Kapitel 60 - Silas

Tamo schrak auf, als ihm erneut der Körper zusammengepresst wurde. Als er die Augen aufriss und die Umgebung nur schemenhaft an sich vorbeirasen sah, wusste er, dass er wohl mit Milano reiste. Die Frage, was wohl passiert war, schob er direkt wieder bei Seite. Er hatte wohl irgendwas Wichtiges verschlafen. Doch noch ehe er sich sonderlich viel Gedanken machen konnte, endete die Reise abrupt und das Bild um ihn wurde klarer. Ein modriger Geruch umgab ihn und ehe er seine Umgebung wirklich erfassen konnte, vernahm er Alices Stimme.

»Heilige Scheiße, macht die Fenster auf. Hier stinkt es ja bis zum Himmel.«

Er hörte das Auflachen von Milano und sah in dessen Richtung. Sie standen in einem Wohnzimmer, welches wohl schon bessere Tage gesehen hatte. Milano sah ihn direkt an.

»Alles gut?«, fragte er und Tamo nickte.

»Ja, was ist los?«, fragte dieser.

Milano schüttelte den Kopf und zeigte auf die Tür hinter sich.

»Keine Zeit für Antworten. Ich bin wieder weg«, raunte er noch und schon löste er sich in Luft auf.

Tamo seufzte und rieb sich übers Gesicht. Das Geräusch von Autos, welche über eine nasse Straße fuhren, erweckten seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich zu der Quelle des Lärms und sah, wie Alice gerade das letzte Fenster des Wohnzimmers aufriss und in den nächsten Raum verschwand. Sein Blick wanderte durch den Raum. Der Holzboden, auf dem er stand, war mit einer dicken Staubschicht überzogen. Eine große Couch, unmittelbar neben ihm, war mit einer Folie abgedeckt, ebenso wie der Rest der Möbel, welche sich in dem Raum befanden.

Langsam lief er auf die offen Fenster zu und stockte kurz.

Häuser, Straßen, andere Menschen. Sie waren zurück in der Zivilisation. Der Geruch von Regen und die dazugehörige Feuchtigkeit schlugen ihm entgegen. Sein Blick wanderte weiter über die Umgebung und es sah aus, als würden sie sich in einer Kleinstadt befinden.

»Alles gut bei dir?«, fragte Alice und holte ihn so zurück ins Hier und Jetzt.

Er drehte sich zu ihr und lächelte sie an.

»Ja, denke schon. Was ist passiert?«, fragte er.

Alice griff gerade nach der Folie, welche die Couch bedeckte und richtete ihren Blick wieder zu Tamo.

»Hilfst du mir vielleicht mal?«, fragte sie ihn garstig.

Ja, die nette Alice der letzten drei Tage, war wohl wieder verschwunden und wenn er ehrlich war, fühlte er sich direkt ein Stück sicherer. Diese unerwartete Nettigkeit der letzten Tage war schon irgendwie gruselig gewesen. Ohne Widerrede griff er nach der Folie und half Alice dabei, sie von der Couch zu ziehen.

»Wir mussten weg. Elisabeth hat uns belogen«, erklärte Alice ohne weitere Aufforderung.

Tamo nickte, war ja nicht so, als hätte er nicht bemerkt, dass alle ein falsches Spiel gespielt haben, die letzten Tage. Ja, er hat einen Moment gebraucht, aber als Skàdi sich bei ihm entschuldigte, war ihm klar, dass etwas faul war. Einer der Gründe, warum auch er einfach die Fresse gehalten und keine Fragen mehr gestellt hatte.

»Ja, habe ich mir schon gedacht. Wie seid ihr letztlich darauf gekommen?«, fragte Tamo.

Alice hob den Blick und seufzte.

»Lass uns auf Skàdi warten. Ich bin auch nur aus dem Schlaf gerissen worden und sitze jetzt hier«, gab Alice zu.

Tamo nickte, nahm ihr die Folie ab und legte sie in eine Ecke des Zimmers.

»Wo sind wir hier?«, fragte er, als er sich gerade daran macht, weitere Folien von den Möbeln zu ziehen.

Er hörte, das Seufzen von Alice.

»Skàdis Elternhaus«, sagte sie knapp und schon war sie wieder verschwunden.

Tamo stockte kurz und sah sich um. Er hatte noch nicht einmal darüber nachgedacht, was wohl mit ihren Eltern war. Aber wenn er sich hier so umsah, würden sie wohl zumindest nicht mehr hier wohnen.

»Sind wir allein hier?«, rief er Alice nach.

Die kam gerade mit ein paar Holzscheiben zurück und stapelte diese in den kleinen Kamin. Kopfschüttelnd sah sie ihn an.

»Silas steht hinter dem Haus im Garten. Er wird wohl noch einen Moment brauchen, bis er reinkommen kann«, sagte Alice und entzündete ein kleines Feuer.

Tamo runzelte die Stirn, doch Alice schien es schon zu ahnen und räusperte sich.

»Frag ihn, wenn du wissen willst, warum«, raunte sie und damit war sie auch schon wieder verschwunden.

Tamo kratzte sich am Hinterkopf und sah sich ein letztes Mal um, aber bevor er hier blöd rumstand, konnte er auch Silas suchen. Er trat durch die Tür und vor ihm tat sich ein Geländer auf, von welchen er nach unten blicken konnte. Für einen Moment war er überfordert, als er begriff, wie riesig dieses Haus war. Riesig und eindeutig verlassen. Tamo schossen schon wieder jede Menge Fragen in den Kopf, aber auch diese schob er bei Seite und setzte sich in Bewegung. Er stieg die breite Steintreppe nach unten, welche in einen Flur, der eher einem Ballsaal ähnelte, endete.

Er stellte sich schon darauf ein, dass die Suche ewig dauern würde, denn zu viele Türen hatten sich vor ihm aufgetan, aber eine war nur angelehnt und ließ so einen kleinen Lichtschein in den Flur dringen. Die Wahrscheinlichkeit, dass diese Tür nach draußen führte, war relativ hoch und so lief Tamo quer durch den Flur und als er die Tür aufstieß, sah er Silas bereits auf der Treppe im Regen sitzen.

Er stieg die eine Stufe nach unten und setzte sich neben Silas, welcher stumpf in den zugewachsen Garten vor sich starrte. Silas hatte nicht wirklich auf Tamo reagiert und so überlegte sich dieser, ob er noch einen Moment warten sollte, bis er ihn ansprach, doch Silas nahm ihn diese Entscheidung ab.

»Skàdi schon hier?«, fragte er ohne den Blick von dem Unrat vor ihnen zu nehmen.

»Nein«, erwiderte er knapp, was Silas zum Nicken brachte.

Tamo verschränkte seine Arme und legte sie auf seinen Knien ab. Der Regen nahm an Intensität zu und da Tamo nur ein Pulli trug, dauerte es nicht lange, bis er spürte, wie die Feuchtigkeit langsam durch seine Klamotten drang.

Er atmete tief ein.

»Also, warum sitzen wir hier im Regen, wenn hinter uns eine riesige Villa wartet?«, fragte er.

Silas rieb sich durch das Gesicht und dabei sah Tamo, dass seine Hände leicht zitterten. Irgendwas musste hier passiert sein. Etwas, was selbst Silas aus der Bahn warf. Er wollte gerade erneut nachfragen, als Silas endlich seinen Blick wieder fixierte und ihn zu Tamo richtete. In seinen Augen spiegelte sich eine Mischung aus Angst und Schmerz.

»Hier bin ich zum ersten Mal gestorben«, sagte Silas leise.

Okay, das war schlimmer, als es Tamo hätte ahnen können. Er sah Silas an und wusste nicht so recht, wie er auf diese Information reagieren sollte. Na ja, außer halt mit weiteren Fragen.

»Was ist passiert?«

Silas gab ein leises Stöhnen von sich.

»Während Skàdi und Nobody diesen Deal trafen, haben Milano und ich seine Burg der Hölle ausgeräumt und abgebrannt«, begann Silas, doch Tamo unterbrach ihn.

»Ausgeräumt?«, fragte er nach.

Silas sah ihn an und nickte.

»Ja, die Bücher über seine Forschung. Wir fanden sie, als wir die Räume durchsuchten«, sagte Silas.

Die Bücher. Die hatte Tamo völlig vergessen, aber klar. Jetzt, wo es Silas ansprach. Er musste schmunzeln, so viel zum Thema, wir haben alles zerstört. Das war wohl die erste Lüge an Elisabeth. Er nickte und Silas sprach weiter.

»Jedenfalls kamen wir dadurch erst bei Skàdi an, als quasi schon alles vorbei war. Ich denke, ich muss dir nicht erklären, was passierte, als ich Luna tot am Boden sah und Skàdi mich erblickte. Es endete damit, dass Skàdi und Alice verschwanden und Milano, warum auch immer, an meiner Seite blieb. Ich brauchte Wochen, um irgendwie wieder mit meinem Leben und mir klarzukommen, und dann wollte ich Rache. Also machte ich mich auf die Suche nach Travis. Milano folgte mir und wir fanden ihn.«

Silas seufzte.

»Lange Rede, kurzer Sinn. Duke war bei Travis und hat, als ich Travis gerade aus dem Leben schießen wollte, auf mich geschossen.«

Tamo sah ihn entsetzt an.

»Ich dachte, Duke war auf eurer Seite?«, fragte Tamo verwirrt.

Silas schüttelte den Kopf.

»Duke hat ihnen geholfen, musste oder wollte aber sein Gesicht wahren. Ehrlich, Duke war immer jemand, der mit Vorsicht zu genießen war«, sagte Silas.

»Tja, Milano hat mich geschnappt und hier hergebracht. Ich hörte noch, wie Alice und Skàdi sich stritten, bis ich die Kälte spürte und langsam in die Dunkelheit sank. Ich hatte meinen Frieden damit gemacht. Alles war besser als das Leben, welches vor mir lag. Doch ich wachte wieder auf. Hier in diesem Haus und starrte in die hasserfüllten Augen von Skàdi.«

Tamo sah ihn an.

»Sie hat dich gerettet.«

Silas rieb sich wieder übers Gesicht.

»Eher zurückgeholt«, erwiderte er.

Tamo nickte. Harte Scheiße, die hier abgelaufen ist. Er seufzte und sah sich abermals um. Hier lebte eindeutig niemand mehr. Er sah zu Silas.

»Was ist mit ihren Eltern?«, fragte Tamo.

Silas ließ den Kopf hängen.

»Ihre Mutter starb, als sie zehn war an einem Schlaganfall und ihr Vater brachte sich vor Skàdis Augen um«, flüsterte er.

Tamo riss die Augen auf.

»Was?«, fragte er entsetzt.

Silas nickte traurig.

»Skàdi ist damals gemeinsam mit Alice hier hergekommen. Ihr Vater war alles, was sie noch hatte. Aber als sie ihm erzählte, was ihr widerfahren und dass Luna gestorben war ... er konnte es nicht ertragen und hat sich Tage später vor ihren Augen erschossen«, erklärte Silas mit belegter Stimme.

Tamo wurde übel. Wie viel Leid konnte einer einzelnen Person nur widerfahren? Das Mitleid für sie ließ ihn in ein tiefes, dunkles Loch fallen und er wusste nicht, ob er das Ganze überlebt hätte.

Er hätte sein Leben mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit schon längst beendet.

Und so saßen die beiden schweigend auf der Treppe und ließen sich von dem Regen aufweichen, als sie plötzlich Skàdis Stimme durch das Haus brüllen hörten. Silas richtete den Blick zu Tamo, der zusammen geschreckt war.

»Sieht aus, als wäre die Schonfrist vorbei«, raunte er und stand langsam auf.

Tamo sah ihn an und seufzte.

»Scheint so«, erwiderte er und folgte Silas, der noch einen Moment innehielt. Er atmete tief ein und setzt dann den ersten Schritt in das Haus.

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