschwand der goldene Schleier. Skàdi hielt ihn immer noch fest in ihren Armen und als er den Blick für einen Moment anhob und sie ansah, spürte sie wieder dieses Stechen in der Brust.
»Danke«, murmelte er leise und schon fielen ihm die Augen zu und er schlief im selben Augenblick ein.
»RAUS HIER«, brüllte Skàdi und Milano und Alice zögerten nicht.
Sie verschwanden auf der Stelle, denn sie hatten schon vieles erlebt mit Skàdi, aber das hier war neu und machte ihnen Angst.
Als Skàdi die Tür hinter sich zufallen hörte, atmete sie tief ein, ließ Tamo auf ihren Schoß gleiten und streichelte ihm langsam über den Kopf. Eine einzige Träne bildete sich in ihrem Auge und sie wusste, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Jetzt blieb ihr nur noch hoffen, dass Hopes Kräfte sich nicht in ihm verankern würden, denn sie wusste mehr als die anderen und plötzlich verstand sie auch die Aussage ihres verrückten Traumes. Links oder rechts. Ein Weg steht für den Tod, der andere für die Liebe und das Ziel beider Wege wird der Tod sein. Sie hielt es für eine sinnlose Aneinanderreihung von Worten, doch jetzt verstand sie es und jetzt wusste sie auch, warum an beiden Enden des Weges der Tod wartete. Nur dass es nicht um ihren Tod ging, wie sie bis dahin geglaubt hatte.
Es gab zwei Wege, wie das Ganze enden konnte, ihr Tod oder der von Tamo und sie hatte dafür gesorgt, dass diese Möglichkeit überhaupt entstehen konnte. Nur dass sie sich vor wenigen Minuten noch sicher gewesen war, dass ihr Tamos Tod egal sein würde. Doch genau das war es nicht. Sie fühlte wieder. Sie spürte seinen Schmerz und der Gedanke daran, ihn zu opfern, um sich und die anderen zu retten, zerriss ihr fast das Herz.
Skàdi wusste nicht mehr, wie lange sie schon hier saß, aber sie war nicht von Tamos Seite gewichen und streichelte ihm unentwegt über den Kopf. Sie selbst hatte sich an die Couch hinter sich gelehnt und starrte an die Decke. Ihre Gedanken rasten und sie fühlte sich mit jeder Sekunde, die Tamo auf ihren Schoß lag, mieser. Warum musste es gerade jetzt passieren, wo sie endlich einen Weg gefunden hatte, um Samuel zu vernichten, ohne selbst dabei zu sterben? Sie stöhnte leise auf, als sie ein leises Murmeln vernahm.
»Du bist tatsächlich geblieben«, flüsterte Tamo leise.
Skàdi hob den Kopf und ließ ihren Blick zu Tamo gleiten. Er öffnete gerade die Augen und sah sie müde an. Seine Augen waren rot unterlaufen und er sah alles, aber nicht fit aus. Dennoch legte sich ein leichtes Lächeln auf seine Lippen.
»Ich habe es doch versprochen, oder?«, fragte Skàdi und strich ihm ein letztes Mal über den Kopf.
Er nickte leicht.
»Es tut mir leid«, raunte er.
Skàdi runzelte die Stirn.
»Was meinst du?«, fragte sie verwundert.
Tamo seufzte und sah sie voller Mitgefühl an.
»Dass du und die anderen das erleben musstet, solange und allein. Ich verstehe es jetzt und ich denke, wenn du nicht gewesen wärst ... ich glaube, mein Geist hätte den Kampf verloren und dabei hatte ich die leichte Variante des Ganzen«, flüsterte er.
Ein sanftes Lächeln legte sich auf Skàdis Gesicht und sie schüttelte den Kopf.
»Dir muss nichts leidtun«, sagte sie und legte ihre Hand aufs Tamos Brust.
»Spürst du etwas?«, fragte sie und Tamo vernahm sehr wohl ihre Sorge in ihren Worten, was ihn verwunderte.
Er begann damit, sich langsam aufzurichten, und stöhnte dabei auf. Skàdi griff ihn sofort unter die Arme und stütze ihn, bis er sich auf die Couch fallen ließ. Er rieb sich über das Gesicht und seufzte auf.
»Müde, kaputt ... völlig fertig. Mit tut alles weh, aber ansonsten, nein ... nichts«, sagte er verbittert.
»Geb dir Zeit und schlaf am besten weiter«, sagte sie und reichte ihm eine Decke.
Tamo sah sie an und suchte nach Anzeichen von Enttäuschung, aber irgendwie wirkte es eher, als wäre sie erleichtert. Aber er war müde, erschöpft und war sich nicht mal mehr sicher, ob er ihre Mimik gerade richtig deuten konnte. Er griff nach der Decke, legte sich auf die Couch und es dauerte nur Sekunden, bis er wieder eingeschlafen war.
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