Kapitel 61 - Eigennützig
Silas und Tamo stiegen die Treppe nach oben in das Wohnzimmer und so, wie sie das Zimmer betraten, blieben sie stehen. Ihr Blick sprang sofort zu Milano, der blutverschmiert vor ihnen stand. Tamo klappte der Mund auf, Silas hingegen zog nur eine Braue nach oben.
»Ich nehme an, für Elisabeth ist die erneute Begegnung mit dir nicht sonderlich gut ausgegangen?«, sagte Silas und musterte Milano.
Milano drehte sich grinsend zu ihm.
»Na, sie ist zumindest nicht lebend davongekommen«, erwiderte dieser.
Silas schüttelte nur den Kopf und lief auf Alice und Skàdi zu, die vor einem riesigen Haufen von Büchern und Zetteln saßen. Tamo stand immer noch da und sah etwas irritiert durch den Raum.
Elisabeth war also tot. So wirklich drang die Information nicht durch, aber es war vielleicht auch besser so, denn langsam kam er an die Grenze des Ertragbaren. Schweigend lief er Silas nach und ließ sich ungefragt neben Alice nieder.
»Was ist mit dem Kloster passiert?«, fragte Alice.
Skàdi seufzte.
»Ich habe es zusammenfallen lassen«, gab sie ausdruckslos von sich.
»Und die Nonnen?«, fragte Silas und sah Skàdi dabei tadelnd an.
Sie hob den Blick und sah ihn eindringlich an.
»Elisabeth hat in den Gewölben dieses Klosters weiter an ihrer Forschung gearbeitet. Sie hat Menschen dahin verschleppt und uns unter einem Vorwand dahin gebracht. Ich denke nicht, dass sie das alles allein geschafft hat«, gab Skàdi zischend von sich.
Silas nickte nur. Er würde das Feuer nicht weiter anfachen. Was würde es bringen? Egal, ob schuldig oder nicht. Sie waren tot und daran würde auch keine Diskussion etwas ändern. Also gab er einen leisen Seufzer von sich und zeigte auf die Ansammlung von Papier vor sich.
»Ich nehme an, das sollen die Antworten auf unsere Fragen sein?«, fragte er.
Skàdi nickte.
»Ich will es hoffen«, gab sie zurück und griff nach dem ersten Buch.
Tamo, der bis eben beobachtet hatte, sah zu Skàdi und räusperte sich.
»Woran habt ihr gemerkt, dass Elisabeth lügt?«, fragte er.
»Sie konnte einfach so loslaufen und das nach elf Jahren? Ich kann Verletzungen und Krankheiten heilen, aber das war wohl ein Wunder. Na ja oder sie war nie an ein Bett und Rollstuhl gefesselt.«
Tamo nickte zustimmend. Ergab Sinn.
»Deswegen habt ihr eure Fähigkeiten verschleiert?«, fragte er nach.
Wieder nickte Skàdi.
»Ja, sie hatte eh schon zu viel gesehen, dann musste sie nicht alles wissen. Aber eigentlich ging es nur darum, dass Milano sich ungehindert durch das scheiß Kloster bewegen kann«, gab sie zu.
Tamo fuhr sich durch seine Haare.
»Deswegen der Streit und die plötzliche Nettigkeit?«
Alle nickten nur und Tamo verstand langsam, was die letzten Tage vor sich gegangen war. Skàdi hingegen kümmerte sich wieder um das Buch in ihren Händen, als Alice plötzlich aufseufzte.
»Okay, wonach suchen wir jetzt?«, fragte sie und wühlte durch den Stapel Papier vor sich.
»Nach Antworten, vor allem, was es mit den Fähigkeiten von Hope auf sich hat«, gab Skàdi zurück und blätterte auf die nächste Seite.
Wieder war es Tamo, der sie unterbrach.
»Kennen wir die Antwort nicht schon? Sie hatte euch doch dieses Notizbuch gegeben?«, fragte Tamo.
Alice schüttelte genervt den Kopf.
»Das war frisch geschrieben, so frisch, dass es mich gewundert hat, dass sie Tinte überhaupt schon trocken war«, sagte sie und griff nach einem der Notizbücher.
Tamo schüttelte den Kopf.
»Was sollte der ganze Scheiß überhaupt?«, fragte er mittlerweile ebenso genervt.
Alice zuckte mit den Schultern und warf ihn eins der Bücher zu.
»Lies, dann finden wir es vielleicht heraus«, raunte sie.
Tamo fing das Notizbuch auf, seufzte und lehnte sich zurück. Lesen. Eins der Dinge, die er noch weniger mochte, als keine Antworten zu bekommen. Vor allem, wenn er an das letzte Buch dachte und ihm die Übelkeit direkt wieder die Kehle nach oben stieg. Dennoch schlug er das Buch auf und hoffte, dass es diesmal einfach leichtere Kost werden würde. Milano und Silas taten es den anderen gleich und nach und nach versank jeder in den Notizen der Jones.
Stunden vergingen, bis Alice und Silas ihre Bücher beiseitelegten und seufzten.
»Das war einmal uninteressanter Schrott«, raunte Alice und Silas stimmte ihr zu.
»Ich weiß ja nicht, wie es euch geht, aber ich habe Hunger«, sagte Silas.
Ein allgemeines Grummeln diente als Zustimmung. Milano legte sein Buch auch zur Seite und stand auf.
»Dann lasst uns mal einkaufen gehen«, sagte er.
Alice zog eine Braue nach oben und zeigte auf seine Klamotten.
»Deine Klamotten sind blutgetränkt. Mehr Aufmerksamkeit können wir damit wohl nicht erreichen«, sagte sie.
Milano rollte die Augen.
»Sieht doch keiner, aber wenn es dich beruhigt, ich kann mich ja verstecken und transportiere dann nur die Einkäufe«, sagte er und damit konnte Alice sich scheinbar abfinden und so verschwanden die drei.
Tamo sah von seinem Buch auf, welches mehr oder minder aus chemischen Formeln bestand. Sein Blick wanderte zu Skàdi, die scheinbar tief in den Zeilen ihres Buches steckte. Wieder kamen ihm die letzten Tage in den Sinn und die Erkenntnisse, die er über sie erworben hatte. Es war einfach nur grauenhaft und dennoch saß sie einfach hier und lebte. Und wenn er mal ehrlich zu sich war, für das, was sie alles erlebt hatte, war sie tatsächlich noch relativ nett. Doch er glaubte zu wissen, warum es so war. Er räusperte sich und sprach einfach darauf los.
»Wie vielen Menschen hast du das Leben gerettet?«
Er sah an Skàdis Blick, dass sie das Lesen einstellte. Dennoch dauerte es einen Moment, bis sie zu ihm aufsah. Sie musterte ihn und ihre Stirn legte sich in Falten.
»Keine Ahnung. Um die fünfzig. Warum?«, fragte sie und sah ihn an.
Tamo hielt ihren Blick stand und sprach weiter.
»Und wann hast du gemerkt, dass es dich verändert?«, fragte er mit fester Stimme.
Sie zog eine Braue nach oben und biss sich auf die Lippe. Wusste er es doch. Seit Wochen kam er sich das erste Mal nicht wie ein Dummkopf vor. Doch auch Skàdi schien zu ahnen, auf was er hinaus wollte und so gab sie ihm direkt die Antwort auf seine Vermutung.
»Ja, ich habe so vielen Menschen das Leben gerettet, weil ich wusste, dass es mir die Gefühle nimmt«, sagte sie.
Tamo sah sie an und es schmerzte ihn, sie so zu sehen. Sie war so gebrochen, dass sie nur noch ein Schatten ihrer selbst sein konnte. Sie hatte recht damit, dass sie ein Wolf im Schafpelz war, denn selbst die Tatsache, dass sie anderen Menschen das Leben schenkte, war nichtig, wenn man wusste, warum sie es tat. Es ging hier nur darum, dass sie nichts mehr spürte. Dass sie keinen Schmerz mehr empfand und dennoch, Tamo konnte es verstehen.
Sie hatte den Weg gewählt, der sie am Leben erhalten hatte, und er war sich ziemlich sicher, dass er denselben Weg gewählt hätte. Skàdi hatte sich wieder dem Buch auf ihren Schoß zugewendet und Tamo tat es ihr gleich.
Milano, Alice und Silas kamen nach über einer Stunde zurück. Sie hatten ein paar Lebensmittel, Kaffee und Whiskey besorgt. Außerdem ein paar frische Klamotten und Dinge wie Zahnbürsten, Duschbad und Deo. Damit würden sie zumindest die nächsten Tage über die Runden kommen. Nachdem sie alle was gegessen und sich nacheinander frisch gemacht hatten, saßen sie alle auf einer Decke, vor dem Kamin, einem Glas Whiskey in der Hand und arbeiteten sich weiter durch die unzähligen Schreibstücke.
Alice war, die Erste, die sich räusperte.
»Ich glaube, ich habe hier was«, sagte sie und sofort sahen die anderen auf.
Skàdi legte ihr Buch beiseite.
»Na dann fang an«, sagte sie und Alice nickte.
Alice räusperte sich und begann aus dem Buch vorzulesen.
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Testobjekt 66 zeigt ein erhöhtes Aggressionsverhalten. Testobjekt 34 hingegen scheint völlig entspannt und scheint sämtliche negativen Einflüsse zu ignorieren. Die Theorie ist, dass die beiden sich ausgleichen. Um diese zu bestätigen, setzten wir die beiden Testobjekte in einen Käfig ...
Nach einigen Tagen kann ich meine Theorie nur bestätigen. Die beiden Testobjekte scheinen eine gegenseitige Wirkung aufeinander zu haben. Objekt 66 zeigt bedeutend weniger aggressives Verhalten. Objekt 34 zeigt wieder eine normale Reaktion auf negative Einflüsse. Trennt man die beiden, verfallen sie sofort in ihr altes Verhaltensmuster ...
Die nächste Frage ist, was passiert, wenn man ihre Fähigkeiten vereint. Dafür wird Objekt 66 etwas von dem Blut des Objekts 34 gespritzt, doch auch nach mehreren Tagen zeigt es keine Veränderungen in seinen Verhalten. Umgekehrt jedoch zeugt Objekt 34 plötzlich erhöhte Aggressionen.
Ich komme deshalb zu dem Schluss, dass es stärkere und schwäche Fähigkeiten gibt und in ein und demselben Objekt sich immer eine durchsetzten wird.
Randnotiz; Mutternatur lässt sich auch hier nicht hintergehen. Gut und Böse gehören immer zusammen und können nur gemeinsam zu etwas Vollständigem werden.
Auch war der Versuch einem völlig fähigkeitslosen Objekt, beide Kräfte zu übertragen erfolglos, auch hier setzte sich die Stärke Fähigkeit (Aggression) durch ...
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Alice sah von dem Buch zu Skàdi auf, welche nachdenklich in das Feuer starrte.
»Was ist los?«
Skàdi kniff sich in den Nasenrücken und sah zu den anderen.
»Elisabeth hatte auch was von gut und böse gefaselt und davon, dass sie sich ausgleichen.«
Milano legte den Kopf schief.
»Oder zu etwas Vollständigen werden«, ergänzte er.
Skàdi runzelte die Stirn und sah ihn fragend an.
»Und was möchtest du uns damit sagen?«, fragte sie.
Milano legte sein Buch zur Seite und nahm ein Schluck von seinem Whiskey, bevor er anfing zu sprechen.
»Was ist, wenn er recht hat. Zu jeder Fähigkeit, die wir entwickeln, gibt es einen passenden Gegenpart, der den anderen ausgleicht? Was ist, wenn diese Fähigkeiten gemeinsam etwas noch Größeres ergeben?«, fragte er und seine Augen funkelten.
»Du meinst, aus einem Feuer könnte ein Inferno entstehen? Das bekomme ich auch allein hin.«
Milano rollte die Augen und rieb sich genervt die Augen, welche schön völlig trocken waren von dem vielen Lesen.
»Nein«, er sah zu Alice und sprach dann weiter.
»Wenn ich durch die Gegend laufe, durchfährt mich eine tiefe Kälte. Ich muss mir vorher im Klaren sein, wohin ich will oder was ich erreichen möchte, denn während ich unterwegs bin, kann ich nicht klar denken. Was wäre, wenn Alices Wärme und Geborgenheit mir dazu verhelfen könnte, dass ich genau in diesen Momenten bei klarem Verstand bleibe?«
Sie tippte sich auf die Unterlippe und dachte über seine Worte nach.
»Dann könntest du noch schneller agieren, besser reagieren oder deinen Plan abändern«, sagte sie leise.
Er nickte.
»Meine Fähigkeiten würden dadurch sinnvoller oder auch nützlicher werden«, beendete er den Satz.
Schweigen breitete sich aus und Alice und Milano starrten sich an. Tamo sah zwischen den beiden Hin und Her, bis er es verstand.
»Wie jetzt? Ihr habt noch nie versucht, eure Fähigkeiten zu fusionieren?«, fragte er fassungslos.
Alice schüttelte den Kopf.
»War nie vonnöten«, gab sie trocken von sich.
Tamo sah sie entsetzt an.
»Echt jetzt?«
Alice sah ihn genervt an.
»Ja, echt jetzt, du Penner. Wir haben uns das Haus im Wald gesucht und lebten dort fernab von irgendwelchen Idioten, die uns an die Wäsche wollten, bis du aufgetaucht bist« fauchte sie ihn an.
Tamo sah sie entgeistert an. Das hat sie dann wohl falsch aufgefasst, aber er konnte nicht wirklich verstehen, warum sie nicht alles Mögliche ausprobiert hatten.
»Sorry, aber ...«, doch weiter kam er nicht, denn Skàdi mischte sich ein.
»Wir haben diese Fähigkeiten nie als Segen angesehen und tatsächlich auch so gut, wie nie genutzt«, raunte sie.
Tamo nahm einen Schluck von seinem Whiskey und da er jetzt eh schon in ein Wespennest gestochen zu haben schien, konnte er auch noch die nächste Frage stellen. Denn die lag ihm schon eine Weile auf der Zunge.
»Warum versteckt ihr euch? Ich meine, ihr könntet so viel Gutes anstellen. Das kann doch nicht nur an euren Deal mit diesem Spinner liegen«, sagte er.
Sofort waren alle Blicke auf ihn gerichtet und einer wirkte fassungsloser als der andere.
»Er ist wirklich dämlich«, sagte Milano leise.
Tamo zeigte ihm angepisst den Mittelfinger, doch es war Skàdi, die alle wirklich schockte.
»Er ist nicht dämlich. Er versteht es einfach nur nicht. Er sieht nur die Fähigkeiten und die Möglichkeiten, die sie uns geben. Den Schmerz und das Leid dahinter kann er nicht sehen oder spüren. Wie auch?«, sagte sie und sah in die Runde.
Erst jetzt wurde Tamo bewusst, wie groß der Fettnapf war, in welchen er mit Anlauf gesprungen war. Er suchte bereits nach entschuldigenden Worten, doch Skàdi hob die Hand.
»Lass es. Es würde wahrscheinlich jeder Außenstehender so denken. Ja, natürlich könnten wir Gutes tun. Aber was, glaubst du, würde passieren, wenn die Menschheit von uns erfährt?«, fragte sie und sah Tamo eindringlich an.
Seine Gedanken rasten und das Erste, was ihm einfiel, sprach er aus.
»Sie hätten Angst.«
Skàdi lachte kalt auf.
»Angst wäre das Beste, was uns passieren könnte, und einige hätten die sicher auch. Aber nicht alle und genau da liegt das Problem. Was glaubst du, wie lange wir freie Menschen wären? Wir sind nicht unsterblich. Wir reagieren auf normale Betäubungsmittel. Was denkst du, wie lange es dauert, bis es mehr von solchen Typen, wie Samuel gibt? Die unsere Fähigkeiten wollen? Die Neue erzeugen wollen? Es wäre der Untergang der Menschheit. Deswegen leben wir zurückgezogen und teilen unser Wissen nicht. Samuel ist die Ausgeburt der Hölle, aber selbst er hat gewusst, dass dieses Wissen nicht für die Menschheit geeignet ist.«
Tamo kam sich schlagartig wirklich dämlich vor, denn von dieser Seite hatte er es tatsächlich nicht gesehen. Würde die Menschheit davon erfahren, würde ein Krieg um dieses Wissen losbrechen und dabei konnte es keine Gewinner geben. Mitleid überschwemmte seinen Körper, doch wieder unterbrach ihn Skàdi.
»Spar dir dein Mitleid und wisch dir diesen traurigen Blick aus dem Gesicht. Der hilft hier niemandem.«
Tamo schluckte und nickte ihr nur noch zu. Sie seufzte und sah wieder in das Feuer.
»Gut, zurück zum Thema. Vielleicht gleichen wir uns aus, wenn wir den passenden Gegenpart gefunden haben, aber das hilft jetzt nicht wirklich weiter. Also, sonst noch jemand was?«, fragte Skàdi und nahm ein Schluck Whiskey.
Silas öffnete sein Buch.
»Ich bin mir nicht sicher. Ich denke, dass hier ist eine Art Tagebuch von Elisabeth, aber etwas passt da nicht«, sagte er.
Skàdi sah ihn an.
»Hier passt schon lange einiges nicht mehr. Also ... wir hören.«
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Ich weiß, es war ein Fehler, aber was hätte ich machen sollen, als sie mich so anlächelte? Sie einfach liegen lassen? Nein, mein Herz war gebrochen und so hätte ich nicht nach Hause gehen können. Ich spüre es. Sie ist etwas Besonderes. So besonders, dass sie mir meine Sünden verzeihen wird. Sie hat jetzt, nach drei Tagen, schon mehr geschafft, als Samuel es jemals schaffen wird. Aber sei es drum, ich werde sie erst mal ankommen lassen und dann, dann schauen wir, was in dir steckt, kleine Hope ...
Ich weiß nicht, wie lange ich das Ganze noch durchhalten soll. Ihr Geist ist zu beschränkt, um meine Anweisungen umzusetzen, und langsam bin ich es leid. Ich werde einen anderen Weg versuchen, denn laut den Unterlagen meines Großvaters kann man Fähigkeiten übertragen. Ich hätte ihren Bruder und nicht sie mitnehmen sollen ...
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Silas sah auf und räusperte sich.
»Also sagt mir, dass es nicht eigenartig ist, wie sie von ihrer Tochter spricht und über den Rest möchte ich wahrscheinlich gar nicht nachdenken«, sagte er, klappte das Buch zusammen.
Alice runzelte die Stirn.
»Steht da nicht mehr drin?«, fragte sie Silas.
Er drehte das Buch und öffnete es.
»Die ersten Seiten wurden herausgerissen und den Rest kann man nicht mehr lesen. Sieht aus, als wäre es nass geworden«, sagte er, während er ihnen das Buch präsentierte.
»Hm, ja, das ist wirklich eigenartig«, gab Alice grüblerisch von sich.
»Mal abgesehen von den Eigenarten des Buches, klingt es fast so, als würde sie nicht von ihrem eigenen Kind reden, oder bilde ich mir das ein?«, fragte Silas.
Skàdis Blick hing auf den wild tanzenden Flammen und das Knistern des Holzes, welches langsam verbrannte, war das Einzige, was sie wahrnahm. Sie hatte Silas seine Worte sehr wohl vernommen und diese hatten das bestätigt, was sie eben aus der Sicht eines anderen gelesen hatte. Es würde sie wieder an den Anfang befördern und alles, was sie bis jetzt herausgefunden hatten, würde nichtig werden. Es würde wohl wirklich enden, wie es angefangen hatte, mit dem Tod von allen.
»Skàdi?«
Sie vernahm ihren Namen und atmete die warme Luft, die ihr entgegenschlug, tief ein. Seufzend richtete sie den Blick von den Flammen und sah in die fragenden Gesichter vor sich.
»Hast du überhaupt zugehört?«, fragte Silas.
Tamo musterte Skàdi und ihn beschlich ein ungutes Gefühl.
»Was ist los?«, fragte er unbedacht.
Skàdi richtete den Blick zu ihm und wackelte mit dem Buch, welches sie schon den ganzen Abend in der Mache hatte.
»Ich habe zugehört und du bildest es dir nicht ein. Ich glaube, Samuel hatte nie eine Schwester, zumindest nicht im biologischen Sinne«, sagte sie.
Alice sah sie an.
»Wie kommst du darauf?«
Skàdi biss sich ein letztes Mal auf die Unterlippe, schlug das Buch auf und begann zu lesen.
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Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Ich hätte nie geglaubt, dass ich die alberne Tradition der Jones fortsetzten werde, aber ich muss es loswerden. Ich muss mit jemandem reden.
Also, wie fange ich das Ganze an? Ich heiße Samuel Jones und ich bin gerade zehn Jahre alt geworden.
Niemals wollte ich meine Gedanken auf Papier bringen, aber ich habe hier niemanden zum Reden, aber ich weiß nicht mehr, was ich noch machen soll.
Aber was schreibe ich denn da? Ich muss am Anfang beginnen.
Fünf Jahre ist es jetzt her, dass meine Mum mit diesem kleinen rosa Bündel zu Hause ankam. Erst war ich verwundert. Musste man nicht einen dicken Bauch bekommen, bevor man ein Kind zur Welt brachte? Aber was wusste ich zu diesem Zeitpunkt denn schon? Da war sie nun, meine Schwester und wenn ich ehrlich bin, ich war nicht sonderlich begeistert von ihr. Sie schrie, sie roch ständig komisch und meine Mum schien sich nur noch für sie zu interessieren.
Aber mit jedem Tag, den die kleine Hope in meinem Leben war, breitete sich ein komisches Gefühl in mir aus. Ich mochte sie und von Tag zu Tag wurde dieses Gefühl intensiver, bis ich es nicht mehr leugnen konnte. Ich liebte meine kleine Schwester. Irgendwann schrie sie auch nicht mehr und wenn sie lächelte, hatte ich das Gefühl, dass mein Herz mir aus der Brust springt.
Irgendwann begann sie zu laufen und als sie stolperte und in meinen Armen landete, durchfuhr mich ein seltsames Gefühl. Ich wurde ganz ruhig, entspannt und ich glaubte, ich war nie so glücklich wie in diesem Moment. Nur leider hielt das Ganze nicht lange an. Vielleicht hätte ich Mum davon nie erzählen dürfen, dass Hope dafür sorgen kann, dass ich mich anders fühle.
Denn ab diesen Tag wurde Mum komisch und Hopes und mein Leben wurde schmerzhaft. Mum begann damit, Hope in den Arm zu piksen und ihr rote Flüssigkeit aus dem Körper zu ziehen. Hope schien das Ganze am Anfang nichts auszumachen. Sie sah mit ihren großen, blauen Augen dabei zu und schien fasziniert davon zu sein. Mir gefiel es nicht, was Mum da mit ihr machte und als ich ihr das sagte, bekam ich das erste Mal in meinen Leben eine Ohrfeige.
Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Ich hatte wohl einen Fehler gemacht, also schwieg und beobachtete ich. Mum nahm das Blut und immer wenn sie glaubte, dass wir schliefen, verschwand sie damit in den Keller. Ich wusste nicht, was sie da unten tat, aber egal, was es war, sie tat es jede Nacht. Einmal, als sie gerade mit Hope unterwegs war, habe ich mich in den Keller geschlichen und da sah ich die ganzen Mäuse in ihren Käfigen. Unzählige Notizbücher und Tafeln voller komischer Zeichen ...
Das Ganze ist jetzt vier Jahre her. Ich weiß mittlerweile, dass Mum unten im Keller forscht. Sie sucht ein Heilmittel für Krebs. Die Krankheit, die jeder in unserer Familie bekommt. Ich kann sie verstehen. Nein. Ich konnte sie verstehen, denn jetzt war sie zu weit gegangen.
Sie hatte erst nur das Blut von Hope gewollt. Nicht so oft und Hope schien es auch nach all den Jahren nicht zu stören, doch seit Kurzem weinte sie, wenn sie die Spritze sah. Ich stellte mich wieder zwischen Mum und Hope und diesmal schlug Mum solange auf mich ein, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Wieder nahm sie Hope Blut ab und schrie sie an. Tagelang ging das jetzt so. Mein Herz tat weh, wenn ich Hope schreien und weinen hörte und so wie es mein Körper zuließ, versuchte ich erneut sie vor Mums Wut zu schützen.
Immer wieder brüllte Mum denselben Satz: »Zeig es mir!«
Hope sah sie immer und immer wieder mit Tränen gefüllten Augen an und versuchte, mit ihrer bebenden Unterlippe, entschuldigende Worte zu formen. Eine unendliche Wut breitete sich in mir aus und es musste einen Weg geben, Hope zu schützen.
Vor drei Wochen passierte es dann zum ersten Mal. Erst schlug Mum mich so sehr, dass ich kaum noch klar sehen konnte, und dann spritzte sie mir eine dunkle Flüssigkeit. Mein Körper brannte und ich krümmte mich vor Schmerzen. Ich schrie und bettelte, dass sie das nie wieder machen sollte. Doch sie lachte nur und diesmal sah sie mich an und brüllte mir: »Zeig es mir«, entgegen.
Ich wusste nicht, was sie von mir wollte. Ich wollte nur, dass diese Schmerzen endlich verschwanden.
Wenige Tage später wollte sie es erneut tun, aber diesmal wehrte ich mich. Ich schubste Mum und sie fiel hart auf den Küchenboden. Sie flippte völlig aus und gerade als sie auf mich losgehen wollte, kam Hope in das Zimmer. Mum sah mich böse an und zog Hope fest in ihre Arme.
»Du oder sie«, sagte Mum drohend und hielt Hope die Spritze an den Arm.
Das konnte ich nicht zulassen. Ich musste Hope schützen, also bettelte ich meine Mum an, sie in Ruhe zu lassen und mich zu nehmen. Sie tat es und ab diesen Tag, ließ ich die Spritzen, die Schmerzen, ihre Schläge und ihre Schreie einfach über mich ergehen. Besser ich als Hope. Ich war ihr Bruder. Ich musste sie beschützen.
Doch heute hat sich alles geändert. Heute habe ich Mums Tagebuch gefunden und jetzt kenne ich die Wahrheit. Heute ist der Tag, an dem ich alles beenden werde. Ich werde die schwarze Flüssigkeit zerstören. Ich werde meine Mutter töten und dann können Hope und ich endlich in Frieden leben ...
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