Kapitel 6 - Wie viel kann ein Mensch ertragen?

Tamo schlug die Augen auf und schreckte hoch. Doch was er sah, gefiel ihm immer noch nicht. Er lag auf der Couch, in dem Haus, in welchen er auf keinen Fall sein wollte. Blaue Augen sahen ihn genervt an und ihm wurde ein Glas mit Wasser entgegengehalten. Schon aus Reflex rutschte er zurück und brachte mehr Abstand zwischen Alice und sich.

»Ich glaube es nicht! Es ist Wasser kein Gift, aber bitte, dann lass es halt«, brummte sie.

Knallend schlug das Glas auf dem Tisch auf und schwappte heraus. Im selben Atemzug stand Alice auf und verschwand. Tamo sah ihr nach und versuchte sich zu sammeln. Die Geschehnisse zu ordnen und in die richtige Reihenfolge zu bringen.

Das war doch alles verrückt.

Die Blondine schoss ihm in den Sinn und schon sprang er auf und riss sich fast den Knopf von seiner Hose, als er versuchte sie so schnell wie möglich loszuwerden. Als er es endlich geschafft hatte, beugte er sich tief nach unten und suchte seinen Oberschenkel nach der Einstichstelle ab.
Er hoffte so sehr, dass er nichts finden würde, denn dann bestand immer noch die Möglichkeit, dass er einfach nur langsam den Verstand verlor, doch er unterbrach seine Gedanken selbst, denn da sah er es. Sein Puls schoss sofort in die Höhe. Ein kleiner roter Punkt, der von einem ziemlich dunklen Fleck umrandet war. Vorsichtig und mit zitternder Hand strich er über die Stelle, als Alice ihm zu tote erschreckte.

»Alter, dein Ernst? Zieh deine fucking Hose wieder an«, brüllte sie, wie aus dem Nichts.

Erschrocken fuhr er zusammen, verlor das Gleichgewicht und stolperte über seine eigene Hose. Sein Flug wurde, mit einem lauten Krachen, von dem Glastisch hinter sich gebremst, der sofort in tausend Teile zerbrach. Tamo stöhnte auf, als sich die kleinen Splitter durch seine Haut trieben. Na ja und während er leise vor sich hin fluchte, trat Alice näher an ihn heran.

»Das ist nicht dein Ernst? Sie bringt dich um und danach mich. Was zur Hölle stimmt denn mit dir nicht?«, fauchte sie ihn fassungslos an.

Und damit hatte sie Tamos Nervenkostüm überstrapaziert. Noch in den Scherben liegend, starrte er sie wütend an und brüllte direkt darauf los.

»Was mit mir nicht stimmt? ICH WEIß ES NICHT, VERDAMMT! ICH WEIß AUCH NICHT, WAS MIR DIE LETZTEN STUNDEN, TAGE, WOCHEN ... ACH WAS WEIß ICH, PASSIERT IST ... ICH WEIß NICHT MAL WARUM, ICH HIER BIN ... ICH ... ICH ...«

Doch so schnell wie seine Wut ausgebrochen war, verschwand sie auch wieder, denn langsam kamen die Erinnerungen zurück und wurden klarer.
Er hob den Blick erneut und sah zu Alice, nur dass diesmal anstatt Wut, Trauer in seinen Augen lag.

»Sind sie wirklich tot? Meine Eltern?«, fragte er schon fast kleinlaut.

Alice musterte ihn und nickte zögerlich. Vielleicht hatte sie es etwas übertrieben mit ihrer Art, denn aktuell war sie das einzige Arschloch in diesem Raum. Sie machte einen Schritt auf ihn zu und hielt ihm die Hand entgegen.

»Ja, sind sie und es tut mir leid«, flüsterte sie.

Tamo starrte auf ihre Hand und nein, er wollte sie nicht. Er schüttelte den Kopf und stemmte sich selbst auf, auch wenn er sich dadurch die nächsten Scherben unter die Haut jagte.

»Fuck«, raunte er und sah auf die kleinen blutigen Flecken.

»Hilfe annehmen, hätte geholfen«, sagte Alice und rollte mit den Augen.

Sie zog genervt die Hand zurück und brachte wieder Abstand zwischen sich und Tamo. Er sah an sich herunter und murmelte in sich hinein.

»Deine Hilfe brauche ich nicht.«

Alice ließ den Blick noch einmal über ihn schweifen, bevor sie schnaubte. So viel zum Thema nett sein. Nett am Arsch. Dann sollte er halt zusehen, wie er weiter kam.

»In deinem Bad ist ein Erste-Hilfe-Kasten und glaub nicht, dass ich die Scheiße da sauber mache«, sagte sie und zeigte auf die Überbleibsel des Tisches, bevor sie sich abwandte und wieder nach draußen verschwand.

Tamo starrte ihr noch einen Moment nach und fluchte leise vor sich hin. Er stieg vorsichtig aus seiner Hose, hob sie auf und schüttelte sie aus, was kleine Scherben in alle Richtungen fliegen ließ.Eins stand fest. Er würde hier nicht einen Handschlag machen. Er ging langsam nach oben und als er in dem Zimmer ankam, in dem er heute schon mal wach geworden war, schloss er die Tür hinter sich und so wie ihm bewusst wurde, dass er allein war, erstarrte er förmlich.

Was war hier nur los?

Seine Brust zog sich erneut zusammen und Speichel sammelte sich in seinem Mund. Sein Magen durchzog ein krampfendes Gefühl und schickte einen Schwung Säure nach oben. Er stolperte in das Bad und schaffte es gerade noch bis zum Klo, bevor er sich die Seele aus dem Leib kotze. Minuten vergingen und nachdem er sich sicher war, dass er nichts mehr zum auswürgen im Körper hatte, rutschte er erschöpft neben dem Klo auf die kalten Fliesen. Wieder durchfuhren ihm viele kleine Stiche, der Scherben, welche sich tiefer in seine Haut schoben.

Tränen stiegen ihm auf. Außerstande diese weiterhin zu unterdrücken, ließ er ihnen freien Lauf. Langsam liefen sie ihm über die Wangen und sammelten sich in seinem Bart, während er den Kopf in den Nacken legte und schluckte.

Wie viel konnte ein Mensch ertragen?

Erneut blitzten seine toten Eltern vor seinem inneren Auge auf. Sein Körper zitterte und er krümmte sich zusammen. Sein Kopf dröhnte, die Scherben unter seiner Haut brannten und sein Herz brach. Wieder versuchte er, die Geschehnisse zu ordnen, aber egal, wie er es drehte und wendete, es ergab alles keinen Sinn.
Er wusste nicht, wie lange er so in dieser beschissenen Ecke saß und leise vor sich hin wimmerte. Sein Blick leer. Der Kopf voll mit Gedanken und Bildern, die ihm fast um den Verstand brachten. Doch irgendwann kam er zurück in das Hier und Jetzt. Sein Blick fokussierte sich und er sah sich um.

Was mache ich hier? Sitzen und jammern?

»Nein«, sagte er zu sich selbst.

Antworten.
Die brauchte er und wenn er sie hier nicht fand, dann würde er sie woanders finden. Neue Gedanken schossen ihn in den Kopf. Seine Eltern waren tot, aber hatte er sie getötet?
Warum sollte er das getan haben? Nein, da musste mehr dahinterstecken und was, wenn er gerade hier im Haus des Mörders saß.
Was war eigentlich los mit ihm? Lief hier herum, trank Kaffee mit irgendeiner Verrückten und es gab noch eine Weitere, vor der sogar dieser Silas Angst zu haben schien.

Er schüttelte sich, denn jetzt, wo seine Gedanken langsam klarer worden, nahm er endlich das Ausmaß der Situation wahr. Erneut kroch Angst in seinen Körper, doch noch bevor sie Besitz von ihm ergreifen konnte, unterdrückte sein Verstand sie.Er musste hier weg und lähmende Angst, würden ihn nur aufhalten.
Er zog sich an dem Waschbecken nach oben und öffnete den Spiegelschrank. Der Verbandskasten sprang ihm förmlich entgegen.So schnell wie möglich versuchte er, den Großteil der Scherben zu entfernen, was ihm tatsächlich besser gelang, als erwartet. Er tupfte die tieferen Wunden mit Desinfektionsmittel ab und beschloss dann, dass das vorerst reichen musste. Sobald er hier weg war, würde er ein Krankenhaus aufsuchen und sich ordentlich versorgen lassen. Er zog sich seine Jeans wieder an und nahm noch einen großen Schluck Wasser aus dem Wasserhahn. Schnell sah er sich in dem Zimmer um. Auf der Kommode neben dem Bett lag seine Geldbörse. Er ließ sie in die Arschtasche seiner Hose gleiten und schlich sich auf dem Zimmer.

Vorsichtig stieg er die Treppe hinab und sah sich suchend nach Alice um. Doch sie war nirgends zu sehen. Sein Blick huschte zu der großen Tür nur wenige Meter vor ihm. Es hoffte, dass es die Haustür war. Er sah sich ein letztes Mal um und da alles in völliger Stille lag, lief er langsam zu der Tür. Lautlos legte er die Hand auf die Klinke und atmete tief ein.

Bitte sei offen!

Er drückte sie vorsichtig nach unten und als er ein leises Klicken vernahm, hätte er am liebsten losgeschrien vor lauter Freude. Doch stattdessen riss er die Tür auf und rannte los. Mit einen großen Satz, sprang er die Treppen runter und sprintete die lange Ausfahrt entlang, ohne sich ein einziges Mal umzusehen.

Alice, die auf der Terrasse saß, die Beine auf den Tisch gelegt hatte und die Sonne genoss, sah im Augenwinkel, wie Tamo über das Gelände schoss. Sie lachte und schüttelte den Kopf.

»Idiot«, sagte sie zu sich selbst, schloss die Augen und summte vor sich hin.

Völlig verschwitzt, nach den wenigen Metern, kam Tamo schnaufend an dem riesigen Metalltor an. Tja, das hatte er in seinem nicht vorhandenen Fluchtplan nicht bedacht. Seine Lunge brannte und er stützt sich vorgebeugt auf seine Knie, während er das Tor musterte. Keine sichtbare Klinke. Nur ein Bedienfeld, für eine Zahlenkombination.

»Bullshit!«

Panisch suchte er das Tor erneut ab und anschließend den angrenzenden Zaun, in der Hoffnung eine Fluchtmöglichkeit zu finden. Doch die Gitterstäbe waren eindeutig zu eng, um sich hindurch zu quetschen, und zum darüber klettern, war der beschissene Zaun viel zu hoch.Die sorgsam verdrängte Angst kroch langsam zurück an die Oberfläche und ließ ihn nervös an dem Tor entlang laufen.
Vertieft in den Kampf gegen seinen rebellierenden Körper, bemerkte Tamo nicht, dass sich jemand näherte. Erst als ihm erneut diese eisige Kälte befiel, stoppte er in seiner Bewegung. Sein Blick richtete sich zum Himmel, an welchen die Sonne hoch oben stand.

Wie konnte das denn sein? Wo kam diese verdammte Kälte er?

Der Schweiß auf seiner Haut schickte ihm ein unangenehmes Ziehen über den Körper und seine Gedanken wurden zunehmend trostloser. Gerade als er sich umdrehen wollte, vernahm er die Anwesenheit hinter sich und warf sein Vorhaben unmittelbar über Bord. Er starrte durch das Gitter vor sich, denn irgendwas sagte ihm, dass es nicht Alice war. Seine Vermutung bestätigte sich, als die Person näher kam und sich über seine Schulter an sein Ohr lehnte.

»Miserable Idee, Arschloch.«

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